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Exkurs 1: Maria im Koran

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Maria (arab. Maryam) war im damaligen Vorderen Orient sicher die berühmteste Frauengestalt. Quer durch die Kulturen und Religionen war sie bekannt als die Mutter Jesu. Sie wurde als Heilige, als Jungfrau, als „Gottesgebärerin“ (gr. theotókos) und in manchen heterodox-christlichen Gruppen sogar als eine Göttin verehrt (s.u. Kap. 9). Muslimische Quellen berichten davon, dass es zur Zeit Muhammads von ihr (und dem Jesusknaben) ein (Stand-) Bild in der Kaaba gegeben habe. So ist Maria auch im Koran alles andere als eine Unbekannte. Sie ist sogar die einzig namentlich erwähnte Frau im Koran! Von daher spielt sie durchaus eine Rolle im Koran, auch wenn sie im Vergleich zu den männlichen Propheten nicht allzu oft vorkommt. Sie wird in nur sechs Suren in insgesamt knapp 40 Versen erwähnt.35 Maria wird übrigens nur in denjenigen Suren erwähnt, in denen auch Jesus vorkommt. Es gibt also keine einzige Sure im Koran, die ausschließlich Maria erwähnt und nicht auch Jesus. Dies deutet schon das enge Band zwischen Jesus und Maria im Koran an.

Als „Vater“ – genauer gesagt: als Ahnherr – Marias gilt der zu Beginn des Kapitels erwähnte Imran, also der biblische Amram, welcher der Vater Moses, Aarons und Mirjams war. Maria wird „Tochter Imrans“ (arab. bint Imrān) genannt (Sure 66,12). Zu dieser genealogischen Auffälligkeit, die Maria um fast 2000 Jahre zurückzuversetzen scheint, sollen später einige weitere Ausführungen folgen. Nach dem Namen dieser Herkunftssippe Marias ist die dritte Sure benannt. Der Name ihrer Mutter wird im Koran selbst nicht genannt. Sie heißt lediglich „Imrans Frau“ (Sure 3,35). In Übereinstimmung mit der christlichen Tradition wird sie in der islamischen Tradition Anna oder Hanna genannt. Der Koran kennt natürlich die berühmteste Geschichte von Maria und Jesus, die Geburtsgeschichte, die er – chronologisch betrachtet – als erstes erzählt, und zwar in Sure 19, die explizit den Namen Marias trägt. Auf diesen Teil der mekkanischen Kindheitserzählung kommen wir gleich zu Beginn des nächsten Kapitels ausführlich zurück. Neben der auffälligen Bezeichnung Marias als „Tochter Imrans“ begegnet uns in dieser Geburtsgeschichte eine weitere genealogische Merkwürdigkeit, die schon hier diskutiert sei. Gemeint ist die Anrede, mit welcher die aus der Abgeschiedenheit zu ihren Leuten zurückkehrende Maria bedacht wird (Sure 19,28): „Schwester Aarons, dein Vater war doch kein unzüchtiger Mann und deine Mutter keine Dirne.“ Was bedeutet diese Anrede als „Schwester Aarons“ (arab. ukht Hārūn)? Wer soll dieser Aaron gewesen sein? Ein Bruder Marias wird in der christlichen Tradition nicht erwähnt. Von daher ergehen sich die Kommentatoren in zahlreichen Spekulationen über die Identität dieses Aaron. Handelt es sich vielleicht um einen bekannten Zeitgenossen und Verwandten Marias aus demselben Stamm, wie etwa Tabarī vermutet, oder tatsächlich um ihren Bruder, wie Thalabī erwägt? Ibn Kathīr verweist in seinem Kommentar zur Stelle auf ein Hadith (Spruch Muhammads) in der Sammlung von Muslim, demzufolge bereits Muhammad die Anrede Marias als „Schwester Aarons“ mit dem Gebrauch der Juden erklärte, die Namen ihrer Kinder in Beziehung zu setzen mit großen jüdischen Propheten oder frommen Männern. Andere Ausleger weisen auf die semitische Vorstellung hin, dass man die Nachkommen eines Stammes als Geschwister der Stammväter betrachtete, so dass eine entsprechende Anrede die Zugehörigkeit zu diesem Stamm signalisiere. In dieser Richtung erläutert Muhammad Asad: „Im alten semitischen Sprachgebrauch wurde der Name eines Menschen oft mit dem eines bekannten Vorfahren oder Begründers der Stammeslinie verbunden. So wurde beispielsweise ein dem Stamm der Banu Tamim angehörender Mann manchmal als ‚Sohn Tamims‘ oder ‚Bruder Tamims‘ angesprochen. Da Maria der Priesterklasse angehörte und daher von Aaron, dem Bruder Moses, abstammte, wurde sie eine ‚Schwester Aarons‘ genannt.“36 Trifft diese Erklärung zu, wird sogleich der Unterton der Entrüstung und der Anklage in dieser Anrede Marias von Seiten ihrer Angehörigen deutlich, wie Abdullah Yusuf Ali bemerkt: „Maria wird an ihre hohe Abstammung erinnert und an das ausnahmslos sittliche Verhalten ihres Vaters und ihrer Mutter. Wie ist sie gefallen, sagten sie, und hat den Namen ihrer Vorfahren entehrt!“37

Von dieser Deutung klassischer wie zeitgenössischer muslimischer Kommentatoren unterscheidet sich die seit alters von christlichen Theologen und später auch von einigen Orientalisten aufgestellte Behauptung, Muhammad habe sich schlicht geirrt! Er habe die Mutter Jesu mit Mirjam, die in der Hebräischen Bibel, in Exodus (= 2 Mose) 15,20 als „Schwester Aarons“ bezeichnet wird, verwechselt.38 Doch davon kann ernsthaft keine Rede sein. Rudi Paret hat Recht: „Von einer eigentlichen Verwechslung von Maria und Mirjam wird man kaum sprechen können.“39 Christliche Theologen behaupten ja auch nicht, dass im Neuen Testament Lukas, der Autor des gleichnamigen Evangeliums, Elisabeth, die Verwandte Marias, für eine Zeitgenössin von Mose und Aaron hielt, nur weil er sie als eine der „Töchter Aarons“ bezeichnet (Lukas 1,5). Moderne Bibelübersetzungen geben diesen Ausdruck selbstverständlich so wieder, wie es Asad für den Koran erläutert hat: Elisabeth „stammte aus dem Geschlecht Aarons“ (Einheitsübersetzung). Als ein weiteres Beispiel für den semitischen Sprachgebrauch im Neuen Testament ist die Anrede Jesu als „Sohn Davids“ zu sehen, die, buchstäblich verstanden, gleichfalls den gemeinten Sinn völlig verfehlt. Zu behaupten, Muhammad habe Maria mit Mirjam verwechselt, impliziert, er habe Jesus für einen Neffen, also Zeitgenossen Moses gehalten. Selbst wenn man annehmen würde, Muhammad habe in der frühen Zeit seiner Wirksamkeit in Mekka, zu der Sure 19 zählt, tatsächlich die alttestamentliche Mirjam und die Maryam als Mutter Jesu für ein und dieselbe Person gehalten, dürfte sich dieses Missverständnis spätestens in Medina aufgeklärt haben. Denn aus den dort entstandenen Suren geht klar hervor, dass Jesus von Gott gesandt wurde, um die bei den Israeliten längst vernachlässigte Tora zu aktualisieren und zu modifizieren (Sure 3,50; 5,46; 61,6). Dies schließt eine Zeitgenossenschaft Jesu mit Mose und jedenfalls eine dauerhafte Verwechslung Marias mit Mirjam durch den Koran aus. Eher ist zu fragen, ob hier jemals die unterstellte Verwechslung vorlag oder ob nicht vielmehr der erläuterte semitische Sprachgebrauch vorauszusetzen ist, so dass schlicht gemeint ist: Maria stammte aus dem Geschlecht Aarons. Suleiman Mourad hat völlig Recht: „Ihre Identifikation als Amrams Tochter und Aarons Schwester beabsichtigt, ihre biblische Herkunft ins Licht zu rücken und nicht, um die Zuhörerschaft des Korans über ihren direkten Vater und Bruder zu informieren.“40

Keine im Koran erwähnte Frau wird so sehr gerühmt wie Maria. Sie sei die keusche jungfräuliche Mutter Jesu (Sure 19,16ff.) und als solche ein Zeichen Gottes für die Welt (Sure 23,50; 21,91). Ihre Mutter habe sie schon vor ihrer Geburt Gott geweiht (Sure 3,35) und das kleine Mädchen dann in den Tempel gebracht. Dort sei Maria unter der Obhut des Zacharias aufgewachsen. Sie sei auf wundersame Weise ernährt (Sure 3,37) worden und stehe unter dem besonderen Schutz Gottes, so dass nicht einmal der Satan sie jemals berührt habe. Sie sei die Reinheit in Person, weil Gott selbst sie „rein gemacht hat“ (Sure 3,42) und sie ihre „Scham“ (fardj) zu hüten wusste, wie der Koran gleich zweimal versichert (Sure 21,91; 66,12). Daraus schlossen später islamische Theologen, wie ihre christlichen Kollegen von der „Sündlosigkeit“ (isma) Marias sprechen zu müssen (vgl. Exkurs 3). Sure 3,37.44 zufolge hatte man „Stäbe“ (aqlām) als Lose geworfen, um zu ermitteln, wer der von Gott bestimmte Pfleger Marias werden sollte. Im Protevangelium des Jakobus (Kap. 9) hingegen wird erzählt dass mit Hilfe dieses Losverfahrens nicht der Betreuer, sondern der künftige Ehemann Marias, also Josef, ermittelt wurde, der die zwölfjährige Jungfrau zu sich nehmen sollte (Tabelle 1 im Anhang). Dem Protevangelium zufolge war Zacharias in der Tat der Betreuer Marias, doch nur bis zu ihrer Geschlechtsreife. Der Koran hat offenbar die Ersetzung des Zacharias durch Josef weggelassen – Josef tritt nirgendwo im Koran als der Ehemann Marias und damit als der Vater Jesu in Erscheinung. Die koranische Variante der christlichen Marienüberlieferung wird als „eine der verborgenen Geschichten“ bezeichnet, die Gott exklusiv Muhammad kundtut (Sure 3,44). Alles in allem ist Maria die von Gott „vor allen Frauen in der Welt“ Erwählte (Sure 3,42) und eine Gerechte (Sure 5,75), so dass die islamische Tradition sie später zusammen mit Āsiya, der gläubigen Frau des Pharao, Khadīdja, der ersten Frau Muhammads, sowie mit Fātima, der Tochter des Propheten, zu den vier besten Frauen, wenn nicht gar zur besten Frau der Geschichte überhaupt erklärt hat. Die islamische Tradition verehrt Maria als eine Heilige (walīya) und als Herrin (sayyida). Einige wenige Theologen wie z.B. die andalusischen Gelehrten Ibn Hazm (gest. 1064) und Qurtubī (gest. 1272), beide aus Córdoba, gehen sogar so weit, sie als die einzige Prophetin (nabīya) überhaupt zu bezeichnen. Doch eines ist Maria bei aller Verehrung der Muslime für sie ganz gewiss nicht: eine Göttin oder Teil einer göttlichen Trinität, wie der Koran Jesus selbst bezeugen lässt (Sure 5,116). Im neunten Kapitel gehen wir gesondert darauf ein.

20 Der Koran als Text der Spätantike, a.a.O. S. 483.

21 „Um dir (…) zu schenken“, wie Bobzin das arab. li-ahaba laki übersetzt, setzt den „Geist“ als Subjekt voraus. Nach der Lesart von Abū Amr von Basra (gest. 770) lautet der Text: li-yahaba laki: „damit Er (Gott) dir (einen lauteren Knaben) schenke“. Tabarī lehnt diese andere Lesart ab, wohingegen Rāzī und Ibn Kathīr beide Lesarten anerkennen, da sie sich nicht wirklich ausschlössen. Einzelheiten s. bei Robinson, Christ in Islam and Christianity, New York 1991, S. 163f.

22 Hier habe ich einen offenkundigen Fehler bei Bobzin („So spricht dein Herr …“) korrigiert. Er übersetzt selbst zuvor den mit Vers 21 inhaltlich identischen Vers von Sure 19,9 (Ankündigung der Geburt des Johannes) mit: „So ist es. Dein Herr spricht …“

23 Zwar wird die muslimische Identifikation des „Geistes“ mit Gabriel im Koran selbst nirgendwo explizit vorgenommen (vgl. Sure 26,192f.; 58,22; 70,4; 78,38; 97,4), doch legt sie sich traditionsgeschichtlich auch deshalb nahe, weil bereits die judenchristliche (?) Schrift Himmelfahrt des Jesaja (Schneemelcher [Hg.], Neutestamentliche Apokryphen, Bd. 2, S. 547–562) bei der Schilderung der Geburt Jesu Gabriel mit dem (Heiligen) Geist identifiziert: Er heißt dort „Engel des Geistes“ (XI,4) bzw. „Engel des Heiligen Geistes“ (XI,33). Zur Entwicklung der „Geist“-Vorstellung im Koran vgl. O’Shaughnessy, The Development of the Meaning of Spirit in the Koran, Rom 1953.

24 Zit. nach Gätje, Koran und Koranexegese, Zürich/Stuttgart 1971, S. 165.

25 Zit. nach: Robinson, Fakhr al-dīn al-Rāzī and the Virginal Conception, in: Islamochristiana 14, 1988, S. 11.

26 Asad, Die Botschaft des KORAN, a. a.O. S. 580, Anm. 15.

27 Zit. nach Gätje, Koran und Koranexegese, a.a.O. S. 166.

28 Vgl. z.B. Augusti (Die Christologie des Koran’s, Gera/Leipzig 1800, S. 196), Gerock (Versuch einer Darstellung der Christologie des Koran, Hamburg/Gotha 1839, S. 36ff.), Rösch (Die Jesusmythen des Islam, in: Theologische Studien und Kritiken 49, 1876, S. 432f.), sowie Walter Beltz, der in Sure 21,91 ebenso wie in Lukas 1,35 den „Rest eines Mythos von der Schwängerung Mariens durch den Gesandten Allahs“ erblickt (Sehnsucht nach dem Paradies, Berlin 3. Auflage 1983, S. 136).

29 Zur Vorstellung vom göttlichen Lebensgeist (Atem), der den aus Erde gemachten Menschen allererst belebt, s. bereits in der Hebräischen Bibel Genesis (= 1 Mose) 2,7; Psalm 104,29f.; Ijob 33,4; 34,14; Kohelet 12,7.

30 Arab. aqlām. Bobzin übersetzt mit „Lose“, ich bevorzuge, wie Zirker, „Stäbe“ und ändere entsprechend Bobzins Übersetzung. Paret und Khoury übersetzen mit „Losstäbe“.

31 Der Islam und Jesus, München 5. Auflage 2005, S. 13f. Die islamische Auslegung der medinensischen Kindheitserzählung in Geschichte und Gegenwart dokumentiert Ayoub, The Qur’an and Its Interpreters, New York, Bd. 2, 1992, S. 122–139. Erwähnenswert ist der geistreiche Gedanke des Mystikers Muhyīddīn Ibn Arabī (gest. 1240), bei dem Jesus und Eva als Bruder und Schwester erscheinen. Wie Eva ohne Mutter aus Adam kommt, so wird Jesus ohne Vater aus Maria geboren. Zur Rolle Jesu bei Ibn Arabīs. Arnaldez, Jésus dans la pensée musulmane, Paris 1988, S. 165–184; D’Souza, Jesus in Ibn cArabī’s „FUSUS AL-HIKAM“, in: Islamochristiana 8, 1982, S. 185–200; Schimmel, Jesus und Maria in der islamischen Mystik, a.a.O. S. 129–136.

32 Kommentar zu Sure 4,171, zit. nach Gätje, Koran und Koranexegese, a.a.O. S. 172.

33 Zit. nach Ayoub, The Qur’an and Its Interpreters, a.a.O. Bd. 2, S. 151. Es sei darauf hingewiesen, dass Sayyid Qutb nicht nur ein Korangelehrter, sondern auch ein Islamist und Anhänger der Muslimbrüder war, der wegen seiner radikalen Überzeugungen 1966 im Gefängnis hingerichtet wurde. Doch wird sein weit verbreiteter Kommentar „Im Schatten des Korans“, der eher homiletischen als analytischen Charakter hat, gemeinhin als wichtiger Beitrag zur zeitgenössischen Koranauslegung betrachtet.

34 Vgl. O’Shaughnessy, Word of God in the Qur’ān, Rom 1984. Zur Vorstellung des quasi personifiziert gedachten „Wortes Gottes“ in der Hebräischen Bibel vgl. Deuterojesaja (55,10f.), wo von der Sendung, Wirksamkeit und Rückkehr des Wortes zu Gott die Rede ist. Wie im Koran, kommt auch im Neuen Testament der Titel oder Name „Wort Gottes“ bzw. „Wort des Lebens“ nur selten vor (1 Johannes 1,1; Offenbarung 19,13). Absolut gebraucht und personifiziert gedacht, taucht „das Wort“ (gr. ho lógos) im Johannesprolog auf (Johannes 1,1–3.14), wo von der „Fleischwerdung“ des Logos die Rede ist.

35 In chronologischer Reihenfolge: Sure 19,16–34; 23,50; 21,89–91; 3,33–37.42–47; 66,11–12; 5.75.116. Zu diesen 38 Versen kann man noch die Stellen hinzurechnen, in denen nur der Titel Jesu „Sohn Marias“ begegnet.

36 Die Botschaft des KORAN, a.a.O. S. 581, Anm. 22. Ebenso urteilt Suleiman Mourad, Mary in the Qur’ān, in: Reynolds (Hg.), The Qur’ā n in Its Historical Context, New York 2008, S. 165: „In the Qur’ān too, the terms ibn [Sohn] and bint [Tochter] (and their derivatives) do not only mean ‚direct child‘, but are also used in the sense of ‚descendants‘“.

37 The Holy Qur’an, Beirut 1968, S. 773, Anm. 2481.

38 Vgl. z.B. Bachmann, Jesus im Koran, Frankfurt 1925, S. 7; Becker, Christentum und Islam, in: Islamstudien, Bd. 1, Leipzig 1924, S. 395; Grimme, Mohammed, Bd. 2, Münster 1895, S. 92f.

39 Der Koran. Kommentar und Konkordanz, Stuttgart u.a. 4. Auflage 1989, S. 65.

40 Mary in the Qur’ān, a.a.O. S. 172.

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