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H wie Helikoptermutter

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Es ist Juni. Nur noch ein paar Wochen, bis das Thema Schule endgültig der Vergangenheit angehört. Anstatt, wie alle anderen, die Parks und Kinos unsicher zu machen oder einfach auf der faulen Haut zu liegen, hocke ich Nacht für Nacht in der Akademie und bereite mich auf die kommende Initiation vor. Gegen alle Erwartungen sind wir Schläfer vollzählig in die Riege der Eleven aufgenommen worden und meistern die letzten Anstrengungen gemeinsam, bevor auch dieses Kapitel zu Ende geht. Eliska ist zum Feinschliff ihrer Arbeit übergegangen und unterrichtet uns überwiegend in Einzelsitzungen. Dank unserem Nahkampfspezialisten Tima jagt mir der Nordwestpark bei Dunkelheit nun keine Angst mehr ein. Moreno hat Worte wie ›ähm‹ und ›äh‹ gänzlich aus meinem Wortschatz verbannt und die Af-fi-ni-tät – tolles Wort – für Rhetorik geweckt. Landesgeschichte hängt allen so was von zum Hals raus, dass Dr. Gregorio uns ein ›bestanden‹ in die Akte geschrieben und den Unterricht vorzeitig erfolgreich abgeschlossen hat. Die dadurch entstandenen Freistunden füllt Lehmann und das nenne ich einen wahren Glücksfall. Wir versetzen uns immer wieder in neue, schier ausweglose Situationen und sind gezwungen in kürzester Zeit bedächtig und vorausschauend zu handeln. Zudem lockert diese Gruppenphase stets die Anspannung und lässt sogar den ein oder anderen Lacher zu.

Prof. Pfefferhauser hat uns Dinge beigebracht, von denen ich nicht einmal wusste, das sie auf diesem Planeten existieren. Ich bin in der Lage, mein Gegenüber binnen Sekunden in Trance zu versetzen und ihn unter Hypnose davon zu überzeugen, dass er ein Hund ist und ich sein geliebtes Frauchen. Angsteinflößend, aber die wohl stärkste Waffe im Kampf um die Ministerposten. Wir sind unglaublich gut vorbereitet und trotzdem völlig planlos, was uns in der Warte bevorsteht. Nie zuvor stand ich im Konkurrenzkampf mit anderen und das vor laufenden Kameras. Zu keiner Zeit musste ich mein Privatleben öffentlich machen oder Anhänger rekrutieren. In der Theorie sind diese Dinge mittlerweile mit einem Fingerschnippen erledigt, doch die Realität wird anders aussehen, dessen bin ich mir bewusst.

Tristan macht leider keinerlei Anstalten, zurück ins Leben zu finden, und die erwartete Gleichgültigkeit seiner Familie hat sich schneller eingestellt, als ich angenommen hatte. Tag für Tag nutze ich die verbleibende Zeit, um ihn über meinen Tag, die Abläufe in Schule und Akademie sowie die Belanglosigkeiten meines Alltages auf dem Laufenden zu halten. Ich rede mit einem Geist, doch das ist alles, was ich im Augenblick tun kann. Irgendwann wird sich die Mühe lohnen. Irgendwann schlendern wir Hand in Hand die Straßen entlang, irgendwann leben unsere Kinder das Leben, für das ich nun in den Kampf ziehen werde und irgendwann finde ich den Mut, meinen Eltern und Fenja die Wahrheit über Rafael und Tarik zu sagen und einen Schuldigen zu finden.

»Roya, hier ist ein Mann von der Regierungsbehörde für dich. Äh, kommst du bitte!« Meine Mutter hat ein leichtes Zittern in der Stimme und steigt mir auf halber Treppe entgegen, um mein T-Shirt aus der Hose zu ziehen und lose Haarsträhnen hinter die Ohren zu schieben. »Sei höflich und steh gerade. Ich weiß nicht, was der nette Herr von dir will, aber es scheint sehr bedeutungsvoll zu sein. Ich warte in der Küche.« Sie winkt dem Besucher verhalten zu und verschwindet in Zeitlupe hinter der nächsten Ecke.

»Guten Tag, du musst Roya sein. Darf ich mich zunächst vorstellen?« Natürlich, dafür bist du ja gekommen, oder? »Mein Name ist Robertus Rosini und ich bin bis zur Landung der Kandidaten dein Vorbereitungsteam.« Team? Per Definition besteht ein ›Team‹ doch aus mehreren Mitgliedern, oder? »Die Verwunderung in deinen Augen lässt mich erkennen, dass du über diesen Umstand noch nicht ausreichend informiert worden bist.« Allerdings. Mit keiner Silbe wurde im Begrüßungsschreiben erwähnt, dass ein glatzköpfiger Pinguin, mit überteuerten Lederschuhen und Aktenkoffer hier aufschlagen und mir seine haarlosen Augenbrauen vor die Nase halten würde. Die seltsame Erscheinung jagt mir, zugegeben, ein wenig Angst ein. Er ist kaum größer als ich und seine penetrante Stimme schmerzt in meinen Ohren. Hoffentlich möchte er nicht allzu lange bleiben.

»Roya, magst du den Herrn nicht hereinbitten?« War ja klar. Mama stand die ganze Zeit in Rufbereitschaft und lockt uns mit Kaffee und Keksen in die Wohnstube.

»Ja, entschuldigen Sie, kommen Sie doch rein.« Ich lasse Robertus den Vortritt und schließe nachdenklich die Tür.

»Nun ja.« Er breitet den überdimensional großen Koffer auf dem Glastisch aus und lässt uns einen Blick auf dessen verwirrenden Inhalt erhaschen. »In 56 Tagen wird dich ein Wagen der Regierung um Punkt sieben am Morgen vor dem Haus abholen und zum nächstgelegenen Flughafen bringen.« Fliegen, ach du scheiße, hab ich noch nie gemacht! Er legt mir einen handlichen Apparat ins Sichtfeld und drückt den Start-Knopf. Ein Countdown beginnt rückwärts zu laufen und zeigt in Sekundengenauigkeit die verbleibende Zeit bis zur Abfahrt am 01. August an. »Zusammen mit den anderen Kandidaten aus NW wirst du am Gate in Empfang genommen und mit einer kleineren Maschine direkt ins Regierungsgelände geflogen.« Mum schiebt sich vor Aufregung einen Keks nach dem anderen in den Mund und zwinkert übertrieben schnell mit ihren wachsamen Augen. »Nach der Landung geht es für Haare und Make-up in die Maske und zum Ankleiden. Aufgestylt für die Kameras, lauft ihr im Anschluss einmal über den roten Teppich vor der Warte, bevor das erste Treffen mit Präsidentin Jünger erfolgt. Soweit verstanden?« Ja, äh, ja. Ich nicke, ohne ein Wort zu sagen, und lasse ihn weiter seine Arbeit tun. »Wir beide werden in den nächsten Wochen gemeinsam ein kurzes Promovideo drehen, in welchem du den Zuschauern einen Eindruck deiner Person geben und erste zarte Bande zur Fangemeinschaft in NW knüpfen kannst. Dieses PV wird ausschließlich für die Bewohner deines Bezirkes bestimmt sein und darf gern die Liebe zur Heimat zum Ausdruck bringen. Ziel ist es, die Menschen in deiner Region bereits im Vorfeld in die eigene Mannschaft zu holen und Anhänger aus dem näheren Umfeld für den Empfang am roten Teppich zu rekrutieren.« Wieder glänzen Fragezeichen in meinen Augen und Robertus reagiert. »Ja, bevor du fragst: Pro Kandidat dürfen bis zu 15 Personen mit einem Shuttlebus nach Midden gebracht werden, um euch gebührend zu begrüßen und im besten Fall mit stehenden Ovationen und Liebesbekundungen zu überhäufen.« Auf was habe ich mich hier nur eingelassen? »Die Bürger deiner Stadt erhalten die Möglichkeit, sich in die Teilnehmerliste einzutragen, welche im Bürgerhaus ausliegen wird. Sollten sie den Backupcheck bestehen, starten sie gemeinsam mit den Anhängern des anderen Eleven aus NW/74 am Morgen des selben Tages gen Hauptstadt.« Die Informationsflut lässt mich kurzatmig werden, aber er scheint noch längst nicht am Ende zu sein. »Wir beiden Hübschen widmen uns in den kommenden Tagen der Auswahl deines Outfits, inklusive des Umstylings und so weiter. Du wirst dich hinterher nicht wiedererkennen.« Nein, bitte nicht. Eine weitere Eliska ist der Inbegriff meines ganz persönlichen Alptraums. »Anschließend kannst du zwei Wochen mit deiner verbesserten Hülle schwanger gehen, bevor die Aufnahmen starten.« Er kramt ein mehrseitiges Dokument aus dem Aktenkoffer und schiebt es mit dem Zeigefinger elegant über den Tisch. »Das Textheft – warte nicht bis zur letzten Sekunde.«

»Moment«, falle ich Robertus ins Wort, »gibt es bereits ein Skript für mein ›PV‹, ohne dass Sie eine Ahnung haben, wer ich bin und was ich eigentlich sagen will?« Mum legt besänftigend eine Hand auf meinen Oberschenkel und ergreift das Wort.

»Verzeihen Sie, meine Tochter wollte…«

»Danke, Mutter, die ›Tochter‹ weiß ganz genau, was sie wollte.« Mein wütender Blick bringt sie sofort zum Schweigen und schafft Raum für Erklärungen.

»Seit nun mehr vier Wochen habe ich uneingeschränkten Zugang zu sämtlichen Akten, die Ihren Namen tragen. Soll heißen, ich kenne deine Blutgruppe, die Namen deiner Klassenkameraden, bin über schulische Leistungen und deine Liebelei zu Tam Baliette informiert.« Bei diesen Worten krallt Ma ihre Fingernägel tief in mein zartes Fleisch und verschluckt sich an ihrem einhundertzwanzigsten Keks.

»Da muss ein Missverständnis vorliegen. Roya hegt keinen Kontakt zu Jungen in ihrem Alter seit…« Jetzt reicht es.

»Mama, es gibt Dinge, die ich dir nicht brühwarm auf's Brot schmiere. Die Situation ist für mich schon peinlich genug. Bitte mach es nicht noch schlimmer.« Mein Ton ist hart und das Glänzen in ihren Augen kann ich auch nicht wegzaubern, aber an diesem Punkt kann ich meine Helikoptermutter nicht ertragen.

»Frau Roth, vielleicht ist es besser, wenn Sie uns eine Weile allein lassen. Wir werden Sie natürlich später ausreichend informieren.« Mit hängendem Kopf, aber ohne Widerworte verlässt meine Mutter das Zimmer. Ich atme erleichtert aus, obwohl mit ihr auch die Rückendeckung verschwunden ist.

»Nun, zurück.«

»Ich glaube, Sie wollten mir gerade erklären, wie Sie an so persönliche Details gelangt sind, ohne mein Einverständnis darüber einzuholen.« Noten und Arztberichte sind das eine, meine angebliche Liebesbeziehung zu Tam eine ganz andere. Wer außer Fenja, Elvis und den BePolaristen weiß darüber Bescheid? Außerdem hätte ich meiner Mutter diesen Schock gern erspart, solange er nur aus Halbwahrheiten besteht. Bisher glauben meine gutmütigen Eltern, dass ich den ganzen Tag mit Freunden lerne oder Dinge tue, die man im Abschlussjahr eben so treibt. Einen Tristan oder Tam kennen sie nicht. Sie wissen nichts von meinen täglichen Aktivitäten und erst recht nicht, was ich nachts anstelle. Irgendwo ist ein Leck und ich muss es ganz schleunigst verschließen, bevor sich die Hölle für meine Eltern eher als geplant öffnet.

»Roya, ich bin kein Feind, sondern dein Garantieschein für eine langlebige Initiation.« Ich kann mir ein Lachen nicht verkneifen.

»Und was hat Tam damit zu tun?«

»Alles.« Er schiebt die Akten beiseite und beugt sich über den Tisch.

»Was wollen Sie von mir?« Intuitiv vergrößere ich den Abstand zwischen uns und mache mich zur Flucht bereit.

»Du kannst es dir denken, oder?« Kopfschütteln – mehr ist nicht aus mir rauszuholen. »Ihr beide – gemeinsam – Einschaltquoten – Herzschmerz bei den Zuschauern – klingelt da was?«

»Sie wollen uns also als das peinliche Liebespaar verkaufen, um Interesse bei den Zuschauern zu wecken? Wen haben Sie noch so in petto? Waisen, Eleven mit Einschränkungen, Exjunkies? Mitgefühl als Kalkül einzusetzen ist falsch und menschenverachtend. Ich werde nicht Ihre Puppe sein, welche Sie schön ausstaffieren und neben den Prinzen auf eine Torte stellen können.« Mit verschränkten Armen und überschlagenen Beinen lehne ich mich zurück und richte den Blick desinteressiert aus dem Fenster.

»Vertrau auf die mehrjährige Erfahrung eines Profis. In den vergangenen Staffeln konnte ich meine Kandidaten stets in die Ministerstühle befördern und werde auch in dieser Neuauflage nicht versagen.«

»Staffel? Neuauflage? So nennen Sie das Prozedere, welches die Zukunft unseres Landes bestimmt? Ist denn alles nur ein Medienhype, um die Bürger vor den Fernsehern zu unterhalten?« Keine Reaktion. »Wissen Sie, ich möchte in diesem Land etwas bewegen, mich auf ehrliche Politik konzentrieren und nicht den Kasper spielen, um die Polarjahrkassen zu füllen.«

»Ist notiert. Können wir jetzt fortfahren?« Dieser Vogel macht mich wahnsinnig. Meine Meinung geht ihm meterweise am A… vorbei. »Lies bitte das Skript und bereite dich ausreichend auf den Dreh vor. Es liegt in deiner Hand, wie weit du in diesem Spiel kommen willst.« Ich koche vor Wut. Von diesem Anzugträger lass ich mir keine Anweisungen geben. Nicht heute, nicht morgen und auch nicht übermorgen. Er riecht nach Jasmin und sein nacktes Gesicht jagt mir Angst ein.

»Spiel. Ihr Stichwort. Sie sollten jetzt gehen. Ich muss mich auf das ›Spiel‹ vorbereiten.«

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