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1. Einleitung
ОглавлениеInsgesamt neunzehn der 114 Suren des Korans nehmen auf Jesus Bezug. Er wird erwähnt in neun Suren, die in Mekka offenbart wurden, sowie in zehn Suren, die Muhammad (gest. 632) in Medina empfing. Der Textumfang beläuft sich auf gut 120 Verse, die fast über die gesamte Dauer der etwa zweiundzwanzigjährigen Wirksamkeit des Propheten verteilt sind. Die häufigsten Bezüge zu Jesus finden sich in der mittelmekkanischen Phase und in der medinensischen Zeit.1 Von den allerersten Anfängen abgesehen setzt Muhammad sich also fast durchgängig und in immer neuen Anläufen mit der Person Jesu auseinander. Gläubige Muslime würden es wohl etwas anders ausdrücken. Da für sie der Koran Gottes ewiges, direktes und unmittelbar gesprochenes Wort (arab. kalām Allāh) ist, das Muhammad lediglich übermittelt wurde sind die von Jesus handelnden Koranverse Offenbarungen Gottes selbst über Jesus. Sie besitzen damit für Muslime eine Qualität und Dignität, die nicht mehr übertroffen werden, kann und an der nicht zu zweifeln ist. Auch wenn die Bezugnahme des Korans auf Jesus, verglichen mit dem Zeugnis des Neuen Testaments, inhaltlich sehr lücken- und bruchstückhaft ausfällt, so kann man doch, wie das auch manche Muslime heutzutage tun, von einer eigenen Christologie oder besser noch Messianologie im Sinne eines Bekenntnisses des Korans zu Jesus als dem Messias (gr. christós, lat. christus) sprechen, will man das theologische Selbstverständnis des Korans ernstnehmen und nicht von vornherein verfehlen. Der Messiastitel war seit den Tagen des Christentums kein exklusiv jüdischer Titel mehr, und er ist seit der Verkündigung Muhammads auch kein exklusiv christlicher Terminus mehr. Alle drei monotheistischen Religionen haben sich desselben Titels bedient, doch damit durchaus Unterschiedliches gemeint, wie wir gleich im nächsten Kapitel sehen werden.
Ich werde die Jesus-Texte weder in chronologischer Reihenfolge gemäß dem Alter der Suren noch gemäß der Reihenfolge der Suren im Koran behandeln, sondern in einer systematisierten, am Lebenslauf Jesu orientierten Form. Bei der Auslegung der Texte werde ich, abgesehen von meinen eigenen exegetischen Einsichten, vor allem die Beobachtungen und Erkenntnisse der muslimischen Ausleger berücksichtigen. Eine Diskussion mit den Koraninterpretationen christlicher Theologen in Vergangenheit und Gegenwart ist hier nicht erneut beabsichtigt.2 Mit anderen Worten: Dieses Buch ist der Versuch einer Darstellung des Jesusbildes des Korans aus der Sicht der Muslime, nicht der Christen. Dass es freilich auch innerislamisch eine Vielfalt der Sichtweisen und Interpretationen gibt, versteht sich von selbst. Das werden die unterschiedlichen und sich widersprechenden Auslegungen klassischer und zeitgenössischer Korankommentatoren zur Genüge zeigen. Wenn soeben betont wurde, dass es mir um die Darstellung des koranischen Jesusbildes aus der Sicht der Muslime geht, so ist diese Absichtserklärung allerdings zu präzisieren. Mir geht es nämlich zuallererst und zuallermeist, mit den Mitteln der historisch-kritischen Koranauslegung, um die Darstellung der koranischen Jesus-Auffassung aus der Sicht des Korans selbst. In den fast 20 Jahren meiner Beschäftigung mit diesem Thema ist mir stets wichtig gewesen, genau zu unterscheiden zwischen den Aussagen des Korans selbst und den späteren dogmatischen Lehren muslimischer Exegeten über Jesus, die oft weit über den Koran hinausgehen. Gemäß eines zentralen Prinzips der Koranauslegung, wie es etwa Ibn Kathīr (gest. 1373) zu Beginn seines Kommentars darlegt, nämlich dass der Koran sich selbst auslegt (arab. tafsīr al-qur’ān bi-l-qur’ān), werden noch vor den muslimischen Kommentaren die innerkoranischen Deutungsangebote in Gestalt von Parallelstellen und dergleichen mehr herangezogen. Dabei bleibe ich mir bewusst, dass was für das Verstehen des Korans im Ganzen gilt, auch für die Darstellung seiner Jesus-Auffassung gilt: Es gibt eindeutige und mehrdeutige Verse über Jesus. Alles Verstehen steht unter einem letzten Vorbehalt: Den Koran vermag letztlich, wie Sure 3,7 sagt, niemand außer Gott richtig zu deuten (māyaclamu ta’wīlahu illā-Llāh). Die folgende Darstellung der Aussagen des Korans über Jesus bleibt auch in ihrer Neufassung eine subjektive Interpretation ohne den Anspruch auf ein letztgültiges, stets korrektes Verständnis des Korans, und auch ohne die Anmaßung, die Muslime belehren zu wollen.
Ein weiteres wichtiges Werkzeug zur Deutung der koranischen Jesus-Texte ist der Verweis auf mögliche Analogien, Parallelen oder Kontraste zu einzelnen Motiven, Namen und erzählerischen Details in der vorislamischen jüdisch-christlichen Tradition. Ohne Zweifel steht der Koran in einem engen traditionsgeschichtlichen Zusammenhang nicht allein mit der jüdischen Überlieferung (Tora und Talmud), sondern auch mit der urchristlichen Überlieferung. Mit letzterer ist weit mehr als nur das Neue Testament gemeint; vielmehr auch das gesamte außerkanonische Überlieferungsgut, welches freilich nur teilweise erhalten geblieben und uns Heutigen bekannt ist. Was die Frage nach möglichen schriftlichen Quellen betrifft, denen Muhammad bzw. der Koran sich verdankt, ist festzuhalten: Das Vorhandensein einer arabischen Übersetzung der Bibel oder auch nur des Neuen Testaments in vorislamischer Zeit ist bis heute unbewiesen. „Vielmehr sind Fragmente einer Bibelübersetzung erst aus dem 9. Jahrhundert bekannt“, konstatiert Bertold Spuler.3 In spezieller Hinsicht auf die Frage nach einer vorislamischen Evangelienübersetzung hat Sidney Griffith dieses Urteil bekräftigt: „Vor dem neunten Jahrhundert waren keine Texte der Evangelien verfügbar, weder Muslimen noch Christen. Erstmals wurden sie verfügbar, sowohl für liturgische wie für apologetische Zwecke, im neunten Jahrhundert, in Palästina, unter der Schirmherrschaft der Melkiten.“4 Man hat folglich davon auszugehen, dass der Koran höchstwahrscheinlich das erste arabische Buch überhaupt darstellt. Die bislang ältesten und zugleich sicher datierten, vollständigen Koran-Kodizes stammen ebenfalls aus dem 9. Jahrhundert. Einzelne Koranfragmente stammen sogar bereits aus dem frühen 8. Jahrhundert. Daher kann von einer direkten literarischen Abhängigkeit des Korans von christlicharabischen Texten keine Rede sein. Es überrascht also nicht, dass es kaum wörtliche Bibelzitate im Koran gibt, allenfalls einzelne Formulierungen oder typische Redewendungen.
Insgesamt darf in der Forschung bezüglich der Vermittlung jüdischer und christlicher Inhalte folgende Einschätzung des Orientalisten Carl Heinrich Becker (gest. 1933) noch immer als gesichert gelten: „Bewußt auseinandergesetzt hat sich Muhammed nur mit Juden- und Christentum, die ihm ihren allgemeinsten Gedanken nach bekannt waren. Ein neu- oder alttestamentliches Buch hat er nie gelesen; vielmehr zeigen alle seine Erwähnungen, daß er nur aus Hörensagen schöpfte.“5 Diese älteren Vermutungen hat die neuere Forschung erhärtet. Rudi Paret (gest. 1983) etwa stellt fest: „Mohammed hat wohl jüdisches und christliches Gedankengut und damit auch Teile jener nichtarabischen Schriften (sc. der Juden und Christen Arabiens) kennengelernt. Aber die Übermittlung erfolgte ausschließlich durch mündliche Überlieferung.“6 Es ist also davon auszugehen und wird von mir für die folgende Darstellung des koranischen Jesus historisch vorausgesetzt: Wie archäologische Funde beweisen, war das Christentum zur Zeit Muhammads im gesamten Raum der arabischen Halbinsel verbreitet. Muhammad hat auf seinen Karawanenzügen nach Syrien sowie im Großraum von Mekka und Medina mit dort lebenden oder durchreisenden Christen Kontakte gehabt und ist von diesen über Inhalte der Bibel, insbesondere der Evangelien, und des christlichen Glaubens informiert worden. Das gibt auch der Koran selbst etwa in Sure 16,103; 25,4f. zu erkennen. Muhammads christliche „Quelle“, die ausschließlich mündlicher Art war, bestand vorwiegend in der lebendigen Volksfrömmigkeit der orientalischen Christen jedweder Zugehörigkeit. Unter ihnen gab es Nestorianer (Assyrer) und Miaphysiten (z.B. Kopten, Jakobiten), deren Frömmigkeit sich aus der apokryphen Evangelientradition, insbesondere den diversen Kindheitsevangelien speiste. Die für die Entstehung des Islams wichtigste Gruppe aber waren die arabischen Judenchristen, die seit Jahrhunderten von der Römisch-Byzantinischen Kirche unterdrückt und verfolgt wurden. Wie groß die Nähe zwischen dem entstehenden Islam und dem Judenchristentum ist, zeigt sich an keinem Punkt so deutlich wie bei ihrem sehr ähnlichen Verständnis der Gestalt Jesu, wie wir sehen werden. Neben der Existenz diverser arabisch-judenchristlicher Gruppen zur Zeit Muhammads, die zuletzt Carsten Colpe (gest. 2009) nachgewiesen hat, verrät bereits die Sprache des Korans den besonderen Zusammenhang zwischen dem Judenchristentum und dem Islam.7 Wenn dieser von den Christen spricht, folgt er nämlich nicht heidenchristlicher, sondern judenchristlicher Terminologie. Die Bezeichnung „Christen“ (gr. christianoí) kam erstmals im Kontext des sog. „Heidenchristentums“ auf, wie es in der Apostelgeschichte des Lukas beschrieben wird (11,26). Dagegen bezeichneten sich die vor allem im heutigen Syrien verbreiteten Judenchristen als „Nazarener“ bzw. „Nazoräer“ (gr. nazoraíoi). Sie benannten sich selbst nach Jesus, dem Nazoräer, der so hieß, weil er aus der Stadt Nazareth stammte (Apostelgeschichte 24,5). Ihr Evangelium, welches das einflussreichste der insgesamt drei judenchristlichen Evangelien wurde, war das „Nazoräerevangelium“, das zwischen 100 und 150 entstanden ist. Das arabische Äquivalent zum heidenchristlichen Begriff der Christen ist al-masīhīīn („die Christusanhänger“), doch kommt dieser Begriff nirgends im Koran vor. Hier heißen die Christen vielmehr gemäß judenchristlicher Ausdrucksweise „die Nazarener“ bzw. „die Nazoräer“ (arab. al-nasārā), vermutlich ein Lehnwort aus dem Syrischen (Nōsrōyō). Auch wenn viel später im klassischen Hocharabisch der Abbasidenzeit das Wort nasārā allgemein „Christen“ bedeutet, so meinte es doch ursprünglich allein die Judenchristen, die der Koran bzw. Muhammad offenbar noch vor Augen hatte.
Neben der Volksfrömmigkeit der orientalischen Christen war sicherlich die christliche Liturgie eine mündliche „Quelle“ Muhammads. Es ist recht wahrscheinlich, dass er – schon auf seinen Reisen als Kaufmann – da und dort christliche Gottesdienste besucht hat, in denen in altsyrischer bzw. syro-aramäischer Sprache aus dem Psalter und den Evangelien rezitiert bzw. gesungen wurde. Dies legen liturgische Einflüsse, wie Erwin Gräf gezeigt hat, sowie die zahlreichen theologischen Termini des Korans, die eindeutig syrisch-aramäischer Herkunft sind, nahe. Doch was heißt hier: aus „den Evangelien“ vorgetragen? Muhammad könnte auch Gemeinden oder einzelne Christen kennengelernt haben, die nur ein einziges Evangelienbuch kannten und anerkannten. Schon in meiner Dissertation (2000) hatte ich zu bedenken gegeben – und ich gehe weiterhin davon aus –, dass Muhammad in den Gottesdiensten bzw. bei seinen Kontakten mit Christen Nachrichten über Jesus in Gestalt einer Evangelienharmonie erhielt, die von Tatian (gest. ca. 180–190) wohl in syrischer Sprache verfasst wurde. Bei einer Evangelienharmonie handelt es sich darum, aus mehreren vorhandenen, das Wirken Jesu beschreibenden Evangelien eine einzige zusammenhängende Jesus-Geschichte zu erstellen, mit der Absicht, Ungereimtheiten und Widersprüche zwischen den verschiedenen Evangelienversionen zu glätten, also zu „harmonisieren“. Tatians Evangelienharmonie war historisch wohl die erste ihrer Art und zugleich die bis heute wichtigste.8 Muhammads Kenntnisse über Jesus könnten sich neben der erwähnten mündlichen, stark außerkanonisch geprägten Überlieferung auch dieser Evangelienharmonie Tatians verdanken. Dafür sprechen mindestens fünf Anhaltspunkte:
1. Die Evangelienharmonie besaß im syrisch-arabischen Raum rund drei Jahrhunderte lang einen dominanten Einfluss. Bis mindestens in die Mitte des 5. Jahrhunderts hinein war sie in der syrischen Kirche das ausschließlich oder zumeist gebrauchte Evangelium.
2. Die Harmonie stand nicht allein im gottesdienstlich-liturgischen, sondern auch im theologischen Gebrauch, wie etwa im 4. Jahrhundert Aphrahats Homilien oder Ephrems Kommentar zeigen.
3. Die Harmonie blieb jedoch auch nach ihrer allmählichen Verdrängung durch die kanonischen Evangelien im Gebrauch. Sogar nach Aufkommen des Islams entstanden immer neue Übersetzungen der Harmonie, etwa ins Arabische (9./10. Jahrhundert) und ins Persische.
4. Exegetische Einzelbeobachtungen sprechen dafür, z.B. dass der Koran stets singularisch von al-indjīl, „dem Evangelium“ Jesu spricht. Dass es seit jeher eine Vielzahl kanonischer und außerkanonischer Evangelien gegeben hat, ist dem Koran unbekannt.
5. Offenkundig judenchristliche Anklänge der koranischen Jesus-Passagen werden durch die Annahme, dass Muhammad die Evangelienharmonie teilweise kannte, besser verständlich. Denn Tatians Werk bestand ursprünglich wohl nicht allein aus den vier später kanonisierten Evangelien (Matthäus, Markus, Lukas, Johannes – weshalb man die Harmonie oft „Diatessaron“ nennt), sondern auch aus dem später nicht kanonisierten Nazaräerevangelium syrischer Judenchristen, so dass die Harmonie auch „Diapente“ genannt wird.9
Wie immer man darüber urteilen mag, ob Muhammad von Tatians Evangelienharmonie Kenntnis hatte oder nicht, er hat sich jedenfalls ganz selbstverständlich auf die damals bekannte jüdisch-christliche Erzähl- und Glaubenstradition bezogen. Sie gehörte gleichsam zum allgemeinen Bildungsgut. Dieses selbstverständliche Anknüpfen an die monotheistische Überlieferung lässt schon der Koran selbst mehrfach erkennen. „So frage doch die Kinder Israels“, wird Muhammad in Sure 17,101 aufgefordert, als er mehr über die Wunder Moses wissen wollte. Wenig später, in der letzten Phase seiner Wirksamkeit in Mekka, sagt Gott in Sure 10,94 zu Muhammad: „Bist du im Zweifel über das, was wir zu dir herniedersandten, dann frag[e] doch die, die schon vor dir das Buch vorgetragen haben.“ Nicht nur an Muhammad, sondern an die Adresse aller Muslime ergeht dann noch einmal dieselbe Aufforderung Gottes in Sure 16,43f.: „Vor dir sandten wir nur solche Männer, denen wir offenbarten. So fragt doch die ‚Leute der Mahnung‘, wenn ihr kein Wissen habt – mit den Beweisen und Büchern.“ Mit den „Leuten der Mahnung“ (arab. ahl al-dhikr) sind den Kommentaren zufolge die Juden und Christen gemeint, die sog. „Besitzer eines göttlichen Offenbarungsbuches“ (arab. ahl al-kitāb). Zu ihnen zählen nun auch die Muslime, da sie durch Muhammad ebenfalls eine göttliche Offenbarung empfangen haben – den „arabischen Koran“ (z.B. Sure 12,2; 41,3; 46,12). Muhammad geht also – sozusagen auf ausdrückliche Anweisung Gottes hin – von ihm vorangehenden Offenbarungen aus. Der Koran steht in einer selbstverständlichen und zugleich kritischen Kontinuität monotheistischer Überlieferungstradition. Ebenso selbstverständlich und zugleich kritisch stellt später die islamische Koranexegese (arab. tafsīr) die Frage nach dem Verhältnis von Originalität und Kontinuität, oder, anders ausgedrückt, von Koran und vorislamischer Gottesoffenbarung. Bemühungen der Kommentatoren, Aussagen des Korans im Allgemeinen und solche über Abraham, Mose, Jesus usw. im Besonderen gegebenenfalls aus der jüdisch-christlichen Tradition (arab. Isrā’īlīyāt) herzuleiten und sich deshalb in später dann verfügbaren arabischen Bibelübersetzungen kundig zu machen, waren im Prinzip durch die zitierten Koranverse legitimiert. Nicht erst christliche Apologeten, sondern bereits muslimische Korangelehrte – unter ihnen allerdings nicht wenige christliche Konvertiten! – verweisen auf vergleichbare Worte Jesu und christologische Motive in der christlichen Tradition. Auch ich werde in meiner Darstellung des koranischen Jesus auf diese traditionsgeschichtlichen Zusammenhänge hinweisen und die Jesus-Aussagen des Korans mit denen der neutestamentlichen sowie der außerkanonischen Evangelien über Jesus vergleichen.
Abschließend sei betont: Die Kontinuität monotheistischer Überlieferungstradition impliziert nicht notwendigerweise die Annahme einer direkten literarischen Abhängigkeit des Korans von christlichen Texten. Diverse Theorien von einem „Ur-Koran“ vorislamischer heterodoxer arabischer (Juden-) Christen wurden immer wieder von einzelnen christlich-westlichen Forschern wie Anton Baumstark (gest. 1948), Günter Lüling, John Wansbrough (gest. 2002) und neuerdings etwa von Christoph Luxenberg oder Karl-Heinz Ohlig aufgestellt. Solche Behauptungen haben sich – auch wenn sie bei einzelnen Koranpassagen durchaus plausibel sein können (s. Exkurs 2) – in der Koran- und Islamwissenschaft bislang nicht als mehrheitsfähig erweisen können. Und das umso weniger, als sie mit der gefährlichen Tendenz einhergehen, einen direkt christlichen Ursprung – letztlich: eine Christianisierung – des Islams im Ganzen zu postulieren, Spekulationen, die bereits nach dem Ersten Weltkrieg unter christlichen Orientalisten wie Rudolph, Bell, Andrae oder Ahrens eine Zeitlang kursierten. Auch wenn der Koran dem Philologen und Historiker selbstverständlich eine gewisse Verbundenheit zeigt mit jüdischen, judenchristlichen, orientalisch-christlichen, gnostisch-christlichen manichäischen und sonstigen Termini und Traditionen: Der Koran bleibt meiner Auffassung nach gleichwohl ein inspiriertes, schöpferische Originalität aufweisendes Werk, das primär aus sich selbst heraus verstanden werden muss. Wo das im Prinzip in Zweifel gezogen wird, verflüchtigt sich nicht nur der Koran als literarische Komposition, sondern auch die dahinterstehende historische Gestalt Muhammads in den Bereich von Fälschung und Fiktion. Meines Erachtens besteht weder an der Historizität Muhammads sowie der Authentizität seines Prophetentums noch an seiner wie auch immer verstandenen Mitwirkung bei der Entstehung des Korans – sei es als dessen Autor, als Übermittler einer göttlichen Offenbarung oder als Katalysator und Formgeber im Dialog mit der muslimischen Hörergemeinde – ein seriöser Zweifel, und zwar trotz seiner „Abhängigkeit“ von mündlichen „Quellen“. In dem Bewusstsein, von Gott berufen zu sein, hat Muhammad seine Schlüsselerfahrungen mit Gott als dem barmherzigen Schöpfer, Erhalter und Richter der Menschen mit Hilfe des ihm zu Ohren gekommenen Erzähl- und Lehrguts älterer Glaubenstraditionen nach eigenen theologischen Maßstäben formuliert und seinen Zeitgenossen vorgetragen. Muhammad „hat von vielen gelernt und ist immer er selbst geblieben“.10 Er ist christlicherseits jahrhundertelang als Häretiker, Heuchler und Gotteslästerer verunglimpft worden. Es ist an der Zeit, seine Person und sein Werk zu würdigen. Und solche Würdigung beginnt damit, den Koran ernst zu nehmen, der nicht nur (für gläubige Muslime) das Wort Gottes, sondern eben auch das Wort des Propheten darstellt. In der Tat kann „an der Echtheit des prophetischen Erlebens von Mohammed nicht gezweifelt werden“.11 Mithin dürfen weder Muhammad noch der Koran ins Schlepptau christlicher Wirkungsgeschichte genommen werden. Der Koran ist kein Palimpsest eines christlichen Urtextes. Der Islam ist keine christliche Sekte und auch keine arabische Variante der Kirchengeschichte. Genauso wenig wie das Judentum der Prolog des Christentums ist, ist der Islam dessen Epilog. Trotz aller wechselseitigen Abhängigkeiten und Querverbindungen handelt es sich um drei eigenständige Religionen sowie Heilige Schriften. Mögliche Nachweise von „Abhängigkeiten“ des Korans bzw. Muhammads von welcher Tradition auch immer besagen noch nichts über Wesen, Wert und Wahrheit des Islams. Die Berliner Korangelehrte Angelika Neuwirth hat völlig Recht mit ihrer Forderung: „Es gilt, die Blickrichtung auf den Koran entscheidend neu einzustellen, ihn als ein genuines und historisch dokumentierbares Zeugnis der Entstehung einer neuen Religion anzuerkennen, wenn die dritte heilige Schrift des Monotheismus endlich auf Augenhöhe mit den anderen gestellt werden soll.“12
1 Bei der Datierung der Suren folge ich weiterhin der Chronologie von Nöldeke/Schwally, Geschichte des Qorāns, Leipzig 1909. In chronologischer Anordnung ergibt sich folgende Reihenfolge der koranischen Jesus-Verse: Mekka: Sure 112,3f.; 19,16–37.88–93; 43,57–65.81–83; 23,50; 21,25–29.91(92f.?); 17,111; 42,13; 10,68; 6,85. – Medina: 2,87.116f.136 253; 3,36.39.42–64. (79f.?).84; 61,6.14; 57,27; 4,156–159.163.171f.; 33,7f.; 48,29; 66,12; 9,30–32; 5,17.46f. 72–79.109–120.
2 Zur Rezeption des koranischen Jesusbildes durch die christliche Theologie sei verwiesen auf meine – längst vergriffene – Dissertation: Jesus – Stein des Anstoßes. Die Christologie des Korans und die deutschsprachige Theologie, Köln/Weimar/Wien 2000.
3 Bertold Spuler: Arabisch-christliche Literatur, in: Theologische Realenzyklopädie (TRE) Bd. 3, 1978, S. 578.
4 Sidney Griffith: The Gospel in Arabic. An Inquiry into its Appearance in the First Abbasid Century, in: OC 69, 1985, S. 128; vgl. S. 133f. und S. 166f.
5 Carl Heinrich Becker: Christentum und Islam: Islamstudien, Bd. 1, Leipzig 1924, S. 391. Ebenso urteilt Tor Andrae: Der Ursprung des Islams und das Christentum, Uppsala 1926, S. 140.
6 Rudi Paret: Mohammed und der Koran. Geschichte und Verkündigung des arabischen Propheten, Stuttgart u.a. 7. Auflage 1991, S. 92. Vgl. auch Kurt Rudolph: Jesus nach dem Koran, in: Trilling/Berndt (Hg.), Was haltet ihr von Jesus? Beiträge zum Gespräch über Jesus von Nazaret, Leipzig 1976, S. 265f. sowie Watt in: Ders./Welch, Der Islam, Bd. 1, Stuttgart u.a. 1980, S. 76.
7 Vgl. neben Colpe bes. die Arbeiten von Fr. de Blois, J. Dorra-Haddad, A. v. Harnack, M.P. Roncaglia, H.J. Schoeps und M. Werner im Literaturverzeichnis.
8 Vgl. z.B. Baarda, Essays on the Diatessaron, Kampen 1994; Bertrand, L’Évangile des Ébionites. Une harmonie évangelique antérieure au Diatessaron, in: New Testament Studies 26, 1980, S. 548–563; Boismard, Le Diatessaron: De Tatian à Justin, Paris 1992; Elze, Tatian und seine Theologie, Göttingen 1960; Peters, Das Diatessaron Tatians. Seine Überlieferung und sein Nachwirken im Morgen- und Abendland sowie der heutige Stand seiner Überlieferung, Rom 1939. Die gesamte Forschungsgeschichte zum Diatessaron bietet Petersen, Tatian’s Diatessaron. Its Creation, Dissemination, Significance, and History in Scholarship, Leiden/New York/Köln 1994.
9 Dass Tatian nicht vier, sondern wohl fünf Evangelien harmonisierte, hatten bereits 1641 Hugo Grotius und nach ihm Johann Christian Zahn (gest. 1818) vermutet. Seit den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts bemühten sich zahlreiche Forscher, diese Vermutungen im Blick auf eine fünfte Quelle Tatians weiter zu erhärten (z.B. Baumstark, Peters, Quispel). Ihnen zufolge kann man sogar sagen, dass diese fünfte Quelle für Tatian „die erste Quelle war, der stets an erster Stelle zu berücksichtigende, leitende Text, in dessen Rahmen er das Material seiner vier kanonischen Quellen hineinarbeitete“ (Curt Peters, Das Diatessaron Tatians, a.a.O. S. 200). Mithin spricht man statt vom Diatessaron auch vom Diapente Tatians, was sich zusätzlich dadurch rechtfertigt, dass schon der erste Zeuge für die Existenz dieser Evangelienharmonie im Westen, der im 6. Jahrhundert lebende Victor von Capua, diese Harmonie Diapente nennt (vgl. Petersen, Tatian’s Diatessaron, a.a.O. S. 43–51).
10 Tor Andrae, Der Ursprung des Islams und das Christentum, a.a.O. S. 205. Damit folge ich der deutlichen Mehrheitsauffassung der Muhammadforschung. Vgl. Kronholm, Dependence and Prophetic Originality in the Koran, in: Orientalia Suecana 31/32, 1982/1983, bes. S. 60f.
11 Hartmut Bobzin, Mohammed, München 4. Auflage 2011, S. 78.
12 Der Koran als Text der Spätantike, Berlin 2010, S. 119.