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2. Messias oder Christus?

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Der Koran erzählt kein „Leben Jesu“, wie es die neutestamentlichen Evangelien – und viel später nach deren Vorbild auch die islamischen Jesus-Legenden – tun. Dies darf nicht als Geringschätzung der Person Jesu missverstanden werden, erzählt doch der Koran genauso wenig ein Leben Moses oder sogar Muhammads. Der Koran beschreibt und würdigt die Gestalt und das einzigartige Schicksal Jesu vor allem durch diverse Namen und Titel, die er ihm verleiht. Wie wir im Verlauf der Darstellung immer wieder beobachten werden, interpretiert der Koran mit diesen Namen das über Jesus Berichtete auf neue Weise. Das Jesusbild des Korans summiert und pointiert sich in diesen Ehrentiteln für Jesus. Namen sind, zumal im Orient, alles andere als Schall und Rauch. Sie sind gewissermaßen das Konzentrat der Identität des Namensträgers. Folglich stehen die Namen und Titel Jesu im Zentrum unserer Aufmerksamkeit. Sie stellen die innerkoranische Primärdeutung seiner Person dar. Zunächst präsentiere ich überblicksweise die häufigsten und wichtigsten Namen und Titel Jesu im Koran, um dann auf einen von ihnen, den Messiastitel, ausführlicher einzugehen. Die übrigen Titel werden nach und nach in den folgenden Kapiteln erläutert werden.

Īsā – so lautet das arabische Wort für „Jesus“ im Koran. Es kommt 25 Mal im Koran vor.13 An 16 dieser 25 Stellen wird Jesus zusätzlich „Sohn Marias“ (Īsā ibn Maryam) genannt. Auf die Bedeutung dieses Namens werden wir im Zusammenhang der Geburt Jesu zurückkommen. Weiter wird Jesus als „Wort von Gott“ (kalima min Allāh) und als „Geist von Gott“ (rūh min Alāh) bezeichnet. Er ist ein rechtschaffener (sālih) und gesegneter (mubārak) Mensch, von Gott erwählt als ein „Prophet“ (nabī) und „Gesandter“ (rasūl), der eine Offenbarungsschrift mitbringt. Er ist ein Vorbild und beispielhafter (mathal) Gläubiger und „Knecht Gottes“ (abd Allāh). Jesus ist in beiden Welten, im Diesseits und Jenseits, angesehen (wadjīh) und ein Zeuge (shahīd) der Christen im Endgericht. Alles in allem ist Jesus ein „Zeichen“ (āya) für diejenigen, die Gottes Hinweise zu lesen vermögen. Dass Jesus „der Sohn Marias“ war bzw. genannt wurde, ist Muhammad schon in Mekka bekannt gewesen. Doch erst in Medina hat er einen anderen Titel Jesu, der längst zu seinem Eigennamen geworden war, kennengelernt: Jesus, der Christus. Ausschließlich in medinensischen Suren, insgesamt elf Mal, nennt der Koran Jesus „den Messias“ (arab. al-masīh). Bereits in vorislamischer Zeit und bis auf den heutigen Tag war und ist Abd al-masīh („Christusdiener“) ein recht häufiger Vorname unter christlichen Arabern. Al-masīh ist die arabisierte Form des syrischen meshīhā, das seinerseits die wörtliche Übersetzung des griechischen ho Christós ist. Achtmal wird Jesus auch mit dem aus dem Judenchristentum stammenden Titel „der Messias Jesus, der Sohn Marias“ (arab. al-masīh Īsā ibn Maryam) genannt: in Sure 3,45; 4,157.171; 5,17 (2x).72.75; 9,31.

Die etymologische Herleitung und inhaltliche Bedeutung des Messiastitels im Koran wird von den klassischen muslimischen Kommentatoren recht unterschiedlich erklärt. Sie weicht in jedem Fall erheblich von den Bedeutungen ab, die aus der jüdisch-christlichen Tradition bekannt sind.14 Der ursprünglich hebräische Ausdruck Messias (eigentlich Maschiach) begegnet in der hebräischen Bibel als Titel für den zum König „gesalbten“ Herrscher Israels. Nach dem Babylonischen Exil wird der Titel zum Eigennamen für den zukünftig erwarteten Herrscher aus dem Geschlecht Davids, der Israel politisch befreien und durch die Macht seines Wortes „bis an die Enden der Erde“ in Frieden und Gerechtigkeit regieren soll. Diese apokalyptisch-jüdische Hoffnung depotenzierte im Laufe der Zeit die Vorstellung vom Messias als einer politisch-herrschaftlichen Machtfigur im selben Maße wie sie seinen Heilsanspruch universalisierte. Das Urchristentum als anfänglich innerjüdische messianische Bewegung übernahm bekanntlich die apokalyptisch-jüdischen Vorstellungen und übertrug sie auf Jesus – er sei der verheißene Messias. Zugleich wurde der Titel in seiner Bedeutung nach und nach metaphysisch aufgeladen: Aus der zwar königlichen, doch rein menschlichen Messiasfigur im Judentum und Judenchristentum wurde der göttliche Christus als Allherrschergestalt (gr. pantokrátor) des Heidenchristentums. Mit derlei Vorstellungen sowie den damit verbundenen Rivalitäten zwischen Juden und Christen hat der Koran nichts im Sinn, wenn er Jesus „den Messias“ nennt. Im Koran selbst begegnet der Titel schlicht als Eigenname Jesu ohne einen besonderen heilsgeschichtlichen Anspruch. Der Messiastitel ist gleichsam theologisch depotenziert. Später haben die Koranexegeten den Titel in ganz eigener Weise interpretiert. Die am häufigsten anzutreffenden Deutungen, die unterschiedliche Aspekte der Wirksamkeit Jesu in den Blick nehmen, verstehen den Titel entweder in einem aktiven (Nr. 1–2) oder einem passiven Sinne (Nr. 3–4). Im Folgenden seien diese vier wichtigsten Gesichtspunkte des muslimischen Messiasbekenntnisses kurz dargestellt.

1. „Der Messias“ meint zunächst Jesus, den rastlos Wandernden. Die meisten klassischen Kommentatoren halten es für möglich, dass sich der Titel al-masīh vom arabischen Verb sāha (wandern, reisen) herleitet. Jesus war der ruhe- und heimatlose Wanderprophet. Dieser Deutung sind später auch die vom Sufismus, also der Mystik geprägten Koranausleger gefolgt. Sie sehen im Messias Jesus den „reisenden Propheten“, den Pilger schlechthin, den asketischen Wanderer vom Diesseits zum Jenseits. Er ist der Imām al-sā ’ihīn, der Führer und das Vorbild aller spirituellen Wanderschaft in Armut und Bedürfnislosigkeit. So heißt es etwa bei dem Perser Kazaruni (gest. 1357) in einem Jesus zugeschriebenen Wort:

„Mein Kleid ist Wolle, mein Brot Frucht, meine Speise Hunger, meine Kerze bei Nacht Mondschein, und zur Abwehr der Kälte (dient mir) die Sonne, und meine Früchte und Duftkräuter sind das, was aus der Erde wächst für die Tiere. Tag und Nacht gehen so über mich hin; ich habe nichts an Kenntnissen, und niemand ist mächtiger als ich!“15

Dieses mystische Verständnis vom Messias Jesus erinnert sehr an die Beschreibung des bedürfnislosen Wanderpredigers in den neutestamentlichen Evangelien, dort allerdings nicht mit dem Messias-, sondern mit dem Menschensohn-Titel verbunden, wenn Jesus indirekt von sich spricht (z.B. Matthäus 8,20): „Die Füchse haben ihre Höhlen und die Vögel ihre Nester; der Menschensohn aber hat keinen Ort, wo er sein Haupt hinlegen kann.“ Das bekannteste muslimische Jesus-Wort, das seine Gesinnung als wandernder Messias zusammenfasst, ist vielfach in der islamischen Überlieferung belegt: „Die Welt ist eine Brücke. Überquere diese Brücke, aber baue nicht (oder: baue kein Haus) auf ihr.“16

2. Mit dem Messiastitel ist nach islamischem Verständnis sodann der salbende Jesus gemeint. In dieser Interpretation wird al-masīh abgeleitet von masaha (berühren, streichen, salben). Hier wird Jesus als großer Arzt und Heiler verehrt, als der er bereits in der gesamten christlichen Evangelienliteratur bezeugt ist. Davon berichtet auch der Koran, wo Jesus von sich sagt (Sure 3,49): „Ich werde Blinde heilen und Aussätzige und werde Tote lebendig machen mit Gottes Erlaubnis.“17 So stellen sich die Kommentatoren vor, wie der Messias Jesus kranke Menschen salbte. Blinden strich er über die Augen und heilte sie. Aussätzige berührte er und sie wurden rein. Waisenkinder streichelte er und weihte sie so für Gott. Zu allen Zeiten haben sich Ärzte in der islamischen Welt Jesus zum Vorbild, gleichsam zum „Heiligen“ ihres Berufsstandes genommen: „Wir sind geschickte Ärzte, denn wir sind Schüler Christi“. Für Mystiker wie den eben zitierten Djalāl ad-Dīn ar-Rūmī (gest. 1273) ist der Heiler Jesus zugleich der große Transformator oder Alchemist der menschlichen Natur. Deren Gewöhnlichkeit („Kupfer“) vermag der Messias in reines Gold zu verwandeln.18

3. Mit dem Messiastitel verbinden sich des Weiteren nach islamischem Verständnis auch zwei passive Bedeutungen. Zunächst meint „der Messias“ der – nämlich durch die Flügel des Engels Gabriel – von jeglicher Sünde Gereinigte. Diese Deutung entspricht den Berichten des Neuen Testaments vom Getauftwerden Jesu durch Johannes im Jordan (z.B. Matthäus 3,13ff.). Der Titel wird aber auch stärker interpretiert: Jesus als der vor aller Sünde Bewahrte. Weil Gott den Messias Jesus durch seinen Engel berührt hat, konnte ihn Satan nicht mehr berühren und zur Sünde verführen. Der Messiastitel rühmt also in dieser Interpretation Jesus als den sündlosen Gesandten Gottes. In derselben Weise hat die islamische Theologie auch von Muhammad und den anderen großen Gesandten Gottes behauptet, sie seien – jedenfalls mit Blick auf ihr prophetisches Wirken – ohne Sünde gewesen. Ein Dogma, das auch in der Christologie der Alten Kirche entwickelt wurde (vgl. Exkurs 3).

4. Eine letzte, ebenfalls passive Interpretation versteht den Titel al-masīh im Sinne von: der Gesegnete. Jesus wird so genannt, weil er gleichsam mit dem Segen Gottes gesalbt wurde. Der Messias ist der besonders von Gott Gesegnete (mubārak), wie er in Sure 19,31 selbst von sich sagt: „Er verlieh mir Segen, wo immer ich auch war.“ Dass der Segen Gottes auf allem ruhte, was Jesus tat, fasst in gewisser Weise alle Bedeutungen des islamisch verstandenen Messiastitels zusammen: Der wandernde, lehrende, heilende und helfende Jesus stand nicht unter der Macht der Sünde oder des Satans, sondern unter dem Segen Gottes.

Bei diesen Interpretationen des Messiastitels durch muslimische Exegeten wird schon jetzt eines sehr deutlich, was sich später auch bei anderen Jesustiteln zeigen wird: Der Titel gewinnt einen ganz anderen Sinn als er in der vorislamischen jüdisch-christlichen Tradition besitzt. Deshalb darf bei der Bezeichnung Jesu als „der Messias“ im Koran keine irgendwie christlich-theologische Bedeutung etwa im Sinne der Zweinaturenlehre („wahrer Gott und wahrer Mensch“) unterstellt bzw. hineingelesen werden, wie das christliche Theologen seit den Tagen des Johannes von Damaskus und Theodor Abu Qurra im 8./9. Jahrhundert immer wieder getan haben. Der Koran hat das skizzierte heilsgeschichtliche Problem der Messianität Jesu in dem Sinne, wie es kontrovers zwischen Juden und Christen bis heute diskutiert wird, nirgendwo vor Augen. An seinen eigenen theologischen Voraussetzungen gemessen impliziert der aus dem Judenchristentum überkommene Titel al-masīh im Koran keinerlei wie auch immer verstandene göttliche Würde Jesu. Jesus ist, gemäß der Darstellung als koranischer Messias, ein Mensch. Ein besonderer Mensch, das sicherlich, aber nicht mehr als ein Mensch. Darin sind sich koranische und islamische Lehre einig mit den ersten Generationen der Christenheit. Im Judenchristentum hatte der Messiastitel eine überragende Bedeutung im Sinne einer adoptianischen Christologie: der Einsetzung Jesu zum „Sohn Gottes“, im übertragenen Sinne des Wortes, durch den „Adoptionsakt“ seiner Auferweckung vom Tod. In einigen altorientalischen Kirchen – besonders in der Äthiopisch-Orthodoxen Kirche – wurde später der Messiastitel ebenfalls zentral, doch nun umgekehrt als Ausdruck einer miaphysitischen Deszendenz-Christologie (Herabstieg Jesu als eines göttlichen Messias). Muslimische Theologen wie beispielsweise der indische Gelehrte Muhammad Hamidullah (gest. 2002) betonen demgegenüber mit Recht, dass der Koran christlich vorgeprägten Titeln in der Regel einen neuen, nämlich theozentrischen Sinn gegeben habe: „Der Koran lässt sich dazu herab, bestimmte gängige Begriffe (beispielsweise bei den Christen) zu gebrauchen – doch so, dass er ihnen allen einen neuen Sinn, eine neue Richtung, in Übereinstimmung mit dem reinen Monotheismus gibt.“19

Um hier Missverständnissen auf beiden Seiten vorzubeugen und auch, um die jüdische Herkunft sowie die judenchristliche Vermittlung dieses Titels deutlich zu machen, sollte man das koranische al-masīh im Deutschen besser nicht mit „(der) Christus“, sondern mit „der Messias“ wiedergeben, wie das etwa Rückert, Henning, Bell und Blachère in ihren Koranübersetzungen getan haben. Es macht theologisch eben einen bedeutenden Unterschied, ob ein arabisch sprechender Christ zu Jesus al-masīh sagt oder ihn in Gebet bzw. gottesdienstlicher Liturgie so anruft, oder ob dies ein Muslim im Sinne des Korans tut und dabei die Gestalt Jesu in völlig anderer Weise vor Augen hat. Die tendenziell christianisierende Übersetzung von al-masīh mit „Christus“ – so Paret, Khoury, Zirker und Bobzin – lässt zumindest indirekt christologische Obertöne einer Göttlichkeit oder zumindest einer Gottähnlichkeit Jesu anklingen, die im koranischen al-masīh gerade nicht gemeint und nicht gewollt sind. Dies sollte m. E. jedoch eine Übersetzung, die dem Selbstverständnis des Korans zu entsprechen versucht berücksichtigen. Im Folgenden werde ich darum bei allen Zitaten aus Bobzins Übersetzung das Wort „Christus“ stets durch „der Messias“ ersetzen. Konsequenterweise bevorzuge ich daher auch in der Beschreibung der theologischen Lehre des Korans über Jesus die Ausdrücke „Messianologie“ oder „Messiasbekenntnis“ statt wie in meinen früheren Veröffentlichungen den Begriff „Christologie“ zu benutzen. Auch wenn der Koran den ursprünglich jüdischen Titel eines „Messias“ inhaltlich noch einmal anders bestimmt als es zuvor Juden und Christen getan haben, haben die jüdische, nicht auf Jesus von Nazareth bezogene Messianologie sowie das koranische, auf Jesus bezogene Messiasbekenntnis etwas ganz Entscheidendes gemeinsam: Der Träger dieses Titels ist eine rein menschliche und keine göttliche Gestalt, wie das in der christlichen Christologie überwiegend der Fall ist.

13 Die zahlreichen etymologischen Hypothesen von Īsā – eigentlich: cĪsā – diskutiert Hayek, L’Origine des termes cĪsā Al-Maīh (Jésus-Christ) dans le Coran, in: L’Orient Syrien 7, 1962, S. 227ff. Am wahrscheinlichsten dürfte eine syrische Herkunft sein. Die Nestorianer und Mandäer Ostsyriens nannten Jesus ’Ishō, die Jakobiten Westsyriens hingegen Yeshūc. Vgl. auch Luxenberg, Die syro-aramäische Lesart des Koran, Berlin 4. Auflage 2011, S. 48–51.

14 Zum Folgenden vgl. Graf, Wie ist das Wort al-Masīh zu übersetzen?, in: ZDMG 104, 1954, S. 119–123; Roncaglia, Éléments Ébionites et Elkésaïtes dans le Coran, in: Proche-Orient Chrétien 21, 1971, S. 114ff.; Schoeps, Theologie und Geschichte des Judenchristentums, Tübingen 1949, S. 71ff.; Wensinck, Art. Al-Masīh, in: EI2, Bd. 6, 1991, S. 726.

15 Zit. nach Schimmel, Jesus und Maria in der islamischen Mystik, München 1996, S. 38. Vgl. dort das gesamte Kapitel S. 35–48 mit zahlreichen weiteren Texten.

16 Zit. nach Khalidi, Der muslimische Jesus, Düsseldorf 2002, S. 113.

17 Bobzin formuliert hier und an den Parallelstellen immer „mit Erlaubnis Gottes“. Nach meinem Gefühl für die deutsche Sprache sollte es entweder „mit Gottes Erlaubnis“ (so fast alle Übersetzer) oder „mit der Erlaubnis Gottes“ heißen. Ich erlaube mir dementsprechend Bobzin zu korrigieren.

18 Zu Jesus als Arzt vgl. Schimmel, Jesus und Maria in der islamischen Mystik, a.a.O. S. 75ff., wo sich auch das Rūmī-Zitat im Haupttext findet (S. 79).

19 Le Prophète de l‘Islam, Paris 1959, S. 424. Vgl. auch S. 428.

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