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Tag 243
ОглавлениеIch bin hier und auch wieder nicht hier. Ich träume und bin trotzdem hellwach. Ich liege nicht in meinem Bett und doch schlafe ich. Mein Kopf sollte sich auf die nächste Stunde vorbereiten, mein Herz will den Zepho lösen und ins Krankenhaus rennen.
Ferngesteuert trete ich den Weg ins Atelier an. Auf dem Ascenseur sind sämtliche Mitschüler versammelt und warten auf mein Erscheinen.
»Haben wir heute gar keinen Fachunterricht, Ebba?« Ich war davon ausgegangen, dass ich wie nahezu jede Nacht vor meinem virtuellen Lernprogramm lande und das Gesundheitswesen studiere.
»Nö, Ceyda hat uns abgefangen und für einen außerplanmäßigen Notfall ins Atelier gerufen.« Na wenigstens bleibt der Ort eine Konstante.
»Toll, dass es so viele von uns ins Abendprogramm geschafft haben, oder?«
»Wie bitte, nochmal?« Ich habe nur Rauschen vernommen.
»Na ja, da ist Sly, Kuno selbstredend, Fräulein Roya und – ich kann es immer noch gar nicht fassen…« Ebba vollführt einen Siegestanz. »Und ich! Yeah! Klatsch ein!« Sie hält mir ihre Hand auf Augenhöhe, ich schlage dagegen und verziehe den Mund zu einem künstlichen Lachen. Ja, ganz toll für dich. Wäre das gestrige Telefonat nicht gewesen, könnte ich mit den anderen ausgelassen feiern, doch meine Gedanken entgleiten und lassen keinen Platz für Partystimmung.
»Du hättest Taranee sehen sollen, als du den Ascenseur betreten hast. Laserstrahlen kamen aus ihren Augen, da bin ich ganz sicher. Es muss ein unbekanntes Gefühl für sie sein, einmal nicht im Mittelpunkt zu stehen.«
»Mmh.« Gebe ich kopfnickend zu und richte den Blick auf das herannahende Brückengeländer. Als wir stoppen, spüre ich eine Hand auf meiner rechten Schulter und bleibe stehen.
»Lass mich bitte, Tam.« Es ist nicht Wut, die da aus mir spricht, sondern Erschöpfung und Traurigkeit.
»Ich habe eine Botschaft von Fenja und Elvis.«
»Ach ja?« Er schließt mich in seine Arme. Vor der ganzen Klasse umarmt er mich und macht keine Anstalten, diese Umarmung auch wieder zu lösen.
»Danke, ich hab’s verstanden.« Ein wenig schmunzeln muss ich schon. Ich sehe meine Freundin vor mir, wie sie Tam diesen Auftrag erteilt mit dem Wissen, dass er ihn mit großer Ernsthaftigkeit in die Tat umsetzen wird und zudem einen eigenen Nutzen daraus zieht. Die Kupplerrolle kann sie einfach nicht abschütteln.
»Sonst alles soweit okay bei dir?« Es ist wirklich nett, dass er fragt, aber auf eine erzwungene Unterhaltung hab ich gerade überhaupt keinen Bock.
»Ja, alles bestens. Wir sehen uns dann.« Ich presche mit schnellen Schritten voran, um den Abstand zwischen uns zu vergrößern. Sein Mitleid in allen Ehren, aber ich möchte und ich brauche es nicht.
Als Ebba, Taranee, Lana, Kuno, Berd, Sly, Tam und ich Platz genommen haben, fördert der Dozentenascenseur Herrn Lehmann zu Tage und versetzt uns Acht in Staunen. Notfall – Lehmann – das kann nur eines bedeuten: neue Erkenntnisse im Fall CARIS.
»Herr Lehmann, haben Sie sie gefunden?« Das gerade der zurückhaltende Sly die Neugierde schwer bremsen kann, überrascht mich kein bisschen. Nachdem er seinen Irrtum – Caris Entführung sei nur ein Fake, um uns eine Lektion zu erteilen – eingesehen hatte, überkamen ihn die Schuldgefühle. Neben der Schule und seinen Verpflichtungen der Akademie gegenüber machte er es sich zu seinem persönlichen Anliegen Caris zu finden.
»Da liegen Sie ganz richtig, Sly.« Ein Schwall der Erleichterung huscht durch das Atelier und geht auch an mir nicht spurlos vorüber. Es gibt Hoffnung – nach monatelanger Ungewissheit, ob sie nach der Entführung durch die Regierung überhaupt noch unter den Lebenden weilt.
»Gestern wurde sie in Begleitung einer Frau mittleren Alters in Midden gesichtet. Die beiden betraten das Geschäft eines Innenausstatters und kamen vierzig Minuten später schwer beladen wieder hinaus. Danach fuhren sie in Richtung des Regierungsareals. Hier verliert sich die Spur. Leider ist es unserer IT-Abteilung bisher noch nicht gelungen, in die Überwachungsanlage einzudringen und somit die Kameras im Inneren der Gebäude anzuzapfen. Wir gehen davon aus, dass es ihrer Mitschülerin gut geht und haben die Eltern des Mädchens über ihren vermeintlichen Aufenthaltsort informiert. Frau Jünger wird sich natürlich zurückhalten müssen, was die Belange ihrer Tochter Caris anbetrifft, jedoch…« Wie bitte? Nein, was?
»Moment, haben Sie Tochter gesagt?« Sly spricht aus, was uns allen durch den Kopf schießt. Centa Jünger soll Caris Mutter sein und wusste nicht, dass die eigenen Leute diese entführt und vor ihren Augen versteckt haben?
»Wieder richtig. Womöglich sollten wir Ihnen die genauen Details vorenthalten, jedoch definiere ich es als einen Vertrauensvorschuss und hoffe, dass Sie dieses Vertrauen nicht missbrauchen werden.« Um ein wenig Ruhe in die Klasse zu bringen, setzt er sich locker auf das Lehrerpult und legt die Hände entspannt in den Schoß, bevor er fortfährt. »Centa Jünger brachte im zarten Alter von sechszehn Jahren ein blondgelocktes Mädchen zur Welt. Um ihre Bestimmung zu erfüllen, ließ sie das Kind bei dessen Vater aufwachsen und brach jeglichen Kontakt ab. Sie selbst schleuste Caris ins Schläferprogramm, um ihr während der Zeit der Initiation nahe zu sein und die verlorene Zeit aufzuholen. Vor einigen Wochen arrangierten wir mit Cornelius Engels Hilfe ein geheimes Treffen zwischen Centa und ihrer Tochter, um die Wahrheit zu beichten und ihre Identität preiszugeben. Die Aktion wurde verhindert und Caris daraufhin entführt. Die Behörden wollten Cornelius Informationen über BePolar erpressen und Centa eine Beziehung zu ihrem Kind verwehren. Das Polarjahr steht vor der Tür - Ablenkung kann nicht geduldet werden. Was wäre das für ein Skandal und ein gefundenes Fressen für alle Präsidentenkritiker. ›Centa Jünger gibt Kind ab, um Karriere zu machen‹ die Meute würde sie zerfleischen.« Vielleicht hätte sie das verdient? Welche Mutter tut so etwas? Und was ist mit BePolar? Sie holte sich Hilfe bei BePolar, um ihre Tochter einzuwickeln und alles wieder gut zu machen? Sly fehlen die Worte und auch uns anderen ist jegliche Farbe aus dem Gesicht gewichen. Lehmann offenbart uns gerade, die Präsidentin ist Teil dieser wahnwitzigen Putschaktion und gefährdet nicht nur ihr eigenes Leben, sondern auch das ihrer Familie? Ich verstehe die Welt nicht mehr. Gerade war mir diese Frau ans Herz gewachsen und jetzt werde ich so bitter enttäuscht? Die arme Caris.
Es bleibt mucksmäuschenstill. Über den Köpfen der Anwesenden raucht es und Herr Lehmann scheint seine folgenden Aussagen in Stille zu formulieren.
»Präsidentin Jünger ist seit frühester Jugend Opfer einer machtgierigen, hartherzigen und berechnenden Regierung geworden und es leid, nur Spielball zu sein. Sie hat gemeinsam mit Valda Harmann diese Bewegung ins Leben gerufen und appelliert nun an ihre Liebe zum Vaterland, um das System nicht zu stürzen, sondern von innen heraus auf friedlichem Wege zum Besseren zu verändern.« Weiterhin bleibt Sprachlosigkeit das vorherrschende Gefühl. »Ich bitte Sie inständig, die Forderungen der Präsidentin ernsthaft zu überdenken. Wenn ein jeder bereit ist, für unser Gemeinwohl seine eigenen Interessen zurückzustecken oder auch mögliche Zweifel abzulegen, werden Sie Acht, die stärkste Waffe des friedlichen Widerstandes sein. Caris und ihre Familie verdienen eine echte Chance und Sie können daran mitbauen.«
Nach diesen Ausführungen teilt er die Klasse in zwei Vierergruppen ein und gibt Aufgabenstellungen in Form von abstrusen Kochrezepten aus. »Knacken Sie den Code! Zeit läuft.« Großartig, erst setzt er uns solch einen Knaller vor die Nase und nun sollen wir arbeiten, als sei nichts gewesen? Ich brauche einen Moment.
CENTAS LIEBLINGS RÜBLIKUCHEN
Am Anfang steht das Mehl (300 Gramm).
Richtig sieben ist der Schlüssel zum Erfolg.
In der exakten Reihenfolge kommen nun
Salz, nur eine Prise;
Bienenhonig, zwei Esslöffel;
Etwas Zucker, doch nicht mehr als 150 Gramm;
Irgendwann verrühren,
Teig wird fest.
Rüben (7 mittelgroße Exemplare) reiben und dazu geben.
Eier nicht vergessen (2 Stück).
Nach und nach die Milch unterrühren.
Teelöffel, für Teelöffel die Masse geschmeidiger machen.
Orange Verfärbungen sind zu erwarten.
Noch einmal verkosten.
In der Regel sollte er sehr schmackhaft sein.
Den Kuchen glasieren.
Verdammt lecker!
Deine Valda
Sly, Tam, Ebba und ich blicken regungslos auf die geheime Botschaft und warten auf den rettenden Einfall. Wir vier sind so verdattert, dass es beinahe unmöglich scheint, überhaupt einen Zusammenhang in diesen abstrusen Buchstabensalat zu bekommen. Eine derartig bekloppte Aneinanderreihung von Zutaten habe ich noch nie gesehen.
»Es muss ein Dechiffriercode sein, so viel steht fest.« Ebba reißt sich das Papier unter den Nagel. »Mmh, mal überlegen.« Sie schlägt ihre großen Zähne so tief in die Unterlippe, dass ich Angst habe, sie könnte sich ein Loch hineinbeißen. »›Deine Valda‹ – nicht ein wenig zu offenherzig? Da brauchen die Idioten doch nur eins und eins zusammenzählen.«
»Ganz ehrlich, ich finde diesen Trick grandios. Sie versuchen, die Mistkerle mit ihren eigenen Waffen zu schlagen und bereiten die Befreiungsaktion direkt vor ihren Augen vor. Beeindruckend.« Sly krallt sich das Rezept und streicht mit den Fingern behutsam darüber, um mögliche Unreinheiten im Papier zu entdecken. Wieder und wieder liest er den Text in unterschiedlicher Betonung. Vorwärts, rückwärts, nur jeden zweiten Buchstaben, lediglich die Großbuchstaben, bis er an seine Grenzen stößt.
»Zeig mal her.« Tam öffnet ein neues Fenster auf dem Tablet und versucht verschiedene Buchstabenkonstellationen zu notieren. Ebba hält das Rezept gegen das Licht und ich wende unterschiedlichste Falttechniken an, um dem Rätsel auf den Grund zu gehen.
»Lasst uns mal an den Inhalt dieses Kuchens gehen. Kann einer von euch backen?« Ich blicke Ebba fragend an, da ich den Jungs diese Fähigkeiten gar nicht erst zuschreibe.
»Was siehst du mich an, Roya? Nur weil ich gern Kuchen esse, muss ich doch nicht der Backkunst mächtig sein.« Ich entschuldige mich mit hängenden Schultern und einem netten Lächeln und gebe die Hoffnung auf. Meiner molligen Freundin die Liebe zum Backen zu unterstellen war eine Widerwärtigkeit, auch wenn sie sie völlig in den falschen Hals bekommen hat. Ein richtiges Arschgefühl zieht durch meine Magengegend und das habe ich auch verdient.
»Ich mache ganz passable Torten.« Sly ist und bleibt ein Überraschungspaket. Ich schäme mich für meine albernen Vorurteile und Geschlechterklischees und reiche ihm erneut das völlig zerknüllte Geheimdokument.
»›Bienenhonig, orange Verfärbungen, den Kuchen glasieren‹ was sollen das für Anweisungen sein? Ist doch völliger Blödsinn - ›nicht mehr als 150 Gramm‹ – beim Backen gibt uns das Rezept die perfekte Mischung vor. Das hier ist lauwarmes Gequatsche.« Plötzlich nimmt Tam sein Tablet und legt es so auf das Geschriebene, das lediglich der erste Buchstabe einer jeden Zeile zu sehen ist.
C-a-r-i-s-b-e-i-t-r-e-n-t-o-n-i-d-v
»Caris bei Trenton«, lese ich vor und bekomme vor Ehrfurcht den Mund kaum zu.
»Das ist ja der Hammer, man! Genial! Und was ist i-d-v?« Sly wartet gespannt auf Tams Auflösung.
»›In der Versenkung?‹ Keine Ahnung, echt. Aber den Kern haben wir. Vielleicht will sie den Beweis nachreichen, oder sucht einen – was weiß ich?«
»Du hast recht. Fall gelöst.« Slys Hand schnellt nach oben und Herr Lehmann kommt an unseren Tisch. Ein Schulterklopfen, ein anerkennendes Kopfnicken und schon tritt er den Rückweg an. Die vier anderen sind noch nicht zu einem Ergebnis gekommen, also bleibt uns genügend Zeit, die Botschaft näher unter die Lupe zu nehmen.
»Weiß einer von euch, wer oder was ›Trenton‹ sein soll?« Sly fängt sich einen leichten Klaps von Ebba ein.
»Ihr Kerle wieder – kein Auge für Details. Josi Trenton ist wohl die angesagteste Designerin des Landes und zufällig im kommenden Jahr für das Erscheinungsbild der Warte inklusive der Outfits aller Kandidaten während der Initiation zuständig. Das blaue Kleid der Präsidentin zur Eröffnung ist ebenso auf ihrem Mist gewachsen. Oh man, ich verehre diese Frau.« Blitzartig verändern sich ihre Gesichtszüge und nehmen eine angsteinflößende Miene ein. »Womöglich ändere ich jedoch gerade meine Meinung.« Ebbas Hände ballen sich zu zittrigen Fäusten und ihr Kopf nimmt eine zu rote Farbe an. »Sie hat unsere Mitschülerin kaltblütig entführt und stellt sie wahrscheinlich als Sklavin in ihre Dienste. Wer weiß schon, was die Arme alles für niedere Arbeiten verrichten muss.« Ebbas Vater ist ein hochgeschätzter Schriftsteller und Publizist. Er verdient sich eine goldene Nase mit Berichten über die High Society und dem Verkauf seiner eigenen Geschichte aus der Zeit der Initiation. Bisher habe ich noch kein Wort von ihm gelesen, obwohl sämtliche Werke in gedruckter Form das rothsche Wohnzimmerregal neben Ärzteromanen und dem Band ›starke Frauen der Vergangenheit‹ schmücken. Mum träumt sich oft in seine große Villa in Südost. Angestellte, mehrere unbezahlbare Autos in der Garage, ein Ferienhaus mit Meerblick und eine Frau wie aus dem Beautykatalog. Ebba schien es an nichts zu fehlen. Cool, dass aus ihr trotzdem eine selbstbewusste und großherzige junge Frau geworden ist.
»Sie sind fertig.« Tam lenkt unsere Aufmerksamkeit nach vorn, um die Auswertung zu verfolgen.
»Nun, vielen Dank für Ihre erfolgreiche und flinke Arbeit. Mehr und mehr fruchtet der Unterricht und ich kann beruhigt schlafen, sobald Sie in der Warte von Ihren Fähigkeiten profitieren werden.« Hach, so eine nächtliche Schmeichelei geht runter wie Öl. Ist auch nötig nach den Offenbarungen der heutigen Sitzung. »Wie Sie nun wissen, befindet sich Caris in der Obhut von Josi Trenton, danke Gruppe 1, und leidet vermutlich an einer dissoziativen Amnesie«. Gruppe 2 klatscht sich verdient ab. »Was bedeutet, dass ihr jede Erinnerung an ihre Vergangenheit genommen oder frisiert wurde.« Es ist alles so schrecklich. »Valda und ihr Team versuchen, diskret, mehr Informationen zu sammeln und uns über Caris Befinden auf dem Laufenden zu halten.« Die Klasse hält den Atem an. »Wir setzen alle Hoffnung daran, dass einige von Ihnen vor Ort Kontakt zu ihr aufbauen können und mittels angelernter Hypnosetechniken diese Amnesie zu lösen im Stande sind.« Dafür müssen wir erst einmal nach Midden gelangen und dann auch noch in ihre Nähe. Klingt nach einem absolut utopischen Unterfangen. »Bitte befassen Sie sich neben dem aktuellen Lernstoff auch mit diesem Vorhaben und werden Sie kreativ, was die Umsetzung eines solch komplexen Verfahrens in der Realität angeht. Geduld und Spucke sind hierbei unsere einzige Möglichkeit. Guten Schlaf.«