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4. Der Sohn Marias

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Im Koran gibt es so wie im Neuen Testament nur eine direkte Schilderung der Geburt Jesu. Auf die Ankündigung der Geburt Jesu an Josef hin konstatiert Matthäus lediglich noch die Geburt Jesu. Die medinensische Kindheitserzählung, die wir zuletzt betrachtet haben, lässt der Ankündigung durch die Engel eine Rede bereits des erwachsenen Jesus folgen (Sure 3,49ff.). Nur die bekannte Weihnachtsgeschichte nach Lukas 2 sowie die mekkanische Kindheitserzählung des Korans beschreiben auch direkt die Geburt Jesu. Wenden wir uns nun wieder der Schilderung in Sure 19 zu. Wir waren an der Stelle stehengeblieben, wo nach der Empfängnis von Marias Rückzug „an einen weit entfernten Ort“ die Rede war:

23 Da überkamen sie am Stamm der Palme Wehen. Sie sprach: „Wehe mir! Wär[e] ich doch vorher schon gestorben und ganz und gar vergessen!“ 24 Da rief er ihr sogleich nach ihrer Niederkunft zu41: „Bekümmere dich nicht! Dein Herr hat unter dir ein Bächlein fließen lassen. 25 Rüttle am Stamm der Palme – hin zu dir, damit sie frische Früchte auf dich herunterfallen lässt. 26 Dann iss und trink, und sei guten Mutes! Wenn du dann irgendeinen Menschen siehst, so sprich: ‚Siehe, ich habe dem Erbarmer ein Fasten gelobt; daher kann ich heute zu keinem Menschen sprechen!‘“ – 27 Dann kam sie mit ihm, ihn tragend, zu den Ihren. Sie sprachen: „Maria, da hast du etwas Unerhörtes getan! 28 Schwester Aarons, dein Vater war doch kein unzüchtiger Mann und deine Mutter keine Dirne.“ 29 Da deutete sie auf ihn. Sie sprachen: „Wie sollen wir zu einem sprechen, der noch ein Kind in der Wiege ist?“ 30Er (sc. der Jesusknabe) sprach: „Ich bin der Knecht Gottes! Er gab mir das Buch und machte mich zum Propheten. 31Er verlieh mir Segen, wo immer ich auch war, und trug mir das Gebet und die Armensteuer auf, solange ich am Leben bin. 32 Und Ehrerbietung gegen meine Mutter! Er machte mich zu keinem elenden Gewaltmensch! 33 Und Friede [sei] über mir am Tag, da ich geboren wurde, und am Tag, an dem ich sterben werde, und an dem Tag, da ich zum Leben auferweckt werde!“ – 34 Das ist Jesus, Marias Sohn – um die Wahrheit zu sagen, über die sie im Zweifel sind.42

Die koranische Version der Weihnachtsgeschichte spielte in der jungen muslimischen Gemeinde eine wichtige Rolle. Als Muhammad als Prophet öffentlich auftrat (ab ca. 611/612), gewann er rasch zahlreiche Anhänger, die seiner Aufforderung zur Hingabe allein an den Einen Gott und zu einer entsprechenden moralischen Lebensführung folgten. Als Muhammad sich jedoch gegen den Götzenkult im Heiligtum der Kaaba wandte und damit die wirtschaftlichen Interessen des Establishments zu bedrohen begann, wurden die Muslime zunehmend bedrängt und isoliert. So wanderte (ca. 615) eine Schar von Anhängern aus und suchte im christlichen Abessinien (heute: Äthiopien) Zuflucht. Der dortige Negus („König“) fragte die Asylsuchenden nach ihrer Religion. Als Probe ihrer Offenbarungen rezitierte einer von ihnen Sure 19 bis zur eben zitierten Kindheitserzählung. Ibn Ishāq schildert in seiner Biographie des Propheten Muhammad die Reaktion des Negus folgendermaßen:

„(…) und wahrlich, der Negus weinte, bis sein Bart feucht war. Und auch seine Bischöfe weinten, bis Tränen ihre Heiligen Schriften benetzten. Dann wandte sich der Negus an die beiden Abgesandten der (sc. feindlichen) Mekkaner (sc. welche die abtrünnigen Auswanderer zurückholen wollten) und sprach: ‚Diese Offenbarung und die Offenbarung Jesu kommen aus derselben Nische.‘“43

So hatten es die asylsuchenden Muslime der koranischen Weihnachtsgeschichte zu verdanken, dass der Negus sie nicht an ihre mekkanischen Feinde auslieferte, sondern ihnen weiterhin und dauerhaft Zuflucht in seinem Land gewährte. Vergleichen wir nun die Geburtsgeschichte mit der christlichen Tradition (Tabelle 2 im Anhang).

(1) Ein schnell auffallender Unterschied sei gleich zu Beginn genannt und wiederholt: Josef begegnet nirgendwo in der koranischen Weihnachtsgeschichte, auch sonst nirgends im Koran, wohingegen Maria umso enger mit Jesus verbunden ist. Sie ist ein integraler Bestandteil der Messianologie des Korans, wie schon zwei Namen Jesu erkennen lassen. Die häufigste Bezeichnung des Korans für Jesus (insgesamt 33 Mal) ist nämlich das absolut gebrauchte „Sohn Marias“ (Ibn Maryam). Bis heute weiß fast jeder in der islamischen Welt Aufgewachsene, wer mit dem Mariensohn gemeint ist, auch wenn man seinen Vornamen gar nicht nennt. Als Zuname in Verbindung mit dem Vornamen (Īsā ibn Maryam) wird Jesus 16 Mal im Koran genannt. Dies ist durchaus überraschend, denn im Neuen Testament wird Jesus nur an einer einzigen Stelle „Sohn Marias“ genannt (Markus 6,3). An allen übrigen Stellen wird Jesus gemäß dem patrilinearen Abstammungsprinzip der „Sohn Josephs“ (Lukas 3,23; 4,22; Johannes 1,45; 6,42) bzw. der „Sohn des Zimmermanns“ (Matthäus 13,55) genannt. Die beiden Stammbäume Jesu im Neuen Testament enden (Matthäus 1,1–17) bzw. beginnen (Lukas 3,23–38) ausdrücklich mit Josef. Ihnen zufolge gehört Jesus als „Sohn Davids“ zum Stamm Juda. Hingegen begegnet der Mariensohntitel häufig in den außerkanonischen Evangelien: allein 15 Mal im Syrischen und viermal im Arabischen Kindheitsevangelium. Wahrscheinlich stammt dieser Titel Jesu, der in der eigentlichen mekkanischen Kindheitserzählung (Sure 19,16–33) nirgends auftaucht, ursprünglich aus Abessinien und wurde von den muslimischen Exilanten bei ihrer Rückkehr mitgebracht, wie dann der spätere Zusatz Sure 19,34 dokumentiert: „Das ist Jesus, Marias Sohn – um die Wahrheit zu sagen, über die sie im Zweifel sind.“ Wie bereits die außerkanonische christliche Tradition seit dem 2. Jahrhundert definiert auch der Koran Jesu Abstammung nicht länger patrilinear, sondern matrilinear. Jesus gehört also dem Koran zufolge über Maria, die aus dem Geschlecht Aarons stammt, zum jüdischen Stamm Levi und nicht zum Stamm Juda. Nicht zufällig begegnet später in Sure 3,33f. die Andeutung eines Stammbaumes Marias: Adam – Noah – Abraham – Imran (Amram).

(2) Beim Vergleich der beiden Weihnachtsgeschichten fällt sodann der unterschiedliche Geburtsort Jesu auf. Schon innerhalb der christlichen Tradition gibt es darüber keine Übereinstimmung. Nach Lukas 2,7 wird Jesus in einem Stall geboren, nach Matthäus 2,11 in einem Haus (gr. oikía), und gemäß der Schilderung des Protevangelium des Jakobus wird Jesus sogar in einer Höhle inmitten einer einsamen Gegend geboren (18,1). Diese letzte Angabe kommt der koranischen Kulisse am nächsten. Denn Sure 19,22f. zufolge bringt Maria Jesus gleichsam im Niemandsland zur Welt, offenbar in der Wüste, unter freiem Himmel, völlig einsam und auf sich allein gestellt. Fernab von Menschen und Tieren, fernab jeglicher Idylle einer „heiligen Familie“ muss Maria unter ungünstigsten Bedingungen ihren Sohn zur Welt bringen: obdachlos, schutzlos, hilflos – das Schlimmste was einer werdenden Mutter passieren kann. Da ist lediglich eine Palme, die ihr Halt und Schatten spendet. Die Palme mag hier einerseits als das Symbol einer axis mundi, einer Verbindung zwischen Himmel und Erde gelten, wie das Leuchten des Sterns über dem Stall von Bethlehem. Vielleicht ist sie andererseits auch als (früchtetragender) Baum ein Symbol für die weibliche (mütterliche) Schönheit wie in der altarabischen Dichtung. Dass ihre Situation als Gebärende eine verzweifelte ist, dessen ist sich Maria bewusst, als es aus ihr herausbricht (Sure 19,23): „Wehe mir! Wär[e] ich doch vorher schon gestorben und ganz und gar vergessen!“ Marias Schrei der Verzweiflung ist zu einem geflügelten Wort in der arabischen Sprache und Literatur geworden. Der Fortgang der Erzählung besticht durch eindrückliche Kontraste. Marias Todessehnsucht steht das Neugeborene, das ihr geschenkt wird, gegenüber. Ihrem verzweifelten Wunsch nach völligem Vergessen entspricht das fürsorgliche sich Erinnern Gottes, „ihres Herrn“ (Sure 19,24), an sie. Die Schmerzen der Geburtswehen – im Gegensatz zur „sanften Geburt“ Jesu in der christlichen (und später auch in der muslimischen) Tradition – sowie das bittere Gefühl der Schmach, ein uneheliches Kind geboren und damit Schande über ihre ganze Familie gebracht zu haben, kontrastieren mit der wundersamen Erquickung durch süße Datteln und frisches Quellwasser. Das Schweigegelübde der Erwachsenen, die darauf verzichtet, sich selbst zu verteidigen, kontrastiert mit dem zweimaligen wundersamen Reden des Neugeborenen, der zuerst sie tröstet und später ihre Rechtfertigung gegenüber der Sippe übernimmt.

(3) Eben dieses Sprechwunder des Jesuskindes markiert einen weiteren Hauptunterschied zwischen beiden Weihnachtsgeschichten. Ein sprechender Jesusknabe ist den neutestamentlichen Evangelien gänzlich unbekannt. Doch ist das in Vers 24 wirklich der eben geborene Jesus, der da zu Maria spricht und sie auf die göttliche Hilfe aufmerksam macht? Tabarī diskutiert diese Frage und meint, der Text lasse drei Deutungsmöglichkeiten zu:

a. Es könnte in der Tat der eben geborene Jesus sein, wie schon Hasan al-Basrī (gest. 728), auch Tabarī selbst sowie die meisten Kommentatoren meinen.

b. Es handelt sich um die Stimme eines Engels. Manche muslimische Kommentatoren meinen, es sei Gabriel, der zu Maria spricht. Ibn Kathīr etwa erklärt: „Dies war der Engel Gabriel. Denn Jesus sprach zum ersten Mal, als sie (sc. Maria) mit ihm zu ihren Angehörigen kam.“44 Wer dieser Interpretation folgt, übersetzt den Vers so: „da rief er ihr von unten her (oder: von unterhalb der Palme) zu …“ Auch christliche Übersetzer (z.B. Marracci, Schedl) favorisieren diese Deutung, weil dann von einem Sprechwunder des neugeborenen Jesus, das die christliche Tradition nicht kennt, auch im Koran keine Rede sein kann. Boysen gibt Sure 19,24 in seiner Koranübersetzung (1775) folgendermaßen wieder: „Sey nicht unruhig, sprach Gabriel, der unter dem Baume stand (…).“

c. Es ist der noch ungeborene Jesusknabe, der Maria anspricht. Diese dritte Variante wird von einigen westlichen Auslegern erwogen. Der Theologe und Orientalist Johann Christian Wilhelm Augusti (gest. 1841) etwa argumentiert: „Daß der Knabe Jesus schon im Mutterleibe redet, ist eben kein größeres Wunder, als daß er es wenig (sic!) Stunden nach seiner Geburt thut“.45

d. Man kann aber auch, um Tabarī zu ergänzen, schlicht offenlassen, von wem der Text redet, und anonym übersetzen: „Da rief jemand (oder: es, eine Stimme) ihr von un ten her zu (…).“ Dies meinen etwa Henning/Hofmann, Bobzin und Bazargan.

Am wahrscheinlichsten trifft wohl die muslimische Mehrheitsauffassung zu: dass der eben geborene Jesusknabe zu Maria spricht. Dafür lassen sich mehrere Gründe anführen. Zunächst spricht für den Jesusknaben, dass von einem Engel im Text gar nicht die Rede ist. Seine Anwesenheit bei Maria, die sich doch vollständig in die Einsamkeit zurückgezogen hatte, muss schlicht behauptet, kann aber nicht direkt vom Text her begründet werden. Nimmt man an, dass Jesus gemeint sei, erklärt sich sodann auch „am leichtesten, wie Maria gleich nachher, ohne sonstige Belehrung, so zuversichtlich erwarten konnte, daß das Kind, statt ihrer, den sie zu Rede setzenden Verwandten antworten werde“, wie Carl Friedrich Gerock (gest. 1881) überzeugend zu bedenken gibt.46 Schließlich gibt es ein unmittelbar philologisches Argument, das neuerdings vorgebracht worden ist. Bislang war – ganz unabhängig von der Frage nach dem Sprecher – die Deutung der Wendung min tahtihā in Vers 24 unter den Auslegern sehr umstritten. Man übersetzt den Ausdruck in der Regel mit „von unterhalb von ihr“ und bezieht die weibliche Form am Ende auf Maria. So die meisten klassischen Kommentatoren. Sie sind dabei von der Vorstellung geleitet, dass das Jesuskind unten auf Marias Schoß oder auf der Erde liege. Zeitgenössische muslimische Interpreten wie etwa Yusuf Ali, Asad oder Ahmad von Denffer beziehen die weibliche Endung bei „von unterhalb von ihr“ auf die Palme: Das Kind liege unter dem schattigen Baum und spreche von dort aus Maria plötzlich an. Alle diese Spekulationen erübrigen sich mit einem Schlag angesichts der philologischen Argumentation, die zuletzt Christoph Luxenberg vorgebracht hat. Er zeigt, dass die merkwürdige Wendung min tahtihā wohl syrisch-aramäischen Ursprungs ist, was schon von den ältesten muslimischen Kommentatoren nicht mehr erkannt wurde. Die Präposition min sei temporal und nicht lokal zu verstehen. Statt tahtihā sei hier nahtihā zu lesen (von nahata = niederkommen). So dass Vers 24 statt „Da rief er ihr von unten her zu“ vielmehr hieße: „Da rief er ihr sogleich nach ihrer Niederkunft zu.“47 Diese hier nur ganz knapp vorgetragene Argumentation Luxenbergs untermauert die Interpretation, dass der zu Maria Sprechende kein anderer als der eben geborene Jesusknabe sein kann.

Wie gesagt gibt es zu diesem Sprechwunder des Jesuskindes keine Parallele im Neuen Testament, doch ist das Motiv in der christlichen Tradition nicht völlig unbekannt. Im Arabischen Kindheitsevangelium spricht gleich im ersten Kapitel Jesus in der Wiege zu Maria und stellt sich ihr mit den bezeichnenden Worten vor: „Ich bin Jesus, Gottes Sohn, der Logos, den du in der Weise geboren hast, wie es dir der Engel Gabriel angekündigt hat. Gesandt hat mich mein Vater zum Heil der Welt.“48 Wir kommen später darauf zurück. Es gibt auch eine antik-griechische Parallele zur koranischen Geburtsszene insgesamt. In dem sehr alten, im Mittelmeerraum weit verbreiteten und in seiner hymnischen Fassung Homer zugeschriebenen Mythos von Apollos Geburt (7. Jahrhundert v. Chr.) findet sich das Motiv von der Niederkunft unter einer Palme und der Geburt eines göttlichen und sogleich sprechenden Kindes. Die Göttin Leto, schwanger von Zeus und deshalb verfolgt von Hera, der Ehefrau des Zeus, gelangt auf ihrer Flucht schließlich zur Insel Delos, wo sie unter einer Palme niederkommt und, umringt von Göttinnen, Apollo zur Welt bringt: „Um die Palme schlang sie die Arme und stützte die Knie/auf den lockeren Anger, und unter ihr lachte die Erde./Er aber sprang ans Licht: da jauchzten die Göttinnen alle.“ Nachdem Apollo mit Ambrosia und Nektar genährt wurde, spricht er, der Neugeborene, seine Mutter und die anderen Göttinnen an: „Mein sei Leier und krummer Bogen, die werde ich lieben,/und ich künde den Menschen des Zeus untrüglichen Ratschluß.“49 Ich habe bereits 2000 und 2001 auf diese religionsgeschichtlich interessante Parallele hingewiesen. Suleiman Mourad hat 2002 ebenfalls darauf aufmerksam gemacht.50

(4) Beim Vergleich der beiden Weihnachtsgeschichten von Lukas 2 und Sure 19 fällt des Weiteren auf: Dem Koran zufolge wird Maria – wie die Göttin Leto – wundersam erquickt und ernährt. Von diesem Palm- und Quellwunder ist weder im Neuen Testament noch im Protevangelium des Jakobus die Rede. Zu diesem Wunder gibt es anderswo in der christlichen Tradition eine Analogie, und zwar im 20. Kapitel des schon erwähnten außerkanonischen Pseudo-Matthäusevangeliums (Tabelle 3 im Anhang). Hier wird im Grunde dasselbe Wunder beschrieben – freilich mit erheblichen Unterschieden zum Koran, die von westlichen Koranauslegern meist nicht deutlich genug beachtet worden sind. Zunächst ist festzustellen: Die wundersame Erquickung Marias ist im Koran als ein göttliches Wunder beschrieben, auf das der Jesusknabe lediglich hinweist. Dafür gibt es klare sprachliche Indizien. Gott ist es, der für sie beide eine Quelle oder ein Bächlein fließen lässt. „Dein Herr“ (rabbuki) in Vers 24 ist im Übrigen eine Auskunft, die in der mekkanischen Kindheitserzählung gleich mehrfach auftaucht und sich zu einer Art Glaubensbekenntnis steigert. Zunächst begegnet der Begriff zweimal im Kontext der Ankündigung der Geburt Johannes des Täufers (Verse 1 und 9) an Zacharias. Weiter taucht er zweimal auf im Munde Gabriels an Maria (Verse 19 und 21). Dann an dieser Stelle hier im Munde des Jesusknaben, erneut an Maria; und schließlich gipfelnd in Vers 36 als Wort Jesu, bezogen auf Maria, ihre Zeitgenossen und sich selbst: „Gott ist mein und euer Herr.“ Dass die Erquickung Marias in Sure 19 vom Koran eindeutig als ein Wunder Gottes verstanden wird, bestätigt später Sure 3,37. Dort ist von der ebenso wundersamen Versorgung Marias als heranwachsender Tempeljungfrau die Rede: „Da nahm ihr Herr (sc. Gott) sie gütig an, ließ sie aufwachsen auf schöne Weise und setzte Zacharias zur Pflegschaft über sie ein. Sooft nun Zacharias zu ihr in den Tempel eintrat, fand er bei ihr Speise. Er sprach: ‚Woher kommt denn das zu dir?‘ Sie sprach: ‚Es ist von Gott. Siehe, Gott versieht mit Gaben, wen er will, ohne abzurechnen.‘“ Das Palm- und Quellwunder ist also für Maria, die Mutter Jesu, nach koranischer Auffassung nichts anderes als eine Fortsetzung der früheren Fürsorge Gottes für sie als Tempeljungfrau.

Was im Koran als Wunder Gottes verstanden wird, begegnet im Pseudo-Matthäusevangelium als Mirakel des Jesusknaben. Auch ist die Ausgangssituation eine andere: Maria befindet sich mit Josef und Jesus längst auf der Flucht nach Ägypten, während das Wunder im Koran im Kontext der Geburt Jesu geschildert wird. Pseudo-Matthäus erzählt dann weiter: Im Schatten einer Palme ruht sich Maria aus. Hungrig sieht sie zu den Früchten in der Krone der Palme hinauf. Auch haben sie nichts zu trinken. Während dem Koran zufolge Maria aufgefordert wird, den Stamm der Palme zu schütteln, ist dieses Motiv bei Pseudo-Matthäus (Kap. 20,2) zum Mirakel gesteigert:

Da sagte der Jesusknabe, welcher mit glücklicher Miene auf dem Schoß seiner Mutter saß, zur Palme: „Neige dich herab, Baum, und erfrische mit deinen Früchten meine Mutter.“ Auf diesen Ruf hin bog die Palme sogleich ihre Krone nieder bis zu den Füßen Marias, und sie sammelten Früchte von ihr, mit denen sich alle stärkten. Nachdem sie alle ihre Früchte geerntet hatten, blieb sie gebogen und erwartete, sich auf Befehl dessen wieder aufzurichten, auf dessen Befehl sie sich gebogen hatte. Da sagte Jesus zu ihr: „Richte dich auf, Palme, und erhole dich. Sei Gefährtin meiner Bäume, die sich im Paradiese meines Vaters befinden. Öffne aber unter deinen Wurzeln eine Ader, die in der Erde verborgen ist. Aus ihr mögen Wasser fließen zur Stillung unseres Durstes.“ Sofort richtete die Palme sich auf, und an ihren Wurzeln begannen völlig klare, frische und äußerst süße Wasserquellen zu strömen. Als sie aber die Wasserquellen sahen, freuten sie sich riesig. Sie löschten ihren Durst gemeinsam mit sämtlichen Lasttieren und Menschen. Und dankten Gott.51

Seit langem ist immer wieder vermutet worden, dass das relativ nüchterne Wunder der Erquickung Marias im Koran von diesem apokryph-christlichen Mirakel abhängig sei.52 Dies erscheint mir völlig abwegig. Vielmehr ist das Gegenteil der Fall, denn das koranische Wunder der Erquickung Marias ist literarisch rund 150 bis 200 Jahre älter als die apokryph-christliche Variante. Wenn man hier ein Abhängigkeitsverhältnis sehen will, dann besteht es also umgekehrt: Pseudo-Matthäus ist vom Koran abhängig und nicht umgekehrt. Das Motiv einer wundersamen Stärkung Marias findet sich in der Tat auch in der apokryphen Evangelientradition der vorkoranischen Zeit, u.zw. im Arabischen Kindheitsevangelium, das im sechsten bis siebten Jahrhundert entstanden ist. Dort findet sich das Wunder in einer anderen Gestalt und ohne das Motiv der Stärkung Marias durch Datteln oder andere Früchte eines Baumes (Kapitel 24). Das Wunder bezieht sich lediglich auf eine Quelle. Dem Arabischen Kindheitsevangelium zufolge ist der Kontext die Flucht Marias und Josefs mit dem neugeborenen Jesusknaben nach Ägypten. Dann heißt es: „Von da begaben sie sich zu jener Sykomore, die heute Matarea heißt, und der Herr Jesus ließ in Matarea eine Quelle sprudeln, in der die erhabene Maria sein Hemd wusch. Aus dem Schweiß des Herrn Jesus, den sie dort auswrang, ist in jener Gegend Balsam entstanden.“53 Wenn überhaupt, dann könnte das koranische Palm- und Quellwunder von dieser Darstellung im Arabischen Kindheitsevangelium beeinflusst sein. Allerdings ist hier von einer Palme wie im Koran nicht die Rede.

Seltener anzutreffen ist die Ansicht, das koranische Palm- und Quellwunder greife auf Elemente aus der Erzählung von Hagars und Ismaels Verstoßung in der Hebräischen Bibel zurück. Heribert Busse behauptet: „Hagar irrte, dem Hunger- und Dursttode nahe, in der Wüste umher, der Engel zeigte ihr vom Himmel her die Quelle und die Palme.“54 Zuletzt (2010) hat dies Angelika Neuwirth in fast wörtlicher Anlehnung an Busse wiederholt. Diese Episode „erinnert deutlich an die Geschichte Hagars und Ismaels aus Gen 21,9–21, wo ein Engel Hagar die rettende Palme und Quelle zeigt.“55 Doch die Hagar-Erzählung weicht so erheblich von der koranischen Beschreibung der Geburt Jesu ab, dass von einem „deutlichen Erinnern“ nun wirklich keine Rede sein kann: (1) Der Kontext ist nicht die Geburt Ismaels, sondern ihrer beider Verstoßung durch Abraham. (2) Auch spricht der Knabe nicht tröstend und fürsorglich zu seiner Mutter, vielmehr liegt er selbst hilflos und laut schreiend da. Hagar hat sich sogar von ihm entfernt, damit sie sein Sterben nicht mit ansehen muss. (3) Die dann zu hörende Stimme ist nicht die des Knaben, sondern eines „Engels Gottes vom Himmel her“ (Genesis = 1 Mose 21,17). In Sure 19 wird jedoch kein Engel erwähnt. (4) Im Genesis-Text ist weder von einer Palme noch von einer Quelle die Rede, wie Busse und Neuwirth fälschlich behaupten. Der Engel zeigt Hagar vielmehr einen Brunnen! (5) Als letztes Gegenargument sei ein chronologisches genannt: Der Koran kann sich bei diesem Palm- und Quellwunder gar nicht auf Ismael und seine Mutter beziehen. Denn in der mittelmekkanischen Phase der Wirksamkeit Muhammads, zu der Sure 19 gehört, war Muhammad Ismael als Sohn Abrahams und Hagars noch gar nicht bekannt (vgl. Sure 19,54f.). Erst in den beiden letzten Jahren Muhammads in Mekka taucht Ismael in Verbindung mit Abraham auf (Sure 14), wie ich an anderer Stelle gezeigt habe.56 Mit einem Wort: Das Palm- und Quellwunder kann allein schon deshalb nicht auf die Verstoßungsgeschichte in der Hebräischen Bibel anspielen, weil Muhammad zu jener Zeit diese Geschichte noch gar nicht bekannt war. Dass er sie überhaupt jemals hörte, lässt der Koran nicht erkennen. Hagar jedenfalls erwähnt er nirgendwo.

Die engste Parallele zur wundersamen Erquickung Marias in Sure 19 ist nicht außerhalb des Korans in der biblischen oder apokryphen Tradition zu finden, sondern im Koran selbst. Von Maria, Jesus und einer Quelle ist nämlich auch in Sure 23 die Rede, die kurz nach der Mariensure entstanden ist bzw. offenbart wurde. Dort heißt es in Vers 50: „Wir machten den Sohn Marias und seine Mutter zu einem Zeichen und ließen sie Zuflucht finden auf einer Höhe mit einem Ruheplatz und einer Quelle.“ Nach Ansicht vor allem klassischer muslimischer Kommentatoren seit Ibn al-Abbās und Tabarī bezieht sich dieser Vers auf das Erhöhtwerden Jesu durch Gott ins Paradies. Von diesem heiße es vielfach im Koran, dass es von Strömen oder Quellen durchzogen sei. Dieser Interpretation folgten seit Ludovico Marraccis lateinischer Koranübersetzung (samt Kommentar) von 1698 auch viele christliche Ausleger. Wahrscheinlicher aber ist, dass Sure 23,50 in Verbindung mit der Geburt Jesu steht, wie zeitgenössische muslimische Exegeten erklären. Die Suche nach einer Unterkunft ist ja ein beherrschender Zug bereits der lukanischen Geburtsgeschichte. Und im Matthäusevangelium (2,13ff.) gipfelt die Dramatik bekanntlich in der Flucht der Familie nach Ägypten angesichts des Kindermordes durch König Herodes. Auf beide Aspekte könnte Sure 23,50 mit den Stichworten „Ruheplatz“ sowie „Zuflucht“ anspielen. Dies hat neuerdings auch Suleiman Mourad vermutet.57 Sure 23,50 lässt sprachlich insbesondere Sure 19,26a anklingen. Denn das arabische Wort qarār, das man im Deutschen etwas poetisch mit „kühlem Grund“ wiedergeben könnte – Bobzin übersetzt mit „Ruheplatz“ –, erinnert an Sure 19,26a, wo Maria aufgefordert wird: „Dann iss und trink, und sei guten Mutes!“ Wörtlich heißt es im Arabischen hier: „Sei kühlen Auges“ (qarrī aynan)! So kann in Sure 23,50 qarār – abgeleitet von qarra (kühl, frisch sein) – als „Ort der Kühle und Erfrischung“ verstanden werden wozu unbedingt der Schatten von Palmen sowie eine Quelle gehören. Hinzu kommt dass in Sure 23,50 das (Quell-) Wasser (ma‘īnan) explizit genannt wird, auf dessen Vorhandensein oder Hervorbringung durch Gott der eben geborene Jesusknabe Maria aufmerksam macht (Sure 19,24). Die zeitgenössischen Koranexegeten lokalisieren den auch in Sure 23,50 ungenannten Zufluchtsort teils in Jerusalem, in Bethlehem, in Ägypten oder identifizieren ihn direkt mit der in Sure 19 beschriebenen Geburtsstätte Jesu unter der Palme. Abdullah Yusuf Ali, dessen Auslegung wohl das Richtige trifft, schreibt zu Sure 23,50:

„Es ist nicht nötig, weit nach dem Ort zu suchen, wo Mutter und Kind ein sicherer Schutz gegeben wurde. Er ist in Sure XIX:22–26 beschrieben. Es war der Ort, an den sie sich zurückzog, als der Zeitpunkt der Entbindung nahe kam. Dort gab es eine Früchte tragende Palme, offensichtlich auf hoch gelegenem Grund, denn zu ihren Füßen floss eine Quelle. Sie erholte sich dort in der Abgeschiedenheit, und sie und ihr Kind ruhten sich aus, bis es für Maria Zeit wurde, mit ihrem Kind zu ihrem Volk zurückzukehren.“58

Die theologische Aussage des Palm- und Quellwunders, das seine älteste literarische Bezeugung im Koran (Sure 19,23ff.; 23,50) und nicht in der christlichen Tradition hat, besteht darin: Gott kümmert sich um die in der Einsamkeit gebärende Maria. Er gewährt ihr die notwendige leibliche Erquickung. So erweist Gott sich als der beste aller Versorger, als der, der den Menschen in ihrer Verlassenheit „nahe“ ist und ihr verzweifeltes Gebet „erhört“ (Sure 2,186). Doch nicht nur das. Gott vermag auch Marias Angst vor Schmach und Schande zu beruhigen. Damit sind wir bei einem weiteren Unterschied, um nicht zu sagen: bei dem Hauptunterschied im Vergleich der beiden Weihnachtsgeschichten von Lukas 2 und Sure 19 angelangt.

(5) Denn anders als in der christlichen Tradition zielt die mekkanische Kindheitserzählung auf die Rede des Jesusknaben an die Angehörigen Marias (Verse 30–33). Diese kurze Ansprache des „kleinen Propheten“ ist in ihrer Funktion nichts anderes als eine Apologie Marias, der nach jüdischem Recht aufgrund ihrer illegitimen Schwangerschaft die Todesstrafe durch Steinigung drohte. Auch das Protevangelium des Jakobus berichtet von der Anfeindung sowohl Marias als auch Josefs von Seiten eines jüdischen Schriftgelehrten (Kap. 15/16). Anders als im Koran ist es – noch vor der Geburt Jesu – ein „Prüfungswasser“, das der Hohepriester Josef und Maria zu trinken gibt und ihrer beider Unschuld erweist. Maria ist also schon vor der Geburt Jesu durch ein Gottesurteil rehabilitiert worden. Dem Koran zufolge wird sie erst nach der Geburt Jesu durch einen wundersamen Vorgang vor dem drohenden Tod bewahrt: durch die überraschende Ansprache eines Jungen, „der noch ein Kind in der Wiege ist“ (Sure 19,29). Auch eine Art Gottesurteil, wenn man so will. Diese rettende Rede des kleinen Propheten knüpft das Band zwischen Maria und ihrem Sohn noch enger. Der Jesusknabe stellt Marias Unbescholtenheit und Reinheit angesichts dessen, dass die Juden „ungläubig waren und Maria ungeheuerlich verleumdeten“, wie es später in Sure 4,156 heißt, wieder her. Inhaltlich geht es darum, dass sich der Jesusknabe als ein von Gott auserwählter Mensch, wie auch seine Mutter es ist, vorstellt (Verse 30–33):

30 (…) „Ich bin der Knecht Gottes! Er gab mir das Buch und machte mich zum Propheten. 31Er verlieh mir Segen, wo immer ich auch war, und trug mir das Gebet und die Armensteuer auf, solange ich am Leben bin. 32 Und Ehrerbietung gegen meine Mutter! Er machte mich zu keinem elenden Gewaltmensch! 33 Und Friede [sei] über mir am Tag, da ich geboren wurde, und am Tag, an dem ich sterben werde, und an dem Tag, da ich zum Leben auferweckt werde!“

Diese Selbstvorstellung des Jesusknaben ist nicht zufällig gestaltet, sondern weist zwei Parallelen auf. Innerkoranisch ähnelt sie bis in den Wortlaut hinein der Beschreibung Johannes des Täufers in derselben Sure (Verse 12–15):

12 (…) Wir verliehen ihm schon im Knabenalter Weisheit, 13 Mitgefühl von uns und Lauterkeit – und er war gottesfürchtig – 14 und Ehrerbietung gegen seine Eltern! Er war kein Gewaltmensch59 und nicht widerspenstig. 15 Friede [sei] über ihm am Tag, da er geboren wurde, am Tag, an dem er sterben wird, und an dem Tag, da er zum Leben auferstehen wird!

Gleichen sich also vom Wesen her Johannes und Jesus (die dem Neuen Testament zufolge ein Lehrer-Schüler-Verhältnis eingehen werden), so ist der Unterschied zwischen ihnen: Die Wesensbeschreibung des Johannes erfolgt durch Gott („wir“), während Jesus sich selbst so vorstellen kann kraft seiner göttlichen Befähigung dazu, schon als kleiner Prophet sprechen zu können. Dieser Prophetentitel kommt Johannes hingegen (an dieser Stelle noch) nicht zu (erst viel später in Sure 3,39). Von ferne klingt darüber hinaus als weitere Parallele das Magnifikat Marias im Neuen Testament an (Lukas 1,46–55). Beide Hymnen sind theozentrisch ausgerichtet (Tabelle 4 im Anhang). Bei Lukas wird die politische Gerechtigkeit des Handelns Gottes gerühmt, der die Tyrannen vom Thron stürzt und die Hungernden speist. Im Koran sagt Jesus Ähnliches über sich: Er gilt als Mann des Friedens, der „kein elender Gewaltmensch“ sein wird, und als Gerechter, der die Pflichtabgabe zugunsten der Armen erfüllt. Im Magnifikat wird das Volk Israel als „Knecht Gottes“ bezeichnet, im Koran bezeichnet Jesus sich selbst so – ein Titel, auf den wir in Kapitel 8 ausführlich zurückkommen werden.

(6) Ein letzter Vergleichspunkt sei noch genannt, der über die beiden Weihnachtsgeschichten in Lukas 2 und Sure 19 hinausgeht und grundsätzlich das Verhältnis zwischen Jesus und Maria berührt. Wie die doppelte Ankündigung der Geburt Jesu im Koran sowie die eigentliche Geburtsgeschichte hier in Sure 19 deutlich machen, besteht eine sehr enge Verbindung zwischen Maria und ihrem Sohn. Von Anbeginn seines Lebens gehört es offenbar zur Aufgabe Jesu, das Leben und die Ehre seiner Mutter zu schützen. Er ist wie ein Ritter der alleinstehenden Maria, da es im Koran keinen Ehemann Josef gibt. Diese absolute Loyalität Jesu gegenüber Maria betont Vers 32 ausdrücklich. Dem Neuen Testament zufolge ist das Verhältnis zwischen Jesus und Maria hingegen konflikt- und spannungsreich gewesen. Auf der einen Seite sagt Lukas 2,51 über den zwölfjährigen Jesusknaben, er sei seinen Eltern gegenüber „gehorsam“ gewesen. Und der sterbende Jesus am Kreuz trägt Sorge für seine zurückbleibende Mutter, der er einen seiner Jünger an Sohnes statt anbefiehlt (Johannes 19,25–27). Doch auf der anderen Seite weiß eine wesentlich ältere Tradition auch von Konflikten zwischen Jesus und seiner Mutter. Markus 3,21 berichtet davon, dass seine ganze Familie sich aufmachte, den Herumtreiber „mit Gewalt“ wieder nach Hause zu holen, da er verrückt geworden sei. Markus 3,31–35 zufolge hat Jesus seine Herkunftsfamilie nicht als seine eigentliche Familie betrachtet. Vielmehr seien diejenigen, die Gottes Willen täten, seine wahre Mutter und seine wahren Geschwister. Besonders die Episode von der sog. „Hochzeit in Kana“ (Johannes 2,1ff.) zeigt die ganze Ambivalenz zwischen Respektlosigkeit und Pietät in der Beziehung Jesu zu seiner Mutter. Eine solche Ambivalenz ist für den Koran völlig undenkbar. Es gehört zur Tugend von Gott erwählter Menschen, wie Johannes der Täufer seinen Eltern absolut ergeben zu sein (Sure 19,14). So begegnet der Koran christlichen Ambivalenzen mit einseitiger Eindeutigkeit: Jesus war seiner Mutter Maria schlechthin ergeben. Er war von Anfang an ihr Retter und er blieb ihr Ritter. Ein ambivalentes Bild vom Verhältnis zwischen Maria und Jesus zu zeichnen wäre dem Ansehen beider und natürlich auch ihrer Vorbildwirkung abträglich. Also werden vom Koran derlei Andeutungen in der christlichen Überlieferung konsequent verschwiegen bzw. getilgt – und das mit dem hohen Anspruch, wie die mekkanische Kindheitsgeschichte am Ende deutlich macht, damit über Jesus „die Wahrheit zu sagen, über die sie (sc. die Christen) im Zweifel sind“ (Sure 19,34). Ebenso idealisierend verfährt der Koran auch bei anderen vorbildlichen Gestalten der biblischen Tradition, etwa bei Abraham.60

Fragen wir am Ende dieses Kapitels nach der theologischen Gesamtaussage der koranischen Erzählungen über Maria und den Lebensanfang Jesu. Nirgends sonst berichtet der Koran so breit und ereignisorientiert über Jesus wie hier, an der entscheidenden Stelle seines Eintritts ins Dasein. Die Grundbotschaft des Korans an diesem Punkt ist eine doppelte. Sie lässt sich auf die beiden Begriffe Jungfrauengeburt sowie Vaterlosigkeit Jesu bringen. Anders gesagt: Wir beobachten ein Verhältnis gleichzeitig der Anknüpfung und des Widerspruchs des Korans gegenüber der christlichen Tradition. Die eigentliche Spitze liegt in dem Titel „Sohn Marias“, der im Koran zwar auch ein Ausdruck für die enge Bindung zwischen Jesus und seiner Mutter sowie für den Glauben an die Jungfrauengeburt Jesu ist. Doch im Grunde will er als pointierte Antithese zur christlichen Bezeichnung Jesu als „Sohn Gottes“ verstanden sein. Īsā ibn Maryam – das meint: Jesus ist der Vaterlose schlechthin. Er hat weder einen irdischen, also menschlichen, noch einen himmlischen, sprich: göttlichen Vater. Mit dieser Auffassung widerspricht der Koran der kirchlichen Christologie, wohingegen er mit den beiden Ankündigungserzählungen und der Geburtsgeschichte unmittelbar an die altkirchliche Mariologie anknüpft. Wie wir gesehen haben, schildern diese die übernatürliche, sprich: jungfräuliche Empfängnis und Geburt Jesu. Maria habe bis dahin keinerlei intime Kontakte mit Männern gehabt, wie der Koran gleich zweimal erzählt (Sure 19,20; 3,47). Maria habe ihre „Scham“ (fardj) zu bewahren gewusst, wie der Koran ebenfalls zweimal versichert (Sure 21,91; 66,12). Maria hat Jesus spirituell und nicht sexuell empfangen, wie die Ehrentitel Jesu als „Wort Gottes“ und „Geist Gottes“ zum Ausdruck bringen. Die Jungfrauengeburt Jesu ist dem Koran zufolge ein Beispiel für Gottes allmächtiges Schöpferhandeln durch das bloße Wort. Als solche ist sie jedoch kein Indiz für eine Sonderstellung oder gar für eine göttliche Abkunft Jesu. Damit ergibt sich traditionsgeschichtlich ein interessantes Bild. Denn anders als im Koran spielt die Jungfrauengeburt im Neuen Testament so gut wie keine Rolle. Der Neutestamentler Eduard Schweizer (gest. 2006) konstatiert:

„Beschrieben wird sie nirgends; nur von ihrer Ankündigung ist Mt. 1 und Lk. 1 die Rede. Aber selbst Matthäus und Lukas greifen nie mehr darauf zurück, nicht einmal bei der eigentlichen Weihnachtsgeschichte. (…) Keine andere Schrift, vor allem auch keine der vielen Zusammenfassungen des Glaubens in einer Formel, einem Hymnus oder einer Predigt im Neuen Testament erwähnt die Jungfrauengeburt. Weder Johannes noch Paulus wissen davon“.61

Erst das Protevangelium des Jakobus, ganz zur Verherrlichung Marias geschrieben, legt den Akzent auf ihre – sogar lebenslange! – Jungfräulichkeit. Es legt damit den Grundstein für eine lebendige Marienverehrung und den festen Glauben an die Jungfrauengeburt Jesu im spätantiken Christentum: „In der Ostkirche ist das Buch von Anfang an beliebt gewesen: zunächst vor allem bei den Ebioniten [Judenchristen], aber auch bei den griechischen Kirchenvätern, in der syrischen, koptischen und armenischen Kirche ist es wegen des Lobpreises auf das Ideal der Jungfräulichkeit hochgeschätzt gewesen.“62 Eben diese stetig anwachsende Marienfrömmigkeit, die dann im 5. und 6. Jahrhundert auch zu populären Marienfesten und -gedenktagen im ganzen Orient geführt hat, spiegelt sich direkt im Zeugnis des Korans wieder. Die im Koran anzutreffende Marienverehrung trägt deutlich spätantike und keine neutestamentlichen Züge.

Der Glaube an die Jungfrauengeburt hat in der christlichen Theologie und Volksfrömmigkeit einen primär mariologischen sowie christologischen, im Koran hingegen einen theozentrischen Sinn. Hier geht es nicht um eine Verherrlichung der Person Marias (als „Gottesgebärerin“) oder Jesu (als „Sohn Gottes“), sondern um Gott, dem allein Lob und Ehre gebühren. Lukas schildert die wunderbare Ankunft des Erlösers auf Erden, des Davididen, Messias, Retters, Sohnes Gottes und Herrn, wie die Fülle der Hoheitstitel in den beiden ersten Kapiteln seines Evangeliums zeigt. Einen größeren Heiland, der unter noch wunderbareren Umständen geboren würde, kann es nicht geben. Diesen Ansatz führen die außerkanonischen Evangelien, insbesondere das Protevangelium des Jakobus sowie das sehr viel spätere Pseudo-Matthäusevangelium, weiter. In noch deutlicher legendarischem Stil als Lukas schildern sie demonstrative Detailwunder der Geburt sowie des Wirkens des Jesusknaben. Dieser Intention christlich-orientalischer Volksfrömmigkeit begegnet der Koran entschieden. Jesus wird ganz in seiner Bezogenheit einerseits auf Gott als dessen unmittelbares Geschöpf und andererseits auf Maria als deren ergebener Sohn und Lebensretter geschildert. In einem entscheidenden Punkt jedoch sind sich die christlichen Texte und der Koran einig: Jesus ist in seinem Dasein als solches ein göttliches Wunder, das von Menschen weder vorhergesehen noch geplant, weder gemacht noch erzwungen werden kann. Menschen können ein solches göttliches Wunder nur empfangen, mit leeren, dankbaren Händen – „jungfräulich“ auch in diesem Sinne. Die Art dieses Empfangens schildert der Koran durch die äußere Szenerie: Die Weite und (Menschen-) Leere der Landschaft rings um Maria wird zum Sinnbild ihrer Jungfräulichkeit, während die einsame Palme wie ein zum Himmel weisender Finger wirkt. So wundersam gelangt der Gottesbote Jesus ins Dasein. Diese von Muslimen wie Christen geteilte Überzeugung von der Jungfrauengeburt findet zunehmend Ausdruck in gemeinsamen christlich-islamischen Krippenspielen, die in der Adventszeit in Kirchen, Moscheen und Schulen von religiös gemischten Kindergruppen bzw. Schulklassen aufgeführt werden.63

Der Sohn Marias

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