Читать книгу Im Land unter dem Sternbild - Martin Carter - Страница 6
ОглавлениеKapitel 3 - Fremde Sprache
Die Schwärze lichtete sich vor meinen Augen und Helligkeit fing an mich zu erfüllen. Der Kopf wankte hin und her und ich fühlte plötzlich etwas wieder. Obwohl das nicht das Gefühl war, was ich erwartete. Von den Zehen bis zur Brust kribbelte die Haut, als würden tausende von Insekten mit kleinen Beinchen darüber laufen.
Ich riss die Augen auf, hob den Kopf und erbrach zur Seite. Entkräftet blieb ich einige Minuten liegen und starrte auf eine dunkle Holzdecke. Noch immer schwankte alles und ich merkte, dass es nicht mein Kopf, sondern der Ort an dem ich mich befand, war. Ich kannte diese Art von Schwanken, es war der Wellengang auf hoher See und diese Erkenntnis schockte. Ich musste auf einem Schiff sein.
Vorsichtig versuche ich mit den verbliebenen Kräften aufzustehen und mir ein Bild von diesem Ort zu machen. Ich war in einem Holzverschlag eingesperrt, dessen einzige Beleuchtung durch ein vergittertes Fenster in der Tür kam. Das Licht stammte wiederum von einer im Gang davor hängenden Petroleumlampe, die hin und her schwankte. Mein Gefängnis war höchstens zwei Meter tief und einen breit. Es stank fürchterlich. Zuerst dachte ich, es sei mein Erbrochenes, doch der Geruch sprach Bände. Ahnend, das vor mir schon andere den Luxus genossen hatten, hier drin zu verkehren.
Ich versuchte die letzte Erinnerung aufzurufen und sah schemenhaft den Überfall der Inder im Pensionszimmer vor mir. Auch an den scharfen Dolch erinnerte ich mich und fasste über die rechte Kinnhälfte. Die Erinnerung hatte nicht getrogen, der Bart war an dieser Stelle glatt abrasiert. Auf einen Blick in den Spiegel wollte ich vorerst verzichten. Ich musste echt komisch mit einem halben Vollbart aussehen.
Mit wackeligen Knien schleppte mich zur Gefängnistür. Ich rüttelte vergeblich daran und sah durch Gitterfenster ein rostiges Vorhängeschloss die Tür verriegeln. Ein metallisches Klirren drang an mein Ohr beim aufstehen und sah, das ich mit einer Fußfessel am rechten Fuß an die Rückwand gekettet war. Da wollte jemand auf Nummer sicher gehen, dass ich nicht abhaute. Dabei bemerkte ich, das ich nackten Fußes dastand. Überhaupt besaß ich nur noch Hemd, Hose und die Unterwäsche darunter. Von den Schuhen fehlte jede Spur.
Ich blickte durchs Gitterfenster in den leeren Korridor, in der Hoffnung Hinweise zu finden, wie es weitergehen würde.
„Hallo? Ist da jemand?“ rief ich, aber auf eine Antwort wartete ich vergebens. Ich rief noch einmal, diesmal auf Englisch, doch auch jetzt wollte niemand mir Beachtung schenken.
Da entdeckte ich rechts in einer Korridornische zwei Füße am Boden liegen. Es sah so aus, als säße dort ein Mensch. Leider war der Rest des Körpers im Dunkeln der Nische nicht zu sehen, was ich aber sah, waren die Fußfesseln, die auch er trug. Jemand mit gleichem Schicksal.
„Heh!!! Kannst Du mich hören? … Bitte antworte doch!“
Das Schiff geriet in stärkeren Wellengang und ließ die Petroleumlampe mehr schwanken. Für einen Moment sah ich den anderen Gefangenen deutlich und schrak zusammen. Ich kannte ihn, es war Franck, der Erste Maat der LEVIN. Doch er würde mir nie antworten. Die gebrochenen Augen und das geronnene Blut überm Oberkörper sagen alles. Ihm war nicht das Glück zuteil gewesen, nur den Bart gestutzt zu bekommen.
Verzweifelt mit dem Gedanken im Hinterkopf auch so zu enden, trat ich in die Zelle zurück, setzte mich hin und lehnte gegen die nächste Holzwand. Wie würde es weitergehen und warum lebte ich überhaupt noch? Auch fragte ich mich, warum Franck gefangen und getötet wurde. In mir kam der Verdacht hoch, nun zu wissen, warum die LEVIN bisher nicht zurückgekehrt war. Sie würde ihren Heimathafen nie wieder anlaufen.
Ich nahm mir die Zeit und trauerte über den Verlust meiner Freunde. Dachte an Kapitän Reno, wie ich ihm das erste Mal im Hafen von Nantes begegnete, wie er mich auf die LEVIN einlud und er mir so vieles zeigte. Die Gesichter der Crew darunter Jean und Luc erschienen vor meinem geistigen Auge. Es tat sehr weh, zu wissen oder zu ahnen, das sie nicht mehr am Leben sein würden. Doch auch wegen meinem Schicksal weinte ich und begann deshalb zu beten.
Ich weiß nicht, wie lange ich trauerte und verzweifelte, aber irgendwann schlief ich entkräftet ein.
Vom Grummeln meines Magens geweckt wurde mir bewusst, das ich schon länger weder gegessen, noch getrunken hatte. Wie lange befand ich mich eigentlich schon in diesem Gefängnis? Und warum war ich überhaupt noch am Leben? Diese Fragen nagten an mir. In der Pension sah meine Zukunft überhaupt nicht rosig aus, ich dachte man würde mir die Kehle durchschneiden. Gerettet haben mich scheinbar Alexandres Zeichnungen von den Symbolen. Die haben alles riskiert, um an die Muschel mit den Symbolen zu gelangen. Schreckten weder vor Mord, noch vor Entführung zurück.
Warum war sie ihnen so wichtig? Bestimmt dachten die, weil ich Zeichnungen von den Symbolen hatte, dass ich mehr über sie wusste als angenommen und wollten kein Risiko eingehen. Sie mussten sicher sein, was ich wusste. Man waren das komplizierte Gedanken. Aber es brachte mich näher an einen Vorteil heran, den, wenn ich ihn richtig ausspielte das Leben verlängerte.
Metallisches Geklapper erschreckte. Jemand öffnete das Vorhängeschloss, was wohl bedeutete, dass sie mich holten.
Das Metallscharnier quietsche fürchterlich als die Holztür aufschwang. Ich rechnete mit allem und jedem, und dennoch war ich überrascht. Vor mir stand ein kleiner dunkelhäutiger Junge in zerrissenen und verdreckten Leinen. Er war vielleicht gerade 8 Jahre alt. Die schwarzen Haare zerzaust und verfilzt, was ihn wie einen Straßenjungen wirken ließ. Vielleicht war er es in seiner Heimat Indien gewesen, denn ich konnte Ähnlichkeiten im Gesicht mit meinen Kidnappern feststellen. Barfuss trat er näher heran. Der Junge wirkte freundlich mit einer etwas dicklichen Stupsnase und großen braunen Augen. In den Händen trug er eine Tonschale und einen Becher, die er mir reichte. Mit zitternden Fingern nahm ich sie entgehen und merkte, wie wenig Kraft ich eigentlich noch hatte, als mir die Schale aus der Hand glitt. Zu Glück blieb sie heil. Nur ein Teil des Inhalts verstreute sich über den Boden.
Die Schale war gefüllt mit gekochtem Reis, also wollte man sichergehen, dass ich am Leben blieb. Vorsichtig stellte ich den mit Wasser gefüllten Becher neben die Schale.
Währenddessen schloss der Junge die Tür.
„Warte!“ rief ich und merkte, das ich kaum noch Spucke besaß. „Wer bist du?“
Der Junge zögerte und schaute mich unsicher an. Ich hatte ihn extra in Englisch angesprochen, weil ich wusste, dass diese Sprache durch die Britische Kolonisierung in Indien weit verbreitet war.
„Wie heißt du? … Ich bin Jules.“ Sagte ich und zeigte dabei auf mich, doch auch diesmal bekam ich keine Antwort.
Dann zeigte ich aufs Essen und neigte den Kopf.
„Danke.“
Er schloss die Tür ganz und verriegelte sie. Ich hoffte, er hatte meine Dankbarkeit verstanden.
Vorsichtig roch ich am Becher, es schien wirklich Wasser zu sein. Ich nippte zaghaft daran. Es schmeckte, obwohl ich es leicht salzig empfand, aber es tat verdammt gut. Der Reis war kalt, klebrig und hatte eine gelbliche Färbung, die vermutlich von Gewürzen stammte. Ich aß ihn und war erstaunt, dass er mir schmeckte trotz der kräftigen Würze. Der Hunger war so groß, das ich vergaß das Essen einzuteilen und aufaß. Zum Glück hatte ich mich bei dem Wasser mehr unter Kontrolle und es hielt einige Zeit länger.
Stunden vergingen. Ich wusste nichts anzufangen als zu grübeln und zu schlafen. Irgendwann war der Durst zurückgekehrt und ich verfluchte mich, mit dem Wasser nicht noch länger Hausgehalten zu haben. Warum war ich nur so durstig? Mein Mund schien mit der Zeit immer mehr auszutrocknen.
Es vergingen weitere Stunden und ich hatte längst mein Zeitgefühl verloren. Ohne Blick zum Himmel konnte ich nicht sagen, ob es gerade finstere Nacht oder helllichter Tag war. Ich wusste nicht warum, aber der Durst wurde immer schlimmer und nahm mir jede Kraft.
Irgendwann hörte ich im Halbschlaf, wie jemand wieder meine Gefängnistür öffnete und schaute hoch, in der Hoffnung den Jungen wiederzusehen. Doch diesmal blickte ein hochgewachsener Inder von oben auf mich. Ich fragte mich, ob es derselbe war, der mir mit seinem Dolch den Bart stutzte. Er war bestimmt zwei Meter groß und hatte die Statur eines Schranks. Markant war die breite Narbe auf der linken Wange. Ihn hatte ich damals im Hafen von Nantes gesehen. In seiner großen Hand, einer Bärenpranke gleich, hielt er einen kleinen Schlüssel, was das Bild, wie er meine Fußfessel öffnete, irgendwie surreal gestaltete. Dann packte die Pranke mich und zog mich auf die wackeligen Füße. Er schubste mich den Korridor hinunter, dabei wäre ich beinahe hingefallen.
Wenn meine Schiffskenntnisse nicht trogen, wurde ich in Richtung Heck geleitet. Nach etlichen Metern sah ich eine Treppe, die hinauf führte und davor meinen Essensjungen. Der Kleine saß am Boden und schruppte das Deck mit einer alten Bürste. Auf dem Boden vor sich hatte er Dreckwasser aus einem verbeulten Eimer verteilt und scheuerte mit der Bürste darin. Der Inder sah den Jungen und schimpfte. Als dieser nicht gleich aus dem Weg kroch, trat er nach ihm. Der Junge stöhnte auf und antwortete kleinlaut mit sich entschuldigenden Gesten. Obwohl ich die Sprache nicht verstand, wusste ich was gesagt wurde. Der Junge tat mir leid, denn so, wie Dreck behandelt zu werden, verdiente niemand.
Als der Inder merkte, wie ich dem Jungen Aufmerksamkeit schenkte, gab er mir mit einem unwirschen Kommentar einen harten Schubs die Treppe hinauf. Weiter wurde ich durch eine hübsch verzierte Holztür geführt und staunte nicht schlecht. Ich war in der Kapitänskajüte gelandet. Die großen schrägen Fenster zum Heck hinaus gaben genug Licht, um die Kajüte zu beleuchten. Ich konnte sehen, dass es mitten am Tag war.
Davor stand ein großer edler Holzschreibtisch mit einem Sessel aus rotem Samtbezug dahinter. Der einfache Holzstuhl davor, war ein krasses Gegenteil dazu. Rechts zierten Schränke und Regale mit zahlreichen Waffen. Es schien eine Sammlung zu sein, deren Hauptaugenmerk auf Schwerter und Säbel gerichtet war. Ich erkannte einen französischen Rapier und zahlreiche kleine Dolche. Neben dem Schreibtisch stand ein großer Globus und in der linken Ecke existierte eine gemütliche Koje, wo bestimmt drei Personen gleichzeitig schlafen konnten. Zahlreiche und farbenfrohe Kissen mit goldenen Stickereien lagen überall darauf verstreut. Ich versuche mir ein Gesamtbild zu machen und fand, dass nur die Koje durch die farbenfrohe Art, einen Hauch Indien vermittelte. Der Rest wirkte eher Britisch mit seiner Eleganz und Klarheit. Auf dem Schreibtisch lagen ordentlich Seekarten und Navigationsinstrumenten angeordnet. Selbst die Obstschale passte zum Bild. Neben dem Sextanten sah ich meine Ledertasche liegen.
Ich hörte, wie die Kabinentür ins Schloss fiel und ich allein gelassen wurde. Verunsichert schaute ich mich um, doch niemand war zu sehen. Moment, ich irrte. Hinter den Fenstern auf dem schmalen Balkon stand eine Gestalt, die sich gerade umdrehte und durch eine Fenstertür hinterm Schreibtisch eintrat.
Es musste sich um den Kapitän dieser Fregatte handeln. Der Mann war hochgewachsen, aber nicht so stämmig, wie die anderen Inder. Seine schwarze Kleidung, wirkte wie ein Anzug und war doch tuchartig. Den Schulterbereich zierten goldene hinein gestickte Muster. Um die Hüften war ein leuchtendrotes Tuch wie ein Gürtel gebunden. Einen Turban trug er nicht, deshalb kamen die kurzen, dunklen und ordentlich frisierten Haare zur Geltung. Ein leichter Grauschleier in den Seiten wies auf das Alter hin. Ebenfalls vermisste ich einen Bart, doch das glatte Kinn gab ihm eine unheimliche Präsenz. Die harten Augen dagegen machten mir Angst. Mit durchgedrücktem Rücken und nach hinten verschränkten Armen blickte er mich an.
„Setzen Sie sich.“ Die Worte waren in einem klaren britischen Englisch mit Akzent. Er zeigte auf die Obstschale und ich sah ums rechte Handgelenk ein edles Goldarmband baumeln, sowie goldene Ringe mit roten und blauen Edelstein am Mittel- und Ringfinger. „Und nehmen Sie sich einen Pfirsich, dann können wir uns besser unterhalten.“
Mit ruhigen, aber zitternden Fingern nahm ich mir eine Frucht aus der Schale und setzte mich in den harten Stuhl. Dann biss ich in den Pfirsich und kaute auf dem Fruchtfleisch. Es tat gut, sättigte und löschte den Durst zugleich.
„Ich halte Sie für einen intelligenten Mann, Mister Verne. Deshalb nehme ich an, sie verstehen diese Sprache.“
„Wer sind Sie?“ fragte ich in Englisch zurück und war froh, wieder Spucke im Mund zu haben, die mir das Sprechen erleichterte.
„Gleich zur Sache. Sie sind ein Mann nach meinem Geschmack. Mein Name ist Naresh Singh Agarwal, wie Sie richtig annehmen bin ich der Kapitän dieser Fregatte.“
„Was wollen Sie von mir, Kapitän Agarwal?“
„Antworten, wie Sie sich sicher denken können.“ Agarwal setzte sich in den Sessel, nahm einen hellroten Apfel aus der Obstschale und lehnte sich zurück bevor er genüsslich hinein biss. „Fangen wir damit an, was Sie über uns wissen.“
„Abgesehen von Ihrer Herkunft und das Sie schwarze Schiffe bevorzugen?“
„Sie haben Humor, das muss ich Ihnen lassen.“
„Ehrlich gesagt, ich weiß eigentlich gar nichts über Sie.“
„Das ist nicht die Antwort, die ich hören wollte, denn Ihre Papiere sagen etwas völlig Anderes.“
„Sie meinen die Zeichnungen mit den Symbolen.“
„Der gute Herr erinnert sich ja doch. Sprechen Sie …“
Lautes Klopfen an der Tür unterbrach Agarwal und der große Inder trat wieder ein. Er sprach in seiner Landessprache einige Sätze und dann blickte der Kapitän mich wieder an.
„So wie es aussieht, zwingen mich unerwartete Umstände unser Gespräch zu verschieben, Mister Verne. Sie sollten die Zeit nutzen um nachzudenken. Noch bin ich höfflich, aber wir können unser Gespräch auch völlig anders führen.“ Dann gab Agarwal dem Inder ein Zeichen und er packte meine Schulter und führte mich zu meiner gemütlichen Unterkunft zurück.
Wir schritten die Treppe wieder hinunter, wo noch immer der Junge den Boden schweißgebadet schruppte. Als er meinen Begleiter sah, zuckte er ängstlich zusammen. Da geschah es, mein Bewacher rutschte im Putzwasser aus und fiel rücklings auf die Treppe. Die Augen des Jungen weiteten sich und er blickte mit Todesangst zu uns. Der große Inder rappelte sich wutschnaubend und fluchend hoch. Mit hochrotem Kopf schaute er den verängstigten Jungen an. Ich ahnte, was er vor hatte, als er den mächtigen Fuß hob und handelte ohne nachzudenken. Ein gewaltiger Fußtritt traf mich und drückte mir sämtliche Luft aus den Lungen. Da ich mich zwischen die Beiden geworfen hatte, ließ die Wucht des Trittes oder besser mein Hinterteil den Jungen nur auf das seine fallen. Nach Luft ringend lag ich am Boden und der große Inder schaute verdattert auf mich hinab. Damit hatte er nicht gerechnet und ich merkte, dass er leicht zurückwich. Eine Spur von Angst flimmerte für einen Moment in den Augen. Scheinbar war ich ein wichtiger Gast auf diesem Schiff. Noch. Zum Glück ließ der Schmerz schnell nach und ich hoffte, dass außer blauen Flecken keine schwereren Verletzungen geblieben waren.
Doch so schnell der Riese fassungslos war, so schnell hatte er sich wieder gesammelt und zog mich hoch. Nachdem er mich in meine Zelle geworfen und die Fußfessel wieder angelegt hatte, verschwand er und ich war erneut allein.
Zuerst dachte ich über Agarwal nach, der sich wie ein englischer Gentleman verhielt und gleichzeitig wie ein stolzer Soldat, der wusste, was er wollte. Er war keiner, den ich mir zum Feind wünschte und doch war ich es. Seine Art und Weise, dazu dieser dominante Blick ließen mich für diesen Mann Respekt gemischt mit Furcht empfinden. Ich fragte mich außerdem, ob er Befehlsgeber oder nur Empfänger war, denn war er letzteres, dann war er umso gefährlicher, weil ein noch Mächtigerer hinter ihm stand. Der arme Franck fiel mir ein und ich wusste, das Agarwal vor Gewalt nicht zurückschreckte, um an die Informationen zu gelangen, die er von mir haben wollte. Um nichts in der Welt wollte ich so enden, wie der arme Kerl. Wie konnte ich bloß Agarwal geben was er wollte, wenn ich selbst nicht einmal wirklich wusste was es war? Welches Geheimnis bewahrte die Muschel oder hatten die Symbole darauf? Sie waren Agarwal sehr wichtig, aber warum? Leider hatte ich nie die Gelegenheit Alexandres Zeichnungen richtig zu betrachten oder den Brief dazu zu lesen, vielleicht wüsste ich dann mehr.
Rücklings gegen die Wand gelehnt senkte ich den Kopf zwischen die Knie. Wie sollte es nur weitergehen? Da piekste etwas in meinen Rücken. Bei genauerer Betrachtung stellte es sich als alter rostiger Nagel heraus, der nicht richtig eingeschlagen zu sein schien. Mit einem wenig Gewackel hielt ich den leicht krummen gut zehn Zentimeter langen Metallstift in den Händen.
Vielleicht konnte ich damit die Fußfessel öffnen, dachte ich und stocherte im Schloss herum. Es dauerte eine ganze Zeit bis ich ein Gefühl dafür bekam, wie ich den Nagel ansetzen musste, damit er den beweglichen Teil im Schloss verschob.
„Autsch.“ Fluchte ich laut, als der Nagel entzweibrach und beim abrutschen über mein Bein schrammte. Das reichte für eine blutende Schramme, die ich mit einem Stück von meinem Hemd verband. Die Kleidung war eh nicht mehr wirklich zu retten, da machte es nichts, wenn ich sie für mich selbst zerriss.
Meinen ursprünglichen Gedanken mit dem Nagel die Schlösser zu öffnen und zu fliehen schloss ich ab. Doch bevor ich wieder in meine Gedankenwelt eintauchen konnte, hörte ich lauter werdende Schritte. Wollte man mich wieder zu Agarwal bringen? Konnte nicht sein, denn diese Schritte klangen leiser und nicht von Stiefeln. Es musste der Junge sein und so war es. Er schloss meine Zellentür auf und trat näher. Erst dachte ich, er brachte wieder Essen oder Wasser, doch die Hände waren leer. Wortlos setzte er sich im Schneidersitz vor mich. Dann griff er unter sein Hemd und zog eine Orange und ein Stückchen Brot hervor. Mit beiden Händen hielt er es mir hin und verneigte dabei den Kopf. Ich verstand ihn. Er dankte mir, das ich seine Prügel eingesteckt hatte und für sein Leben. Zögernd nahm ich ihm die Orange und das Brot ab.
„Vielen Dank.“ Sagte ich.
Mit einem Lächeln und strahlen in den Augen schaute er zu mir. Ich glaube, ich hatte einen neuen Freund gefunden.
Als ich begann die Orange zu pulen, bemerkte ich, dass sie eigentlich gar nicht mehr gut war und ein genauerer Blick aufs Brot zeigte Schimmel. Ich wollte mich gerade fragen, warum er verdorbenes Essen brachte, als ich ein Grummeln hörte. Es kam vom Magen des Jungen und da fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Das war eigentlich seine Essensration, die er mir aus Dankbarkeit schenkte. Dieser Unmensch von Agarwal. In seinen Augen musste der Junge nichts wert sein und deshalb gab er ihm nur vergammeltes Obst und Essensreste. Ich hätte heulen und schreien können, als ich diese Ungerechtigkeit fühlte, doch ich entschied mich zu etwas, was eigentlich Überwindung gekostet hätte. Ich brach das Brot in zwei Hälften und teilte auch die Orange, dann reichte ich sie dem Jungen, der mich zuerst leicht verstört anblickte, doch dann mit Tränen in den Augen anlächelte. Wortlos aßen wir das verschimmelte Brot und die verdorbene Orange. Ein unbeschreibliches gutes Gefühl breitete sich in mir aus und ließ mich lächeln. Das sorgte dafür, dass der Junge und ich uns die ganze Zeit über fröhlich anschauten.
Als er aufgegessen hatte, zeigte er auf sich und sagte: „Raj.“
„Jules.“ Tat ich ihm gleich.
Wir unterhielten uns eine ganze Zeit, obwohl unterhalten das falsche Wort dafür war, da er nur wenige Worte englisch sprach und mehr in indisch redete, was wiederum ich nicht verstand, noch sprach. Aber wozu hatten wir denn Hände, Füße und die Logik des Verstandes mit dem wir Beide alles, was unsere Ohren nicht wahrnahmen eher mit dem Herzen erfassten. Ich erzählte, dass ich Kinder hatte nicht älter als er, woher ich kam und ich eine Geschichte über das Fliegen in einem Ballon geschrieben hatte. Eigentlich weiß ich nicht, ob er wirklich verstanden hatte, dass es eine erdachte Geschichte war, aber die leuchtenden Augen zeigten, wie sehr ihn diese berührte. Vielleicht war es seine Vorstellung von Freiheit, der Unterdrückung von Agarwals Männer auf diesem Schiff, entfliehen zu können.
Raj hatte viel durchgemacht, wie er mir erzählte. An Vater oder Mutter konnte er sich nicht erinnern. Von Klein auf an versuchte er in den Strassen eines kleinen indischen Dorfes, dessen Namen er nicht kannte, zu überleben. Almosen und kleinere Diebstähle bedeuteten am Leben zu bleiben. Irgendwann hatte er versucht Nahrung von Kapitän Agarwals Provianteinkauf in jenem Dorf zu nehmen und wurde erwischt. Anstatt ihn zu töten, was meist das Schicksal der Straßenkinder war, nahm Agarwal ihn an Bord, wo er jede undankbare Aufgabe übernehmen musste. Angst und Furcht waren ständigen Begleiter, weil er von jedem an Bord nur schikaniert wurde. An die vielen Schläge, Tritte und wer weiß, was noch, vermochte ich nicht zu denken.
Ich hatte den Eindruck, dass ich der erste Mensch war, der wirklich an ihm interessiert war, der zeigte, dass er gemocht wurde. Wie gern hätte ich Raj geholfen, wenn nicht mein eigenes Schicksal ähnlich ungewiss war.
Vier weitere Tage vergingen, ohne dass ich Agarwal zu Gesicht bekam. In diesen Tagen besuchte mich Raj jeweils einmal, um mir einen Krug Wasser zu bringen und den Eimer für die Bedürfnisse auszutauschen, sowie ein weiteres Mal, um der Erzählung von der Reise im Ballon zu lauschen. Dabei aß er immer seine Essensration, die er jedes Mal mit mir teilte. Weil er so ein Leuchten in den Augen hatte, wenn ich davon berichtete, versuchte ich die Ballonreise mit Hilfe von Geräuschen und Gesten bildlicher zu gestalten.
Leider ging es mir von Tag zu Tag gesundheitlich schlechter. Am dritten Tag fieberte ich in der Nacht und kalter Schweiß netzte meine Stirn. Kein Wunder bei diesen schlechten Bedingungen. Leider wusste ich nicht, was ich tun sollte, abgesehen einen Weg in die Freiheit zu finden. Aber wie mit der schweren Kette am Fuß. So fern ich es mitbekommen hatte, trug den Schlüssel der große Inder in der Tasche, der mich zu Agarwal gebracht hatte. Ich fragte Raj, ob er an ihn herankommen könnte, doch schüttelte er jedes Mal verängstigt den Kopf, was ich durchaus verstand. Dennoch versprach ich ihm einen Plan auszudenken, wie er und ich zusammen von diesem Schiff entfliehen könnten. Mein Plan sah vor, sobald ich die Kette los war, ein Beiboot zu Wasser zu lassen und damit weg zu rudern. Raj lachte bei dem Gedanken mit mir zusammen zu verschwinden.
Dann am Morgen des fünften Tages riss mich eine gewaltige Hand mitten im Schlaf auf die Beine. Der Inder stand vor mir und brachte mich erneut zu Agarwal. Ich hätte gerne mehr Widerstand geleistet, doch das Fieber raubte mir Kraft. In Agarwals Kajüte warf er mich in den Holzstuhl und band mit einem Seil meine Arme an die Lehnen. Ich schaute Agarwal an, der erneut stattlich hinterm Schreibtisch stand und zum blauen Ozean hinausblickte.
„Ich hoffe Sie haben in den letzten Tagen meine großzügige Gastfreundschaft genossen?“
„Auf die eine oder andere Art“ erwiderte ich.
„Schön. … Da Sie ja wissen, was ich möchte. Sprechen Sie?“
Sekundenlang überlegte ich, wie ich antworten sollte - ihm erzählen, dass ich nichts wusste oder etwas erfinden.
„Es war einmal, ein …“
„Halten Sie mich nicht zu Narren!“ unterbrach er mich sogleich und gab meinem Bewacher ein Zeichen. Ehe ich mich versah, flog mein Kopf zur Seite und alles drehte sich. „Das war nur die Rückhand. Jetzt stellen Sie sich vor, es wäre seine Faust gewesen.“
„Daran möchte ich nicht denken.“
„Dann hören Sie auf mir Märchen zu erzählen. Sie wissen ganz genau, wie bedeutend die Zeichen sind und welches Geheimnis sich dahinter verbirgt. Die Zeichnungen beweisen es. Auch Sie sind auf der Suche, geben Sie es zu.“
„Wenn Sie schon die Antworten kennen, warum fragen Sie dann.“ Mit bedachten Worten, was nicht leicht war, da ich dank des Fiebers und des Schlages pochende Kopfschmerzen hatte, antwortete ich.
„Schön, wir kommen voran. Doch bevor wir über die Einzelheiten Ihrer Ergebnisse sprechen, will ich von Ihnen etwas ganz Anderes wissen. Woher haben Sie das Artefakt?“ Er hielt meine Muschel in den Händen. „Es wurde uns gestohlen und deshalb will ich wissen, von wem Sie es bekommen haben.“
Ich überlegte mir eine Antwort und dachte die Wahrheit würde, er eh nicht glauben.
„Von einer Meerjungfrau im Angesichts des Todes.“
„Geht doch.“
Ich glaube, wäre ein Spiegel vor mir, hätte ich mit ansehen können, wie mir die Kinnlade runter fiel. Trotz Agarwals weniger Worte, sah ich in seinen Augen, das er es für die Wahrheit hielt. Ich wusste nicht warum.
„Mister Verne. Reden Sie weit…“
Eine Explosion erschütterte die Fregatte. Polternder Lärm und Schreie von Deck unterbrachen unsere Unterhaltung. Agarwal und mein Wächter schauten sich verwirrt an. Ohne zu zögern rief Agarwal einen Befehl, legte die Muschel auf den Schreibtisch und rannte mit meinem Wächter aus der Kajüte. Alleine blieb ich zurück. Wäre ich nicht gefesselt, wäre dies der Moment zum fliehen. Mit der wenigen Kraft, die ich besaß rüttelte ich an den Fesseln, doch nur, um die Handgelenke blutig zu scheuern. Der Geruch von verbranntem Holz verbreitete sich. Das Feuer an Deck schien etwas größer.
Plötzlich knallte die Kajütentür zu und ein Schloss klackte. Ich drehte mich so gut ich konnte um und erblickte Raj in der Tür, der mich mit verrußtem Gesicht anstrahlte.
„Schwarzes Pulver … Lampe … Boom.“ Sagte er mit wenigen englischen Worte und ich verstand sofort. Raj hatte Kanonenpulver angezündet, um von unserer Flucht abzulenken.
„Gut gemacht, Raj. Nimm ein Messer von der Wand und schneide mich los.“
Raj nickte und Sekunden später war ich befreit. Ich rieb mir die schmerzenden Handgelenke. Dann stürmte ich zu Agarwals Schreibtisch nahm meine Ledertasche und stopfte die Muschel, sowie meine oder besser Alexandres Zeichnungen hinein, bevor ich sie überwarf. In einer halb offenen Schublade erblickte ich einen alten grünlichen Dolch, den ich mitnahm, schließlich war etwas zur Verteidigung nicht schlecht. Darunter machte ich eine weitere unerwartete Entdeckung, mein Buch oder besser erster Roman lag da drin. Ich nahm ihn heraus und zeigte ihn Raj.
„Schau mal, das ist mein Buch.“ Raj nahm mir es ab und staunte nicht schlecht. „Lesen wird wahrscheinlich nichts; es ist in Französisch.“
„Ballon.“ Sagte er mit einem Lachen und zeigte auf die Zeichnung des Einbandes.
„Ja, das ist ein Ballon. Aber jetzt sollten wir von hier fliehen. … Doch wohin?“
„Gehen.“ Sagte Raj. „Hinaus.“
„Nach draußen?“ Ich öffnete die Fenstertür zum Heckbalkon. „Und weiter?“
„Boot!“
„Boot?“ Zuerst wusste ich nicht, was er mir sagen wollte, doch dann sah ich es. Ein kleines hölzernes Ruderboot schaukelte in den Wellen hinter der Fregatte. Über ein Tau, das am Balkongeländer festgeknotet war, waren die unterschiedlichen Schiffe miteinander verbunden.
„Hast du das gemacht?“
Raj nickte mit breitem Grinsen.
„Klettern.“ Er winkte und ich verstand, dass ich schnell machen sollte.
Also steckte ich den Dolch in die Tasche und hängte mich ans Tau. Mit überkreuzten Beinen begann ich mehrere Meter in die Tiefe zu klettern.
Plötzlich hörte ich, wie an der Kajütentür gerüttelt wurde. Agarwal war zurück.
„Raj! Los komm!“ Schrie ich und erreichte in diesem Moment das Ruderboot. „Raj!“
Doch Raj kletterte nicht das Tau hinunter. Es erschlaffte und fiel in die wogenden Wellen. Mit Schrecken erkannte ich die Wahrheit. Raj hatte das Tau losgeschnitten.
„Raj!“
Mein Rufen blieb ergebnislos und von Raj war nichts zu sehen, während mich Welle für Welle von der schwarzen Fregatte hinweg trug. Ich starrte lange wortlos dem Schiff hinterher. Es wurde immer kleiner, bis irgendwann hinter den Wellen am Horizont verschwunden war.
Ich war allein … ganz allein.
Kalter Wind mit salzigen Geschmack umspielte und das Geräusch aufeinander klatschender Wellen umgab mich. Die Gedanken kreisten um meinen kleinen indischen Freund Raj, dessen Schicksal ich nicht erfassen konnte. Hatte er sich geopfert, um mir die Freiheit zu schenken? Wurde er von Agarwal erwischt und welche Strafe würde ihn erwarten? Was auch immer Raj weiterer Weg sein würde, ich fühlte mich hilflos, weil es nun außerhalb meiner Macht lag zu helfen.
Würde ich Raj je wieder sehen?
Ich weiß nicht, wie viel Zeit vergangen war bis ich wieder an mich dachte und einfach nur umsah. Rundherum spielten die Wellen ihr auf und ab, und wohin ich auch blickte berührte der blau weiße Himmel Wasser. Da war ich, mitten im Ozean, zu weit entfernt von jeglichem Land. Dann wurde mir etwas schlagartig bewusst und ich ärgerte mich über mich selbst.
Flüchten war richtig, aber in einer Nussschale zu treiben inmitten den Weiten des Ozeans ohne eine Möglichkeit Land oder ein anderes Schiff zu erreichen, grenzte an Dummheit. Wenn man schon abhaut, dann darf man dies nicht vergessen.
Wie sollte ich überleben? Ich hatte nichts Essbares dabei, noch im Boot. Zwar lagen an der Seite zwei Ruder, doch das war es schon.
Meine Augen glitten erneut zum Horizont auf der Suche nach Rettung. Nichts.
Stattdessen schälten sich riesige graublaue Dreiecke aus dem Wasser und begannen Bahnen um das kleine Boot zu schwimmen. Haie, die Räuber und Monster des Ozeans. Bestien, die mir Angst in die Glieder legten. Diese monströsen Geschöpfe, die sich höchstens eine Handbreit entfernt befanden, maßen je gut zehn Meter. Ich mochte mir gar nicht vorzustellen, wie es wäre, wenn nur eines den gewaltigen Kopf mit dem tödlichen Maul aus den Wellen hob und nach mir schnappte.
Wind und Wellen wurden stärker. Ich legte mich zusammengekauert in das Boot hinein, um der drohende Kälte ein wenig zu entgehen. Während ich da lag, merkte ich, dass Fieber und Kopfschmerzen zurückkehrten. Mein Kopf schwankte und nicht nur wegen der Wellen. Die Flucht hatte in mir eine Zeitlang übermenschliche Kräfte geweckt, dessen Lohn weiterer Kraftverlust war.
Mein Blick wanderte zum blauen Himmel hinauf. Ich beobachtete, wie weiße und graue Wolken vorüber zogen. Sah die verrücktesten Bilder darin und nicht nur das. Durch das Fieber begann meine Vorstellung lebendig zu werden und umso dunkler die Wolke, desto albtraumhafter das Bild. Ich sah Fabelwesen, wie blutrünstige Drachen oder einen Löwen, der brüllend auf mich hinab springen wollte.
Dann schien es mir eine Zeit lang besser zu gehen, der Geist klarte sich und ich war froh, vorerst keine Kopfschmerzen zu haben.
Irgendwann war keine Wolke mehr am Himmel zu sehen und das helle Blau wurde dunkler, bis es letztendlich zu einem vollen Schwarz wandelte. Auf dem Schwarz verteilt erstrahlten hunderte, nein tausende von leuchtenden Punkten, die auf eine Art so unsortiert wirkten und doch nicht waren. Dieser gewaltige Sternenhimmel erfüllte mein Herz mit Erhabenheit. Ich kam mir klein und unbedeutend vor. Noch nie hatte ich einen solchen prachtvollen Sternenhimmel gesehen und weil er vielleicht das letzte war, was ich in meinem Leben sehen sollte, genoss ich ihn mit jedem Atemzug.
Es wurde zunehmend kälter und ich zitterte mit dem Klappern der Zähne um die Wette. Der warme Atem bildete weißen Nebel. Ich zog die Beine enger an den Oberkörper heran in der Hoffnung es so wärmer zu haben. Irgendwann überkam mich die Müdigkeit und fiel in einen tiefen unruhigen albtraumhaften Schlaf.