Читать книгу Im Land unter dem Sternbild - Martin Carter - Страница 3
ОглавлениеProlog
London 1893
Es war früher Abend. Die Sonne glühte schwach orange am fernen Horizont. Ihre letzten warmen Strahlen des Tages spendeten dem prachtvollem Universitätsgebäude am Burlington Gardens im Stadtteil May Fair einen Rest Licht. Die großen langgezogenen Fenster im Flur warfen lange Schatten auf kunstvolle Ritterrüstungen und Marmorbüsten. Ein unheimliches Licht- und Schattenspiel ließ die Gesichter lebendig werden. Mit ihren zeitlosen Blicken verfolgten die steinernen Gesichtszüge den Weg eines Mannes, dessen Schritte gespenstisch durch die hohen Flure hallten. Der Mann schritt erhaben, mit hochgerichtetem Haupt durch die menschenleeren steinernen Korridore.
Trotz des erhobenen Hauptes, behielt James Flanagan akribisch den glatt polierten Steinboden im Blick. Hier und da, erblickte er matte Stellen, sowie Wasserflecke. Der Boden war nicht gut genug gereinigt worden, sagte er zu sich, und er würde sich den Verantwortlichen dafür später zur Brust nehmen. Flanagan hasste es, wenn Aufgaben nicht perfekt erledigt wurden. Er - war immer hundertprozentig. Das schon sein Aussehen und Auftreten. Die grauen Haare, stets in einer Linie nach hinten gekämmt. Um dem markanten Gesicht mehr Ausdrucksstärke zu verleihen, achtete er darauf keinen Bartschatten durchschimmern zu lassen, weshalb er sich täglich viermal rasierte. Die schwarzweiße Uniform mit den goldenen Verziehrungen saß maßgeschneidert, die Fliege war perfekt gebunden, die Hände in lupenreinen weißen Handschuhen gehüllt und die schwarzen Lederschuhe wurden stündlich auf Hochglanz poliert. All dies nützte nichts ohne eine perfekte Haltung. Ein gerader Gang mit durchgedrücktem Rücken und kräftigen, aber nicht zu lauten Schritten. Wenn er anderen Menschen so begegnete, sahen alle, dass sein Herr eine wichtige Persönlichkeit war. Er wusste, sich geschickt im Hintergrund zu halten. Nie durfte ein Diener zu sehr auffallen, immer musste er seinem Herrn und Gentleman vermitteln die wichtigste Person überhaupt zu sein. Ein guter Diener war die rechte Hand des Herrn, ohne das es diesem auffiel.
Mit seinen siebenundfünfzig Jahren konnte er stolz von sich behaupten seinen Lebenstraum erfüllt zu haben. Eine lebenslange Anstellung als persönlicher Diener des Kanzlers der Londoner Universität. Ein echter britischer Traum. Da Queen Victoria seinen Herrn kürzlich adelte, fühlte sich Flanagan wichtiger denn je. Gesellschaftlich stand er bestens da und dank jenem Ruhm buhlten Lords und Minister ihn zu verpflichten. Was er bisher dankend abgelehnt hatte, so erlebte er für sich einen Hauch von Macht.
Doch heute lag ein Schatten auf seinem Ehrgefühl. Die derzeitige Aufgabe schmeckte zu bitter. Sie war unter seiner Würde. Zum einfachen Boten degradiert fühlte er sich. Ihm oblag es ein Paket zu überbringen. Man stelle es sich vor, ein einfaches Paket und dann noch nicht einmal für den Kanzler. Warum war nur kein Dienstmädchen zur Hand, wenn es wirklich mal gebraucht wurde?
Das Paket samt Namenskärtchen hatte vor dem Eingang der Universität gelegen. Da war jemand zu faul gewesen einen Job zu erledigen. Diese Jugend von heute, sagte er zu sich. Kaum hatten sie eine Aufgabe, überlegten sie schon, wie sie sie abgaben oder liegen ließen. Nur noch Flausen im Kopf. Er sah es ja an den Studenten, wie sie Andere für ihre Studien einbanden, damit diese so wenig wie möglich selbst tun mussten. Vergnügungen standen im Vordergrund. Die Jugend wurde immer dekadenter.
Leidtragend waren Menschen, wie er, die die Aufgaben anderer zu Ende führen mussten. Wäre der Empfänger nicht jemand gewesen, den der Kanzler besonders förderte, hätte er das Paket nicht angerührt. Flanagan hielt von diesem jungen Tutor überhaupt nichts. Vielleicht lag es daran, dass er dessen Namen oft vergaß. Er war ihm irgendwie nicht wichtig genug. Aber davon durfte niemand wissen. Zu schnell könnte sich das Gerücht verbreiten, er wäre vermessen und damit der makellose Ruf dahin.
Der junge Tutor war ein überaus intelligenter Mann, mit gesellschaftlichen Ansichten und Ideologien, die einen rebellischen Geist widerspiegelten. Eine neue Generation.
Und so einer nennt sich Brite, tadelte Flanagan.
Aber das, würde sich bestimmt bald geben, er hatte mit schweren Lungenblutungen zu kämpfen und lange dauerte es bestimmt nicht mehr bis ... die Zeit ihn holte.
Flanagan hatte den Wohnbereich des Vizekanzlers erreicht. Da dieser gerade auf Exkursion in Südafrika weilte, durfte der junge Tutor sich hier erholen. Flanagan klopfte an die große schwere Eichenholztür, wartete einige Sekunden und öffnete dann. Im Speisesalon am gegenüberliegenden Ende des langen Esstisches aus Mahagoniholz saß der junge Mann. Mit gesenktem Haupt löffelte er eine Suppe. Es duftete nach Currygewürz und Huhn.
So riecht es nur, wenn die gute alte Marie kocht, sinnierte Flanagan, ich sollte nachher mal bei ihr vorbeischauen.
Marie kochte nur selten und wenn, dann ausschließlich für den Kanzler, ansonsten hatte sie genügend Küchenhilfen. Marie liebte es, diese streng zu behandeln und stetig herumzuscheuchen. Nicht jeder durfte Maries Speisen auch nur kosten. Also mochte Marie ihn oder sie tat es nur, um ihm etwas Gutes in seinen letzten Stunden zu erweisen.
„Flanagan, was gibt … es.“ Schnell ließ der junge Mann den Löffel in die Suppe fallen, langte nach einem weißen Stofftaschentuch neben sich und hielt es gerade noch rechtzeitig vor den Mund. Der Husten war laut und keuchend. Er raubte ihm die Luft und der Kopf wurde hochrot, wie eine Tomate.
Ein rasselnder Husten - gar nicht gut.
Das Taschentuch verfärbte sich rot. Er spuckte Blut. Flanagans Vermutung bestätigte sich.
„Dieses Paket wurde für Sie abgegeben.“
„Für mich? Wer hat es abgegeben?“
„Das weiß ich leider nicht. Auf der Karte stand nur Ihr Name, Sir.“ Das Sir kam ihm sehr schwer über die Lippen.
Flanagan stellte das Paket auf den Esstisch, zog das zugehörige Namenskärtchen mit einer eleganten Handbewegung aus dem Jackett und legte es daneben. Dann dreht er sich wortlos um und ließ den Tutor allein. Die Eichentür krachte ins Schloss.
Die Augen des jungen Mannes richteten sich auf das Paket. Er betrachtete die beige fleckige Leinenverpackung, sowie die blaue kordelartige Schnur drum herum. Die Neugierde wuchs. Mit lautem Quietschen schob er den Stuhl zurück, stand auf und umwanderte den Esstisch. Er zitterte beim gehen; die Krankheit schwächte jeden Schritt. Aufgeregt nahm er das Namenskärtchen hoch. Sein Name war in wunderschön geschwungenen Lettern geschrieben. Auf der Rückseite klebte dunkelroter Siegellack. Das hinein gedrückte Siegel bestand aus einem großen geschwungenen Buchstaben, dem N. Es besaß die gleiche Eleganz, wie der handgeschriebene Name.
„Wer könnte dir das geschickt haben, Bertie?“ Fragte er laut, als würde jemand im Raum antworten und krauelte dabei den sauber geschnittenen Schnurbart. Wen kannte er alles mit den Initialen N? Ihm wollte niemand einfallen.
Bertie nahm Kärtchen und Paket hoch und trug es ins Studienzimmer. Es war schwerer als angenommen. Das Studienzimmer glich einer zweistöckigen Bibliothek. Rundherum standen es hohe gefüllte Bücherregale an denen ab und an eine schmale Leiter angebracht war, um nicht nur das oberste Regal zu erreichen, sondern ebenfalls die schmalen Balustraden rund um den zweiten Stock. Dort wechselten sich die Bücherregale mit Fenstern ab. Das einfallende Licht erhellte den in der Mitte positionierten Schreibtisch samt Sessel aus rotem Leder. Er stellte das Paket mittig auf den unaufgeräumten Schreibtisch. Um mehr Platz zu haben, nahm er zahlreiche Bücher herunter und stapelte sie auf dem Boden. Alles Fachbücher über Medikamente, seltene Krankheiten und artverwandte Themen. Zuletzt hatte er ein Buch über Besessenheit gelesen oder mehr verschlungen. Gerade die Machtlosigkeit des Betroffenen hierin ging ihm sehr nahe.
All jene Bücher waren von letzter Nacht, als er wieder nicht schlafen konnte. Der ständige Husten hielt ihn wie so oft wach, außerdem gärte in ihm das Gefühl der Hilflosigkeit. Der Universitätsarzt hatte ihm alle möglichen Medikamente gegeben, aber die Lungenblutungen hörten nicht auf. Manchmal fühlte es sich an, als ertrinke er beim Atmen. Wie würde es weitergehen? Mit der Ungewissheit schwand die Hoffnung. Die eigene Suche nach einer Heilung sollte sie ihm zurückbringen.
Eine neue Hustenattacke ergriff ihn. Entkräftet ließ er sich in den weichen Sessel aus edlem Rinderleder fallen und wischte Blut und Schleim vom Mund ab. Während er wieder Kräfte sammelte, schaute er das geheimnisvolle Paket an.
„So, nun öffne es endlich. Wenn du noch länger zögerst, bist du tot, ehe du weißt, was darin ist.“
Mit neuen Kräften begann er auszupacken. Es dauerte einige Minuten bis der Knoten entwirrt und der Inhalt vom Leinen befreit war. Der Leinen fühlte sich glatt an, wie mit Wachs eingerieben. Sollte es Wasser abweisend sein? Auch an der blauen Kordel stimmte etwas nicht, es waren zu viele Knoten darin.
Im Leinen eingehüllt war eine unterarmlange und handbreite Truhe aus dunklem mattem Holz. Sie wirkte sehr edel durch zahlreiche handgeschnitzte Verzierungen. Auf dem Deckel prangte ebenfalls das Siegel mit dem Buchstaben N. Mit den Fingerspitzen fühlte er den Buchstaben nach.
Diese Truhe ist keine einfache Truhe, sie strahlt etwas Persönliches aus, rezensierte er, wer auch immer sie mir schickte, hatte einen verdammt wichtigen Grund.
Es gab kein Schloss, nur ein kleiner hölzerner Riegel. Etwas schwergängig ließ er sich zur Seite schieben. Mit klopfendem Herzen öffnete Bertie den Deckel. Das Innere war mit dunkelblauem Samt bezogen.
Die Hände zitterten als er den Inhalt herausnahm. Zwei kleine Beutel - einer aus Leder, der Andere aus schwarzem Samtstoff, fünf ledergebundene Bücher und ein kleiner Stapel gefalteter Papiere. Die Papiere rollten sich sogleich zusammen – sie waren also sehr lange in einer Rolle aufbewahrt worden. Er erkannte Zeichnungen darauf. Doch seine Aufmerksamkeit galt den Büchern. Die Zahlen von eins bis fünf waren mit goldenen Lettern jeweils in die Ledereinbände graviert. Durchnummeriert.
Aufgeregt nahm er das Buch mit der Nummer eins und lehnte sich in den Sessel zurück. Es fühlte sich so an, als würde er eine Erstausgabe von Shakespeares ‚Romeo und Julia’ in den Händen halten. Wie etwas besonders kostbares. Vorsichtig schlug er das Tagebuch auf. Das Papier war vergilbt und an den Rändern von der Zeit angegriffen. Um sich einen Überblick zu verschaffen blätterte er drin herum. Es war handgeschrieben und kam ihm wie ein Tagebuch vor, auch wenn es nicht ganz so danach aussah. Was mehr verwirrte war die Sprache in der alles verfasst war. Französisch. Wer schickte ihm französische Bücher? Zum Glück konnte er die Sprache, wenn auch nicht perfekt.
Er blätterte zur ersten Seite und begann zu lesen.
***
„Im Frühjahr 1863 ging es mir nicht gut. Ich fühlte mich leer und verbraucht. Mein erster wirklich guter Roman war gerade erschienen und Pierre-Jules wollte mehr davon. Er glaubte fest an mich und meinte, dass ich sogar von meinem Schreibtalent leben könnte. War dem so? Ich war nicht sicher. Nicht die kleinste Idee hatte ich, worüber ich eine neue Geschichte schreiben könnte. War ich schon ausgebrannt? Honorine versuchte mir Mut zu machen und dafür liebte ich sie. Es war ihr Vorschlag gewesen, allein in meine Heimatstadt zu reisen, hier Bekannte und Verwandte wiederzusehen. Also bei meinen Wurzeln Ideen sammeln.
Hmm, Honorine-Anne-Hèbè – ich glaube auch wegen ihres wunderschönen Namens hatte ich sie damals geheiratet.
Also, da war ich nun ohne meine geliebte Frau und meine drei Kinder in der wunderschönen Stadt Nantes an Frankreichs Küste.
Na ja, jedenfalls nicht im Moment. Ich liebe nämlich auch das Meer und so begleitete ich für ein paar Tage meinen Freund Kapitän Jacques Reno auf dem Frachtschiff LEVIN. Die LEVIN gehörte zum Schiffstyp Schnau und war über vierzig Jahre alt. Reno hatte sie, soweit er mir erzählte von seinem Vater übernommen. Die Zeit war nicht ganz so gnädig mit der einst stolzen LEVIN umgegangen. Farbe fehlte oder blätterte ab, ständig gab es kleine Reparaturen und Segel mussten geflickt werden. Ich bin mehrfach bereits auf morsches Holz getreten und einigen Dielen unter Deck wich jeder aus. Eigentlich bräuchte Reno ein neues Schiff, aber dazu brachten die wenigen Aufträge einfach nichts ein. Es reichte gerade für sich und seine kleine Crew zum einfachen Leben.
Wir waren mit einem Tag Verspätung auf dem Rückweg von Noirmoutier nach Nantes. Die Schuld trug ein Jahrhundertsturm wie ich empfand, Kapitän Reno nannte ihn lediglich eine steife Brise; er hatte uns gezwungen die Segel zu raffen und die Nacht über zu ankern.
„GABRIEL!“ Die laute Stimme weckte mich aus meinen Gedanken. „Der Seetang verschwindet nicht von alleine!“
„Tut mir Leid, Kapitän.“ Antwortete ich knapp und sammelte weiter Tang im Holzeimer neben mir. Der Sturm hatte so sehr das Meer aufgewühlt, das er Tang vom Meeresboden raufgeholt und über das ganze Deck in der Nacht verteilt hatte. Da nun die Sonne schien, fing der Tang an grässlich zu stinken. Mit dem Unterarm wischte ich mir Schweiß vom Gesicht und schmierte mir so Tank in den Vollbart.
Kapitän Reno war ein großartiger Kerl, dem ich viel verdankte. Er hatte mich dem Meer und der Seefahrt näher gebracht. Und er war der einzige Mensch, der mich bei meinem zweiten Vornamen rief. Alle anderen sagten Jules zu mir.
„Heh, Verne! Hast du den Kapitän nicht gehört? Der Tang muss weg!“ Gut, abgesehen von Franck dem ersten Maat, aber der war eh keine wirkliche Leuchte. Er konnte am besten die Befehle vom Kapitän wiederholen. Da kaum Zähne im Mund, klang in seinen Worten immer ein Pfeifen mit. Wir verstanden uns nicht so gut. Doch egal, was ich von ihm hielt, seinen Job, die Seefahrt, beherrschte er hervorragend.“
***
Bertie schüttelte den Kopf. Verne? Das konnte nicht sein. War von DEM Verne die Rede? Jules Verne, der diese großartigen phantastischen Romane geschrieben hatte? In seiner Jugend hatte er dessen Bücher nur so verschlungen und sich ebenfalls gewünscht, solche Abenteuer erleben zu können. Aber warum schickte man ihm, einem Todkranken, persönliche Aufzeichnungen von Jules Verne?
So sehr er sich anstrengte, ihm viel kein Grund ein. Mochte des Rätsels Lösung in den Büchern stecken?
Bertie las weiter.