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3. Die Ankündigung und Empfängnis Jesu
ОглавлениеVon den gut 120 Versen des Korans, die sich auf Jesus beziehen, finden sich knapp zwei Drittel (75 Verse) in drei Suren konzentriert, die besonders ausführlich von Jesus erzählen. Der Jesusbezug dieser Suren wird schon in ihren Namen bzw. Titeln deutlich. Die älteste dieser drei Suren ist Sure 19. Im Mittelpunkt steht die mekkanische Kindheitserzählung Jesu (Verse 16ff.), die eine gewisse Nähe zur neutestamentlichen Weihnachtsgeschichte nach Lukas zeigt. Die beiden anderen Jesus-Suren stammen aus Medina. Sure 3 ist übertitelt mit „Das Haus Imran“. Sie benennt damit die vor aller Welt von Gott erwählte Sippe, welcher Jesus entstammt (Vers 33). Mit dem arabischen Namen Imrān ist Amram gemeint, der in der Hebräischen Bibel (Numeri = 4 Mose 26,59) als der Vater Moses, Aarons und Mirjams bezeichnet wird. Er gilt als der Vorfahre, ja Urahn Jesu. Im Mittelpunkt dieser Sure steht die medinensische, also die jüngere der beiden koranischen Kindheitserzählungen Jesu (Verse 42ff.). Diese Geschichte, der die Kindheitserzählung Marias vorausgeht, weist auffällige Parallelen zum außerkanonischen, also nicht zum Neuen Testament gehörenden „Protevangelium des Jakobus“ auf. Sure 5 schließlich, die al-mā ’ida („der Tisch“) heißt, nimmt Bezug auf eines der Wunder Jesu (Verse 112ff.), handelt aber auch an anderen Stellen von Jesus. Diese drei Suren machen den Kern der koranischen Messianologie und Mariologie aus.
Die ausführlichsten Beschreibungen des Korans über Jesus beziehen sich auf den Anfang seines Lebens. Es sind die beiden erwähnten Kindheitserzählungen, die von der Ankündigung der Geburt Jesu und seiner Empfängnis in Maria handeln. Wie im Neuen Testament (Lukas 1–2) sind die Berichte in etwa parallel gestaltet zur Ankündigung Gottes an den Tempelpriester Zacharias, dass er einen Sohn Yahyā (den späteren „Johannes den Täufer“) bekommen werde, in den jeweils vorangehenden Versen beider Suren. Die mekkanische Kindheitserzählung Jesu findet sich in Sure 19. Von Sure 112 abgesehen ist es der älteste Text, der im Koran von Jesus handelt. Zugleich ist es der älteste Text, der im Koran von Maria handelt, so dass man durchaus mit Angelika Neuwirth sagen kann: „Jesu Geschichte ist im Koran von Anfang an in die Geschichte seiner Mutter eingebettet.“20 Durch die Voranstellung des Berichts über die wundersame Geburt des Johannes (Sure 19,1–15) wird von vornherein deutlich: Jesus ist – zumindest in der Darstellung im Koran – ein großartiger, vielleicht auch ein eigenartiger, sicher aber kein einzigartiger Mensch. Denn es steht jederzeit in Gottes Macht, auf wundersame Weise seine – im Prinzip gleichrangigen! – Propheten in die Welt zu senden. Dass Johannes nur der Vorläufer Jesu sei und mit der Geburt des letzteren eine neue heilsgeschichtliche Ära beginne, wie die Christen glauben, davon ist in Sure 19 nichts zu erkennen. Die mekkanische Kindheitserzählung lautet in ihrem ersten Teil, der von der Ankündigung und Empfängnis Jesu handelt, folgendermaßen:
16 Und gedenke im Buch der Maria. Da sie sich von ihren Leuten an einen Ort im Osten zurückzog 17 und sich vor ihnen abschirmte. Da sandten wir unseren Geist zu ihr. Der trat als Mensch, wohlgestaltet, vor sie hin. 18 Sie sprach: „Siehe, ich suche meine Zuflucht vor dir bei dem Erbarmer, sofern du gottesfürchtig bist.“ 19Er sprach: „Ich bin der Gesandte deines Herrn, um dir einen lauteren Knaben zu schenken!“21 20 Sie sprach: „Wie soll ich einen Knaben bekommen, da mich noch kein Mann berührt hat und ich auch keine Dirne bin?“ 21Er sprach: „So ist es.22 Dein Herr spricht: ‚Das ist für mich ein Leichtes.‘“ [Und du sollst einen Sohn haben,] auf dass wir ihn zu einem Zeichen machen für die Menschen und zu einer Barmherzigkeit von uns. Da wurde es beschlossene Sache. 22 Sie wurde mit ihm schwanger und zog sich mit ihm zurück an einen weit entfernten Ort.
Rätselhaft ist eingangs die Erwähnung eines „Ortes im Osten“ (arab. makān sharqī) sowie eines „Schirmes“ bzw. „Vorhangs“ (hidjāb), hinter den Maria sich zurückzieht. Viele Kommentatoren – etwa Ibn Kathīr, Yusuf Ali (gest. 1953) oder Muhammad Asad (gest. 1992) – verstehen unter jenem Ort eine im Osten des Jerusalemer Tempels gelegene Kammer, in die Maria sich zurückgezogen habe, um sich ungestört dem Gebet und der Meditation zu widmen. Dies kommt der Vermutung entgegen, dass es sich bei diesen seltsamen Bemerkungen im Koran um ein vages Anklingen an eine frühchristliche Überlieferung handeln könnte. Diese findet sich im Protevangelium des Jakobus, welches das reine und heilige Leben Marias beschreibt. Das Protevangelium, um 160 n. Chr. in Ägypten entstanden, ist zwar nicht in den Kanon des Neuen Testaments aufgenommen worden, doch von Anfang an sehr populär in der Christenheit gewesen, ganz besonders in den Ostkirchen. Es wurde von zentraler Bedeutung für die Ausbildung der Marienlehre (Mariologie). Diesem Evangelium zufolge wächst Maria im Tempel auf, „gehegt wie eine Taube und von eines Engels Hand genährt“. Die Jungfrau wird durch das Los erwählt, einen Vorhang für den Tempel anzufertigen, ehe sie dann die unerwartete Begegnung mit dem Engel hat.
Maria hat wie im Lukasevangelium auch in dieser koranischen Kindheitserzählung eine Vision: „Unser Geist“ (rūhanā) tritt an Maria heran. Damit kann nach allgemein muslimischer Auffassung nur der Engel Gabriel gemeint sein. In Lukas 1,26 wird der Engel, der Maria erscheint, ausdrücklich „Gabriel“ genannt. In frühchristlicher Überlieferung wird Gabriel seinerseits als „Engel des Geistes“ bezeichnet.23 Der Engel erscheint Maria offenbar in Gestalt eines schönen Mannes. Tabarī (gest. 923) vermutet, es sei die Gestalt Josefs, des Zimmermanns, gewesen. Zamakhsharī (gest. 1144) führt aus:
„Als sie (sc. Maria) nun an der Stelle war, an der sie sich zu reinigen pflegte, kam der Engel zu ihr als ein junger, bartloser Mensch mit reinem Antlitz, gelocktem Haar und ebenmäßgem Körperbau, ohne daß er als menschliche Erscheinung (sūra) einen Makel aufgewiesen hätte (…). Er stellte sich ihr in der Erscheinung eines Menschen dar, damit sie mit seiner Sprache vertraut sei und nicht vor ihm fliehen würde. Wäre er nämlich in der Erscheinung eines Engels bei ihr aufgetreten, wäre sie geflohen und hätte sich seine Sprache nicht anhören können.“24
Zum Vergleich: Der Bericht von der Ankündigung Jesu durch Gabriel nach Lukas 1,26–38 macht keine Angaben zur äußeren Gestalt des Engels. Im außerkanonischen Pseudo-Matthäusevangelium, das allerdings erst im 9. Jahrhundert verfasst wurde, erscheint Gabriel der Maria als schöner junger Mann (Kapitel 9). Maria, erschrocken über diese Erscheinung, reagiert Sure 19 zufolge mit einer Unheil abwehrenden Schutzformel: „Ich suche meine Zuflucht vor dir bei dem Erbarmer, sofern du gottesfürchtig bist.“ Indem Maria Zuflucht bei Gott sucht, stellt sie, so Zamakhsharī, ihre Gottesfurcht und Sittsamkeit unter Beweis. Daher könne sie zunächst dem Engel keinen Glauben schenken (Vers 20): „Wie soll ich einen Knaben bekommen, da mich noch kein Mann berührt hat und ich auch keine Dirne bin?“ Gemäß Lukas 1,26ff. reagiert Maria ebenfalls erschrocken, doch ohne eine Zufluchtsformel zu verwenden. Ihre Antwort auf die Verheißung des Engels lautet (Vers 34): „Wie soll das geschehen, da ich keinen Mann erkenne?“ Beim Vergleich beider Antworten fällt auf: Dem Lukas-Evangelium zufolge ist Marias Antwort von ihr selbst her gedacht. Nie würde sie sich eine solche Unsittlichkeit zuschulden lassen kommen. Gemäß dem Koran denkt Maria vom begehrenden Mann her, der sich an ihr vergehen könnte, und von sich selbst als verführbare Frau her. Sie bringt damit zum Ausdruck, dass bei sexuellen Vergehen die Initiative nicht immer nur bei einem der beiden Partner liegt, sondern beide ihren Teil dazu beitragen. Die Formulierung der Antwort Marias aus der Perspektive auch des Mannes veranlasst den rationalistischen Theologen Fakhr al-Dīn al-Rāzī (gest. 1209) bei der Auslegung von Vers 18 zu der Überlegung, Maria rechne bei der Schutzformel damit, dass ihr Besucher gottesfürchtig (taqī) sei und gar nicht beabsichtige, sich an ihr zu vergehen. Der Engel bezeichnet den Jungen, den Maria empfangen wird, als zakī („lauter, rein“). Tabarī versteht den Ausdruck selbstverständlich im Sinne der Sündlosigkeit Jesu, ein Aspekt, auf den wir im fünften Kapitel zurückkommen werden. Rāzī bietet in dieser Richtung gleich drei Auslegungsmöglichkeiten an: „1. Er (sc. der Jesusknabe) war rein von Sünden. 2. Er wuchs in Rechtschaffenheit auf. (…) 3. Er war makellos und rein in jeder Hinsicht, die erforderlich war für seine Eignung, als Prophet gesandt zu werden.“25
Höhepunkt der Begegnung zwischen Engel und Frau ist der Hinweis des Boten auf den göttlichen Beschluss. Den menschlichen Fragezeichen begegnet Gott mit einem Ausrufezeichen: „Das ist für mich ein Leichtes!“ Es ist exakt dieselbe Reaktion wie einige Verse zuvor beim Zweifel des Zacharias (Sure 19,8f.): „‚Mein Herr, wie soll ich einen Knaben bekommen, da meine Frau unfruchtbar und ich schon hochbetagt bin?‘ Er sprach: ‚So ist es. Dein Herr spricht: Das ist für mich ein Leichtes (…).‘“ Muhammad Asad schreibt dazu in seinem Kommentar: „In beiden Fällen ist die Implikation, daß Gott Geschehnisse herbeiführen kann und herbeiführt, die völlig unerwartet oder sogar unvorstellbar sein mögen, bevor sie geschehen.“26 In Vers 21 ist zum besseren Verständnis eine sinngemäße Wendung wie etwa „du sollst einen Sohn haben“ einzufügen, wie das viele muslimische Exegeten in Vergangenheit und Gegenwart tun, umso mehr, als der nächste Satz mit „auf dass“ weitergeht. Auch Paret ergänzt in Klammern: „Und (wir schenken ihn dir) damit wir ihn zu einem Zeichen für die Menschen machen (…).“
Zamakhsharī verweist bei der Auslegung der Worte: „Sie wurde mit ihm schwanger“ auf die Erklärung des Abd Allāh ibn Abbās (gest. 687), eines Vetters Muhammads, gerühmt als „der Vater der Koranauslegung“: So „fand Maria Beruhigung in den Worten des Engels, und so trat dieser nahe an sie heran und hauchte unter ihr Hemd, worauf der Hauch in ihren Leib gelangte und sie schwanger ward.“27 Von einem Hauchen des Engels ist in der mekkanischen Kindheitserzählung nicht die Rede. Doch an zwei anderen Stellen spricht der Koran ausdrücklich davon, dass Maria Jesus durch das Einhauchen (nafakha) des göttlichen Geistes empfangen habe (Sure 66,11f., ähnlich Sure 21,91): „Und Gott hat ein Gleichnis für die Gläubigen geprägt: (…) Und Maria, die Tochter von cImran, die ihre Scham hütete. Da bliesen wir von unserem Geist in sie, und sie glaubte an die Worte ihres Herrn und an seine Bücher. Und sie war eine der demütig Ergebenen.“ Rāzī führt aus, dass Gabriel Maria die Geburt Jesu angekündigt und ihr von seinem Atem eingeblasen habe. Nach Rāzī und etwa auch Tabarsī (gest. 1153) ist Gabriel Jesu ständiger Wegbegleiter in allen Situationen; der Engel werde schließlich auch bei seiner Aufnahme in den Himmel dabei sein. Im nochmaligen Vergleich mit Lukas 1,26–38 fällt auf: Der Koran unterscheidet nicht zwischen der Ankündigung der Geburt Jesu durch Gabriel und der Empfängnis Jesu. Offenbar sind beide Vorstellungen miteinander verschmolzen. Dieser Sachverhalt sowie die Beschreibung des „Geistes“ im Koran als „wohlgestalteter“ Mensch – genauer: Mann – hat einzelne rationalistische Kommentatoren wie etwa Rāzī, vor allem aber westliche Ausleger dazu gebracht, Gabriel mehr oder weniger direkt als den biologischen Erzeuger Jesu anzusehen.28 Dies ist freilich eine Deutung, die ganz sicher nicht die Intention des Korans trifft. Vor allem ist sie schwerlich mit der koranischen Schilderung Marias zu vereinbaren. Weshalb sollte sie Zuflucht zu Gott nehmen, um ihre Jungfräulichkeit zu bewahren, und sich dann doch auf Sex mit einem Engel einlassen, der lediglich ein Bote und kein himmlischer Samenspender ist? Das ist absurd. Die Koranexegeten spekulieren auch über die wundersame Dauer der Schwangerschaft Marias: ob nur eine einzige Stunde (!), so Ibn Abbās, oder sechs, sieben bzw. acht Monate …
Abschließend sei zu dieser Szene bemerkt: Das Motiv des doppelten sich Zurückziehens Marias (Verse 16 und 22) bildet eine Klammer um die Ankündigungsszene. Sie ist nicht geographisch, sondern theologisch zu verstehen: Maria zieht sich von ihren Mitmenschen vollständig zurück. Die wiederholte Erwähnung des Rückzugs betont einerseits Marias schlechthinnige Empfänglichkeit und andererseits Marias schlechthinnige Abhängigkeit von Gott. Nur so, fern von allen Menschen, fern von allen menschlichen Möglichkeiten – etwa einer zeugenden Mitwirkung – kann sie dem Engel begegnen, die Verheißung hören, Jesus jungfräulich empfangen und dann mit Gottes Hilfe zur Welt bringen. Maria hält sich nunmehr für die gesamte Zeit ihrer Schwangerschaft bis zur Geburt Jesu an einem „weit entfernten Ort“ (arab. makānan qasīyan) auf. Über ihn macht der Koran keine näheren Angaben. Auch von einer Reise der schwangeren Maria nach Bethlehem, wie die christliche Tradition sie erzählt, weiß der Koran nichts. Überhaupt kommen die Orte Nazareth oder Bethlehem nirgendwo im Koran vor. Möglicherweise klingt bei dem „weit entfernten Ort“ das Protevangelium des Jakobus an, wo es heißt (17,3): „Da hob Joseph Maria vom Esel herunter und fragte sie: ‚Wo soll ich dich hinbringen, und wie soll ich dich bei der Geburt schützen? Die Gegend ist so einsam.‘“
Weil Jesus nicht sexuell, sondern spirituell empfangen worden, weil er vom Engel-Geist Gabriel in Maria hineingehaucht worden sei (Sure 21,91; 66,12), hat er im Koran den passenden Titel „Geist von Gott“ (rūh min Allāh) erhalten. In Sure 4,171 heißt es: „Siehe, der Messias Jesus, Marias Sohn, ist der Gesandte Gottes und sein Wort, das er an Maria richtete, und ist Geist von ihm.“ Jesus verdankt sein Dasein ausschließlich einem göttlichen Schöpfungsakt, so wie Gott auch Adam bei dessen Erschaffung seinen Geist eingehaucht hat (Sure 15,29; 32,9; 38,72). Dem Koran zufolge ist das Einhauchen des göttlichen Geistes ein konstitutiver Bestandteil der Erschaffung jedes Menschen durch Gott.29 Der Geisttitel bringt daher nicht nur die jungfräuliche Empfängnis Jesu in Maria, sondern auch die Geschöpflichkeit des Menschen Jesus zum Ausdruck. Darüber hinaus heißt Jesus im Koran „Geist“, so die Kommentatoren, weil er mit dem „Geist der Heiligkeit“ (rūh al-qudus) von Gott begabt und gestärkt war, um seinen prophetischen Auftrag erfüllen zu können. Jesus heißt schließlich „Geist“, weil er in der Kraft des Heiligen Geistes als Gottes Gesandter gewirkt habe. Im Koran selbst wird Jesus zwar nur an dieser einen Stelle in Sure 4,171 „Geist von Gott“ genannt, doch in den folgenden Jahrhunderten wurde „Geist Gottes“ (rūh Allāh) im Volksislam zum beliebtesten Titel für Jesus. In zahllosen Legenden reden ihn die Menschen so an. Jesus symbolisiert in seiner Person Spiritualität, meinen insbesondere schiitische und sufische Ausleger. Sie sprechen gerne von der „Geistnatur“ (rūhānīya) Jesu.
Das Neue Testament berichtet zweimal von der Ankündigung der Geburt Jesu: einmal an Josef (Matthäus) und einmal an Maria (Lukas). Auch der Koran überliefert diese Szene doppelt, doch jeweils nur an Maria. Der zweite, etwa zehn Jahre jüngere Abschnitt über die Ankündigung der Geburt Jesu findet sich in der medinensischen Kindheitserzählung in Sure 3:
42 Damals, als die Engel sprachen: „Maria! Siehe, Gott hat dich auserwählt und rein gemacht – er erwählte dich vor allen Frauen in der Welt. 43 Maria, sei deinem Herrn demütig ergeben, wirf dich nieder, und neige dich mit den sich Neigenden!“ 44 Dies ist eine der verborgenen Geschichten – dir offenbaren wir sie. Du warst nicht bei ihnen, als sie ihre Stäbe30 warfen, wer nun von ihnen Pfleger für Maria sei! Du warst nicht bei ihnen, als sie sich darum stritten. 45 Damals, als die Engel sprachen: „Maria! Siehe, Gott verkündet dir ein Wort von sich. Sein Name sei ‚der Messias Jesus, Sohn der Maria‘. Er soll im Diesseits und im Jenseits angesehen sein und einer von den Nahestehenden 46 – zu den Menschen wird er sprechen in der Wiege und als reifer Mann – und einer von den Rechtschaffenen.“ 47 Sie sprach: „Mein Herr, wie soll ich denn ein Kind bekommen, wo mich kein menschliches Wesen je berührte?“ Er sprach: „So ist Gott. Er erschafft, was er will! Beschließt er eine Sache, so spricht er nur zu ihr: ‚Sei!‘ Und dann ist sie.“
Anders als in der mekkanischen Kindheitserzählung hat Maria in diesem Bericht keine Vision, sondern eine Audition. Auch ist hier nicht die Rede von einem einzelnen Gottesboten, den Sure 19,17 „Geist“ nennt, sondern von einer Mehrzahl offenbar unsichtbar bleibender Engel. Zwischen dieser medinensischen Kindheitserzählung und dem bereits erwähnten Protevangelium des Jakobus besteht eine große Nähe. Denn beide Texte rühmen zunächst die Reinheit und Besonderheit Marias, erwähnen sodann das Losen im Tempel um die ehrenvolle Aufgabe, Maria zu betreuen, und kommen schließlich auf die Ankündigung des Engels zu sprechen, wobei das Protevangelium erst von einer Audition Marias und dann von einer Vision spricht (Tabelle 1 im Anhang). Der Engel im Protevangelium kündigt an (Kap. 11,2): „Hab keine Angst, Maria, Gott hat dich gnädig auserwählt. Du wirst schwanger werden durch sein Wort.“ Eben auf dieses schöpferische göttliche Wort läuft auch die Erzählung in Sure 3 hinaus. Hier sagen die Engel: „Maria! Siehe, Gott verkündet dir ein Wort von sich. (…) So ist Gott. Er erschafft, was er will! Beschließt er eine Sache, so spricht er nur zu ihr: ‚Sei!‘ Und dann ist sie.“ Insofern Jesus allein kraft des schöpferischen Wortes Gottes und mittels des göttlichen Geistes – also ohne menschliche Mitwirkung – erschaffen wurde, gleicht er dem Koran zufolge Adam. Der Jesusbericht in Sure 3,42–64 gipfelt in dem ausdrücklichen Vergleich zwischen Jesus und Adam (Vers 59): „Siehe, vor Gott gleicht Jesus Adam. Aus Staub erschuf er ihn, dann sagte er zu ihm: ‚Sei!‘. Und dann war er.“ Dass Gott solo verbo, allein durch sein Wort, schöpferisch handelt, ist bereits in der jüdischen und christlichen Tradition eine selbstverständliche Glaubensauffassung, wie der Anfang der Bibel in Genesis (= 1 Mose) 1,1ff., Psalm 33,9 oder etwa der Prolog des Johannesevangeliums (1,1–3) zeigen. Jesus ist dem Koran zufolge mit Adam von allen übrigen Geschöpfen unterschieden. Sie sind die einzigen Menschen ohne irdischen Vater, wobei es, wie etwa Zamakhsharī erläutert, mit Adam eigentlich noch wundersamer zugegangen sei, insofern er nicht einmal eine irdische Mutter hatte. Adam und Jesus sind sozusagen die Folge oder das Ergebnis eines göttlichen Ratschlusses. Sie sind unmittelbar Geschöpfe des Wortes Gottes – wie die Schöpfung im Ganzen. Und wie diese nach koranischem Zeugnis voller Zeichen und Hinweise auf Gott ist, so ist Jesus sogar schon vor seiner Geburt ein auf Gottes Allmacht verweisendes Zeichen. Ahmad von Denffer erläutert:
„Die wundersame Zeugung und Geburt von Jesus ist zwar nicht alltäglich, aber kein Grund, in Jesus etwas Übermenschliches zu sehen, wie das ja mit ihm später geschehen ist. Vielmehr ist Jesus (…) ein Zeichen der Allmacht Allahs. Die wundersame Zeugung und Geburt von Jesus, von der im Koran ja ebenfalls berichtet wird, ist also nicht ein Hinweis auf die Besonderheit Jesu, sondern ein Hinweis auf die Besonderheit, die Einzigkeit Gottes“.31
Beide Ankündigungsgeschichten im Koran erzählen also letztlich vom Wirken des schöpferischen Wortes Gottes an und in Maria. Demgemäß lautet ein weiterer Würdetitel des Korans für Jesus in diesem Zusammenhang „Wort Gottes“ – genauer: ein „Wort von Gott“ (arab. kalimah min Allāh). An zwei Stellen wird Jesus explizit so genannt: in der oben zitierten Sure 3,45 sowie in Sure 4,171, wo es von ihm heißt, er sei „der Gesandte Gottes und sein Wort, das er an Maria richtete“. Ein dritter, impliziter Beleg für den „Wort Gottes“-Titel Jesu ist Sure 3,39, wo es über Johannes den Täufer (arab. Yahyā) an die Adresse des Zacharias, seines Vaters, heißt: „Da riefen ihm die Engel zu, als er im Tempel stand und betete: ‚Gott kündigt dir Johannes an, der wird ein Wort von Gott bestätigen und wird ein Herr sein und Asket – und Prophet, einer von den Rechtschaffenen.‘“ Die klassischen wie auch die zeitgenössischen muslimischen Kommentatoren verstehen die Wendung „ein Wort von Gott“ fraglos als Anspielung auf Jesus. Zur Rolle der Propheten im Koran zählt es, aufeinander zu verweisen und einander zu legitimieren. Johannes der Täufer wird später – bei der im Koran unerwähnt bleibenden Taufe Jesu – diesen als „Wort Gottes“ bestätigen, so wie Jesus seinerseits als Vorläufer für Muhammad fungiert und diesen ankündigt, wie wir im fünften Kapitel sehen werden.
Doch was heißt in diesem Zusammenhang „Wort Gottes“? Der Titel ist durchaus mehrdeutig im Koran. In seinem Kommentar zu Sure 3,45 führt Tabarī mehrere Deutungen an, deren erste er selbst favorisiert: kalimah beziehe sich auf die Botschaft des Engels an Maria. Jesus heiße also „Wort“, weil er Maria durch eine verbale Engelsbotschaft angekündigt wurde. Andere Exegeten meinen, Jesus werde „Wort“ genannt, weil er durch das göttliche „Sei!“ ins Dasein gerufen wurde. In ihm manifestiere sich Gottes allmächtiger Schöpferwille. Für diesen Sinn, den Tabarī als zweiten aufführt, plädiert Zamakhsharī, der erklärt: Jesus werde mit diesem Titel genannt, „weil er allein durch das Wort und den Befehl Gottes und nicht mittels eines Vaters und eines Spermas entstanden ist.“32 Es finden sich unter den Kommentatoren auch solche, die diesen Titel darauf beziehen, dass Jesus durch das Wort der Propheten vorhergesagt worden sei. Rāzī, der noch wesentlich mehr Deutungen als Tabarī aufführt, versteht Jesu Wort-Sein ebenso wie sein Geist-Sein auch in dem Sinne, dass er als Person die frohe Botschaft von Gottes Barmherzigkeit verkörpere. Ähnlich meint auch der Ägypter Sayyid Qutb (gest. 1966) in seinem vielbändigen Korankommentar zu Sure 3,45: „‚Messias‘ ist ein anderer Ausdruck für ‚Wort‘, doch in Wirklichkeit ist er (sc. Jesus) selbst das ‚Wort‘“.33
An diesem Punkt ist erneut Vorsicht bei der Interpretation geboten. Auch wenn Jesus im Koran geradezu als die Personifizierung des Schöpferwortes Gottes gilt, hat dieser Titel, der sich natürlich der christlichen Tradition verdankt, im Koran nichts zu tun mit dem kirchlichen Dogma von Christus als dem ewigen göttlichen Logos (gr. „Wort“) und den damit verbundenen trinitarischen Aussagen.34 Die koranischen Hoheitstitel für Jesus dürfen nicht christianisierend interpretiert werden, wie wir bereits bei der „Messias“-Prädikation sahen. Stets ist der konsequent theozentrische Sinn dieser Titel im Auge zu behalten. Die Pointe der Bezeichnung Jesu als „Wort“ und als „Geist“ Gottes im Koran besteht darin, seine unmittelbare Geschöpflichkeit zum Ausdruck zu bringen. Jesus verdankt sein Dasein direkt dem wundersamen Wirken des göttlichen Wortes und Geistes – nur insofern ist er selber Wort und Geist. Die Titel implizieren jedoch keine Teilhabe Jesu am göttlichen Sein selbst. Dies wird auch dadurch signalisiert, dass der Koran Jesus stets „(einen) Geist“ bzw. „(ein) Wort“ und nicht „den Geist“ oder „das Wort“ Gottes nennt. Das Insistieren auf dem Geschaffensein Jesu als des „Wortes“ rückt den Koran an diesem Punkt in die Nähe der auf den alexandrinischen Presbyter Arius (gest. 336) zurückgehenden Christologie. Arius zufolge war Jesus kein Gott, wohl aber das höchste Geschöpf Gottes. Wir werden später darauf zurückkommen. Zusammenfassend kann gesagt werden: Jesu Geschöpflichkeit ist ein unmittelbares Wunder Gottes. Seine irdische Vaterlosigkeit und Gottunmittelbarkeit wird durch die Ehrentitel „Geist von Gott“ und „Wort Gottes“ ausgedrückt. Diese Titel preisen jedoch die schöpferische Allmacht Gottes und zielen nicht auf Spekulationen über das Wesen Jesu ab.