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Das Herz der Nation

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»Komm rein und lass die Schuhe an. Elvis hat die Leinwand aufgebaut, um die Berichterstattung in voller Größe erleben zu können.« Fenja winkt mit dem umgebundenen Geschirrtuch wie das vorbildliche Hausmütterchen und verschwindet in der Küche, wenn man das zwei Quadratmeter große Loch neben der Eingangstür überhaupt so nennen kann. Vorerst bietet es mir einen perfekten Rückzugsort, um die Anspannung in der Luft erst mal wirken zu lassen. Alles erscheint mir immer noch wie im Nebel. Ich muss völlig von Sinnen gewesen sein, als ich meiner Freundin den heutigen Nachmittag zusagte in dem Wissen, dass ich mit Tam für mehrere Stunden im selben Raum sein werde. ›Arschbacken zusammenkneifen und durch‹ hat Fenja gesagt, ›Denn wenn du dich von seiner Anwesenheit einschüchtern lässt, wirst du ihn niemals zum Reden bringen‹. Recht hat sie.

»Fenja!« Dem Geruch nach zu urteilen, muss da dringend etwas aus dem Ofen, was ihr schnelles Verschwinden erklärt. Ich folge ihr auf leisen Sohlen, bleibe jedoch im Türrahmen stehen, um Tam und Elvis nicht auf mich aufmerksam zu machen. »Kommst du nochmal kurz?« Genervt schmeißt sie das Backblech mit den leicht angekokelten Kartoffelchips auf die Spüle und reißt sich das Handtuch vom Leib.

»Mist! Hättest du nicht etwas eher klingeln können? Dann wären die Dinger nicht so knusprig geraten.«

»Entschuldige bitte. Sie werden trotzdem hervorragend schmecken und sollte jemand etwas anderes behaupten, nehme ich alle Schuld auf mich.« Fenja kneift forsch in meine linke Wange und spricht zu mir wie eine Großmutter zur braven Enkelin:

»Feines Kind. Was wolltest du denn jetzt noch? Die fangen gleich an.« Da die Zeit drängt, muss ich ohne Herumdrucksen gleich zum Punkt kommen, was mir nicht sonderlich leicht von der Hand geht.

»Hast du mit Elvis geredet?«

»Wegen Tristan?«

»Psst, geht es noch lauter? Entschuldige, Fenja, aber die Angelegenheit ist wirklich heikel und Tam macht mir weiterhin Angst.« Meine Freundin zerrt mich vor die Haustür, um das Folgende nicht im Flüsterton erklären zu müssen.

»Tam ist an besagtem Abend gegen 23 Uhr wieder aufgetaucht und hat einen unauffälligen Eindruck gemacht. Auf die Frage, wo er so lange gesteckt habe, antwortete er, er sei noch bei seinem Vater gewesen, um den Zepho zu holen und da haben sie sich wohl verquatscht.«

»Den Zepho?«

»Ja dieses Dings, mit dem sie euch in die Akademie holen, deinen Traumfänger quasi.«

»Und Tam hat dieses Ding hier?«

»Ja, es sieht aus: Wie eine digitale Uhr, um die ein wirres Aluminiumgeflecht gesponnen ist – irre spacy!« Nun ja, immerhin ist das der Beweis dafür, dass Tam ganz offiziell seinen Platz wieder eingenommen hat. Was muss Telemachos nur für ein furchtbarer Vater sein, der den Verlust eines Sohnes einfach als gegeben hinnimmt und sie hin- und hertauscht, wie es ihm beliebt. Es sei denn – was, wenn er in die ganze Sache überhaupt nicht involviert ist? Immerhin nannte er Tam bei seinem richtigen Namen und das ohne Augenzwinkern. »Roya? Alles klar?« Fenja holt mich aus meinen Hirngespinsten.

»Somit wohnt Tam weiterhin hier. Wer ist dann bei Telemachos?«

»Keiner, er muss gerade einen Singlehaushalt führen.« Tam steht in der Haustür und das wohl schon eine kleine Weile. »Die Show fängt an.« Seine Hände sind in den Taschen der dunkelblauen Jeans verborgen und lassen den widerspenstigen Locken auf seinem schönen Kopf Raum zur Entfaltung. Er weiß, dass mich seine Haarpracht schnell um den Verstand bringt und kostet diesen Moment aus.

»Wieso hat dir dein Vater den Zepho gegeben? Eigentlich hatte den doch Tristan bis dato in Gebrauch?«

»Keine Ahnung. Ich habe ihm nach der Sitzung von Elvis erzählt und dass seine Bude derzeit der beste Ort ist, um mich in Ruhe auf die Tests vorzubereiten.«

»Ich gebe euch mal ein paar Minuten.« Fenja entflieht der negativen Spannung und lässt mich mit dem schlechtesten Lügner aller Zeiten im wahrsten Sinne des Wortes allein in der Kälte stehen.

»Du Mistkerl, du wolltest Tristan den Zugang zur Akademie verwehren, unfassbar! Wieso stellt dein Vater eigentlich keine Fragen? Ich kapier es einfach nicht.«

»Seit Rhea mich aus der Klinik geholt…«

»Ja, was auch immer sie da geritten hat.«

»Anderes Thema. Als deine Schwester mich befreite, hinterließ ich ein leeres Bett. Rafael hackte den Server des Krankenhauses, beantragte die Verlegung in eine offene psychiatrische Einrichtung in NW/68 und fälschte die Einverständniserklärung meines Vaters. Die Angehörigen dürfen da nur einmal im Monat aufkreuzen und na ja, selbst dafür fehlt Mister BePolar die Zeit.«

»Und weiter?«

»Nichts weiter. Tristan lebte als Tam bei Dad und nun ist Tam eben zu Elvis gezogen.

»Einfach so. ›Tam ist eben zu Elvis gezogen‹. Telemachos hat zwei Söhne, beide in Freiheit. Warum lässt du ihn glauben, es gäbe nur dich und Tristan sei in einer beschissenen Anstalt? Wie gestört bist du denn?«

»Vater war so fixiert auf Tristans Krankheit, dass wir ständig umziehen mussten, um die besten Ärzte des Landes aufzusuchen und keine Therapie unversucht zu lassen. Seit er bei BePolar die Führung übernommen hat, ist er ruhiger geworden. Er vertraut auf die Diagnosen der hiesigen Mediziner und versucht nicht mehr, den verlorenen Sohn zu ändern. Es ist besser so.«

»Warum sollte das besser sein? Für wen sollte das bitte besser sein? Er hat Tristan aufgegeben. Kein Besuch, kein Telefonat, kein Brief. Das ist nicht besser, das ist traurig.« Ich schüttle enttäuscht den Kopf und verschränke die Arme vor meiner bebenden Brust.

»Das hier ist mein Zuhause, Roya. Weißt du, wann ich zuletzt einen Ort so nennen konnte?« Nein. »Ich bin dankbar, dass Dad nicht umziehen will, ich bin dankbar, dass ich hier meine Schule beenden und leben darf, ich bin dankbar in deiner Nähe zu sein und ich bin dankbar, dass Tristan nun ein freier Mensch ist.«

»Ist er das? Frei?«

»Ich denke schon, ja. Er ist clever, weißt du. Er wird zurechtkommen und irgendwo neu anfangen. Das leidige Versteckspiel war keine Dauerlösung, weder für Tristan, noch für mich. Einer musste gehen und irgendwie hielt meinen Bruder hier nichts mehr.«

»Du lügst!« Tränen schießen mir in die Augen.

»Er hätte sich bei dir melden können, Roya. Er hätte sich bei Fenja, Elvis, Rafael, selbst bei Dad melden können, aber er ist gegangen. Lass es gut sein.« Er legt die Hand auf den Türknauf und sieht mich sehnsüchtig an. »Und jetzt möchte ich wirklich gern dein hübsches Gesicht im Fernsehen sehen. Komm!«

Ekel. Ich komme, aber nicht, weil du mich höflich darum bittest. Kein einziges Wort aus deinem Mund kann der Wahrheit entsprechen. Ja, Rafael und Rhea haben gemeinsame Sache gemacht und Tristan auf deinen Platz gesetzt. Deine EEG’s waren auffällig und jagten meiner Schwester Angst ein. Warum sollte sie dich also befreien? Es ergibt keinen Sinn. Es ergibt keinen Sinn, aber Fenja war dabei. Sie hat mit angesehen, wie Rhea dich vor ihrem Haus absetzte und nie wieder zurückkam. Wo ist der Fehler? Warum erkenne ich den Wald vor lauter Bäumen nicht. Vielleicht bin ich zu sehr damit beschäftigt, dich ignoranten Arsch nicht aus den Augen zu lassen? Vielleicht versuchst du schon wieder mich um den Finger zu wickeln, aber dieses Mal werde ich schlauer sein. Dieses Mal werde ich nicht allein sein und dieses Mal wird Tristan an meine Seite zurückkehren.

»Roya, komm endlich!« Fenjas Stimme dröhnt in meinen Ohren und holt mich aus den düsteren Gedanken. Die Zeit für Gerechtigkeit wird kommen, aber nicht jetzt und nicht hier. Also – Pokerface aufsetzen und ganz cool bleiben.

»Liebe Mitbürger und Mitbürgerinnen, es ist mir eine große Freude zum ersten und letzten Mal in meiner Amtszeit die zehnte Elevenauswahl in Polar für eröffnet zu erklären. Die nächsten Monate werden für die Kandidaten aufregend, kräftezehrend, atemraubend und unvergesslich – glauben Sie mir, ich spreche aus Erfahrung.« Uns Vieren huscht ein Lächeln übers Gesicht, als die Präsidentin Centa Jünger aus dem Nähkästchen zu plaudern beginnt.

»Sie ist so irre sympathisch, findet ihr nicht?«

»Psst, jetzt kommen gleich Dumm und Dümmer, also freu dich später, Äffchen.« Elvis wirft Fenja einen Luftkuss entgegen und bringt sie auf liebevolle Weise zum Schweigen.

Das Bild zeigt den Ort des Geschehens nun in voller Größe und mir bleibt bei all der Pracht sichtlich der Mund offen stehen. Ein Saal, welcher nur aus Gold, Silber und Marmor zu bestehen scheint, strahlt so hell, dass die Protagonisten der Szene eine leuchtende Aura erhalten. Die großen Fenster tragen schimmernde Vorhänge und auf dem Boden ist die sternenförmige Karte unseres Landes in Stein gelassen. Präsidentin Jünger trägt zur Feier des Tages ein bodenlanges, dunkelblaues Kleid in schmalem Schnitt und hat ihr kurzes, dunkles Haar in Wasserwellen elegant zurechtgemacht. Die passenden Diamantohrringe lassen sämtliche Frauenherzen höher schlagen und der fehlende Ehering an ihrem Finger ruft Wunschträume bei den ledigen Männern hervor. Was für ein Anblick! Da ich erst seit einigen Monaten politisches Interesse zeige, habe ich öffentliche Auftritte unserer Landeschefin bisher nicht weiter verfolgt. Ihre maßgeschneiderten Blazer und die selbstbewusste Kurzhaarfrisur wirkten kompetent, die Ansprachen freundlich, aber bestimmt und ihr Beraterstab in der Lage, ihr unterstützend unter die Arme zu greifen. Das Bild, welches Präsidentin Jünger jetzt zeichnet, ist ein ganz anderes. Diese Frau ist zu Recht das Herz der Nation und es ist ein Jammer, einen solchen Glücksgriff nach sieben Jahren abzusägen, nur weil es die Gesetzgebung so vorschreibt. Bei uns zu Hause entbrennt in diesem Augenblick sicher wieder eine heftige Diskussion. Mama vergöttert unsere Anführerin und Papa steht auf Traditionen. ›Machthaber kommen nur auf dumme Ideen, wenn sie zu lange im Amt sind. Das hat uns die Geschichte gelehrt. Sieben ist eine bedeutende Zahl und genau die richtige Periode, um einer Führungsspitze Raum zum Entfalten zu geben, sie jedoch an unsere Gesetze zu binden.‹ Ich habe seinen Enthusiasmus nie verstanden.

»Guckt hin, jetzt kommt Leben in die Bude.« Elvis rutscht wie ein kleiner Junger, der auf ein Erdbeereis wartet, auf seinem Sessel nach vorn und stützt die Unterarme erwartungsvoll auf seine Oberschenkel.

»Frau Präsidentin, höre ich da einen leicht sarkastischen Unterton?« Ein winziger Mann in einem roten Anzug tritt nach vorn und lenkt die ›Rede ans Volk‹ in eine unterhaltsame Richtung.

»Ich schieß mich weg!« Elvis krümmt sich vor lachen und muss schließlich seinen Mund eigenhändig zuhalten, um uns die Show nicht zu vermiesen.

»Ach Ingmar, sei nicht zu Anfang schon so spitzzüngig. Ein wenig Ernsthaftigkeit zu demonstrieren kann nie schaden.« Der zweite Moderator mit nicht minder skurrilem Erscheinungsbild ergreift das Wort und sorgt bei Elvis erneut für abnormale Zuckungen.

»Johns prächtige Haartolle macht mich stolz. Ich liebe diese beiden Komiker wirklich aus tiefstem Herzen.«

»Woher soll man die kennen?« Tam hakt nach.

»Im Ernst?« Elvis setzt einen erschütterten Blick auf. »Ingmar und John? John und Ingmar? Die Brüder Selten aus der Freitag Abend Latenightshow ›Selten dämlich‹

»Psst!« Diesmal sorgt Fenja für die nötige Ruhe und sämtliche Augen heften sich erneut an die Präsentation auf der riesigen Leinwand.

»Ist schon gut, Sie haben ja recht, Ingmar. Ich möchte den jungen Leuten ungern kunterbunte Seifenblasen ins Gesicht pusten, wenn doch auf der Hand liegt, dass diese im Schein der Kamera kein gutes Licht werfen.«

»Frau Präsidentin, Sie sind ja ein richtiger Spaßvogel. Da Sie ab dem nächsten Jahr wieder etwas mehr Zeit haben, dürfen Sie sich gern die Freitagnacht frei halten und hin und wieder in unserer Show erscheinen.«

»Danke für das Angebot, John, ich behalte es im Hinterkopf.« Der schlaksige Mann, um die vierzig, streicht sich mit einstudierter Hand durch das gegelte Haar und grinst die Dame über seine gigantischen Brillengläser hinweg charmant an.

»Liebes Publikum vor den Fernsehern, Sie haben es alle gehört: Das Polarjahr wird für alle Beteiligten der Horror und für uns Zaungäste ein unterhaltsames Unterfangen. Am Ende kommen nur die Harten in den Garten, wie man so schön sagt, und ich kann es kaum erwarten, die ersten Eindrücke vom Auswahltest jetzt für uns zu öffnen. Ingmar, du bist an der Reihe.« Mit keckem Grinsen gibt er den Staffelstab an seinen Bruder weiter und flirtet dabei heftig mit der Kamera.

»Und da ist er schon, der heiß begehrte und schon tausendfach intim berührte…« Ingmar fummelt übertrieben in seiner rechten Hosentasche herum und für einen kurzen Moment überlege ich, ob diese Sendung auch wirklich jugendfrei ist.

»…gol-de-ne Drücker!« Ein circa zehn Zentimeter großer Fernsteuerungsstab kommt zum Vorschein und Centa Jünger klatscht den Gebrüdern Selten belustigt auf die Schultern.

»Oh wow, ein großer Moment für mich, glauben Sie mir. In meiner Zeit als Eleve hatte ich wahnsinnige Panik vor diesem unschuldigen Ding. Jedes Mal war er für den Rausschmiss eines Kandidaten verantwortlich, um schlussendlich die Finalisten zu krönen. Darf ich?« Ingmar gibt den Drücker wie eine Reliquie an die Präsidentin ab und beäugt sie mit hochgezogenen Augenbrauen. »Er fühlt sich gar nicht so angsteinflößend an. Wollen wir doch einmal sehen, wer heute Abend als Erster oder Erste am Drücker ist. Film ab.«

»Ingmar, ich glaube, wir können Feierabend machen, für den Unterhaltungsfaktor sorgt Madame schon ganz alleine.« John klemmt seinen kleinen Bruder unter den Arm und will gehen, als das Bild auf einem überdimensional großen Bildschirm zu flackern beginnt und Julius, der Pressemann, darauf erscheint.

»Hallo, Ingmar? John? Könnt ihr mich hören?« Auf Stichwort bleibt John stehen und dreht Ingmars Hinterteil ins Bild. Dieser zappelt wie ein gerupftes Huhn, befreit sich aber nach einigen Mühen aus der Umklammerung.

»Julius, du – hier – wirklich?« Ingmar zieht einen Geldschein aus der Sakkotasche und reicht ihn beleidigt seinem Bruder.

»Tja, Julius, er hat unsere Wette verloren.«

»Wette?«, fragt der junge Journalist.

»Ingmar hat das Taschengeld des ganzen Monats darauf verwettet, dass du nach einem Tag schlappmachst und den erfahrenen Kollegen das Feld überlässt. Du weißt schon, die zickigen Mädchen, die überheblichen Jungs und der ständige Druck als junger Mensch den Fernsehbossen zu gefallen… Umso schöner, dass du noch da bist und deine kleine Sammlung mit uns teilst.« Oh ja, langsam kann es mal losgehen.

»Danke für dein Vertrauen John. Ingmar, dir werde ich jetzt wohl beweisen müssen, wie wenig mich zickige Siebzehnjährige oder arrogante Machoteenager beeinflussen können. Frau Präsidentin, Sie sehen, nebenbei gesagt, heute Abend ganz zauberhaft aus.« Würg.

»Ach Sie Charmeur, fangen Sie schon an.« Sie lächelt peinlich berührt in die Kamera und drückt anschließend überdeutlich den ›Gol-de-nen Drücker‹.

Auf der Mattscheibe werden im Zeitraffer sämtliche Schulen des ganzen Landes eingeblendet und die Anzahl der Teilnehmer dazu notiert. Die Konkurrenz ist enorm, auch wenn mir das längst bewusst war und meine Nervosität steigt. Was, wenn Elsika mit ihrer Einschätzung völlig daneben lag und mein Interview dem Cutter zum Opfer gefallen ist. Nur die wahrlich spannenden Entdeckungen finden heute Abend Platz in der Show und erhalten die Chance, auch ohne passendes Testergebnis den Einzug in die Warte zu schaffen. Daumen drücken! Fenja greift meine Hand, um nicht an ihren Nägeln zu kauen, und im gleichen Moment stoppt das Bild, wird wie eine überflüssige Wand von Julius beiseitegeschoben und schafft Platz für seine Performance.

»Wenn das mal kein cooler Effekt war. Leute, ich prophezeie euch, dass heute die beste Realityshow aller Zeiten startet und ihr beide ein Teil davon werden könnt.« Elvis halluziniert, obwohl wir nicht mal Alkohol auf dem Tisch stehen haben.

Julius greift in ein überdimensionales Fischglas, welches aus dem Nichts aufgetaucht ist, zieht ein Foto heraus und schnipst es wie durch Zauberhand ins Sichtfeld. Nun wird ein todschicker Schulhof in Midden sichtbar und Julius steigt ins Foto, erhält ein Mikrofon vom Kameramann und lockt seinen ersten Interviewpartner zu sich heran. Ein unglaublich gutaussehender Kerl mit dunkler Surferfrisur, pechschwarzen Augen und einem Wahnsinnslächeln steht ihm nun gegenüber und genießt seinen ganz persönlichen Moment. Er trägt den Rucksack lässig über der Schulter und hat das rote T-Shirt mit V-Ausschnitt tief in die Jeans gesteckt, sodass wir das Spiel seiner stattlichen Bauchmuskeln darunter erahnen können.

»Whoohoo!« Es purzelt Fenja einfach so aus dem Mund. Als Elvis ihr daraufhin einen verachtenden Blick zuwirft, macht sie sich kurzerhand ganz klein und sucht Schutz an meinem starken Arm. »Stimmt's, er ist eine Wucht, Roya.« Sichtlich nervös wischt sie die Hände an ihrem gepunkteten Rock ab. »Kile, diesen Namen werden wir wahrscheinlich nicht so schnell vergessen.«

»Natürlich Fenja, aber es ist nicht nett, deinen Freund damit zu konfrontieren«, flüstere ich ihr ins Ohr und unterdrücke ein Lachen in der Hoffnung, die beiden Jungs nicht noch mehr vor den Kopf zu stoßen.

»Ach, der soll sich mal nicht so haben. Ich bin kein Hündchen an der kurzen Leine und darf doch wohl ein bisschen träumen.«

Während wir dem Sunnyboy hinterhergeifern, erfreuen sich Tam und Elvis am folgenden Beitrag: Sly! Vor lauter Verblüffung springe ich auf und falle Tam zu meiner Rechten um den Hals. Im selben Moment wird mir die Ungeheuerlichkeit dieser Kurzschlussreaktion bewusst und mein Magen krampft sich zusammen. Ich entschuldige mich tausendfach, um danach in den Sofakissen zu verschwinden. Was sollte das denn gerade? Tam lässt mich nicht aus den Augen und versucht in meinen Gedanken zu lesen. Ein verständnisvoller Blick folgt und die Schamesröte in unserer beider Gesichter zieht sich langsam zurück. Das ist so verdammt peinlich. Hassen will ich ihn und ich gebe mir alle Mühe, diesen Vorsatz einzuhalten, aber für den Bruchteil einer Sekunde sah ich seinen Zwilling neben mir sitzen und mein freudiges Hirn setzte aus. Sly ist ein gemeinsamer Freund, doch meine Loyalität Tristan gegenüber sollte über all dem stehen. Ich schäme mich. Wenn ich einen Wunsch frei hätte, wäre es eine Zeitmaschine, mit der ich diese Blamage rückgängig machen und mein Gewissen erleichtern könnte.

Auch wenn Julius und seine Kollegen einen Jugendlichen nach dem anderen interviewen und jeder einzelne von ihnen Starpotential mitzubringen scheint, zieht die Show wie im Nebel an mir vorbei. Ich spüre heiße Tränen auf meiner Wange und lasse sie meinen Hals hinunterlaufen, ohne etwas dagegen zu unternehmen. Selbst wenn ich das Ticket in die nächste Runde ergattern sollte, ist alles sinnlos, solange Tristan irgendwo da draußen ist und ich keine Gewissheit habe, dass es ihm gut geht. Ich kann nicht noch einen geliebten Menschen verlieren, auf Elvis Sofa sitzen und seinen Bruder umarmen. Mein weißes Shirt wird an einigen Stellen bereits durchsichtig, als Fenja plötzlich aufschreit.

»Roya, Roya, guck, guck!« Sie dreht sich zu mir und erstarrt. »Süße, was hast du denn?« Ich kann nicht reagieren. Auf der Mattscheibe prangt mein Bild, Tam und Elvis klatschen sich mit großem Stolz ab, Fenja würde mich womöglich am liebsten abknutschen und ich zerfließe vor Sehnsucht, Angst, Liebeskummer und Selbsthass.

»Feiert noch ein wenig ohne mich, ich bin gerade zu überwältigt.« Nicht von meinem Erfolg, nicht von all dem Ruhm, der nun auf mich wartet, sondern von der Ungeheuerlichkeit meines Tuns – Ich bin eine schreckliche Person.

»Na klar bist du das.« Gut, dass Fenja keine Gedanken lesen kann. »Es ist wundervoll, dich in XXL auf der Leinwand zu sehen. Daran können wir uns schon mal gewöhnen. Geh heim zu deinen Eltern. Die werden wahrscheinlich im Kreis hüpfen.« Sie drückt mir einen Kuss auf die Stirn und lässt mich ziehen.

Nachdem ich meine tatsächlich hüpfenden Eltern beruhigt habe und mich auf den Weg ins Bett mache, klingelt das Handy in meiner Tasche. Ich bleibe auf halber Treppe stehen, um den Anruf mit unterdrückter Nummer entgegenzunehmen und lasse mich vor Rheas Zimmer auf den Boden fallen. Die Wasserfälle fließen aus meinen ohnehin schon verquollenen Augen und wissen nicht, wer ihnen den Anlass dazu liefert. Sorge? Freude? Angst? Morgen früh weiß ich mehr – adieu erholsamer Schlaf!

BeTwin

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