Читать книгу Im Land unter dem Sternbild - Martin Carter - Страница 4
ОглавлениеKapitel 1 - Die Meerjungfrau
Die Sonne stand im Osten als wir endlich den meisten Tang eingesammelt und über Bord geworfen hatten. Ich lehnte an der Reling und atmete tief die frische Seeluft ein. Der Rücken tat weh, weil ich lange in gebückter Haltung gearbeitet hatte. Das Durchstrecken fühlte sich gut an. Jeder einzelne Knochen knackte, so kam es mir jedenfalls vor. Der Blick fiel auf Arme und Hände. Sie waren dreckig und schmierig vom Pflanzensaft. Dazu kam der wirklich schreckliche Gestank, der überall klebte. Mir grauste es schon ans Essen zu denken, weil der Gestank auch nach dem gründlichen Waschen noch an den Fingern für einige Zeit haften blieb.
Laute Stimmen und Unruhe auf dem Schiff schrecken mich hoch. Franck lief mit zwei Matrosen an mir vorbei Richtung Bug, wo Kapitän Reno durch ein Fernrohr blickte. Neugierig wie ich war, gesellte dazu.
„Was ist los, Kapitän Reno?“ fragte ich und schaute in ein braunes vom Wetter gegerbtes Gesicht. Reno war von großer stämmiger Natur, breit wie ein Schrank und mit fast zwei Metern über einen Kopf größer als ich. Die langen dunklen Haare waren zu einem Zopf zusammengebunden. Es war strähnig und vom vielen Salz in Luft und Wasser angegriffen.
„Der Sturm hat Opfer gefordert. Wrackteile schwimmen im Wasser und ich sehe eine fast gesunkene Fregatte. … Franck zwei Grad Steuerbord! Steuere so nah wie möglich ans Wrack. Refft die Segel! Unser restlicher Schwung muss uns ran treiben. Haltet nach Überlebenden Ausschau.“
„AI!“ riefen alle und rannten zu ihren jeweiligen Posten.
„Das Beiboot wassern!“ rief Reno als letzten Befehl hinterher.
Ich blieb beim Kapitän zurück.
„Wie kann ich helfen?“
„Behalte das Wasser im Auge. Wir dürfen niemanden übersehen.“ Mit diesen Worten wanderte Reno von mir weg. Ich blickte aufs Wasser. Das Meer war ruhig und die Sonne spiegelte ihren Glanz über die blaugrüne Oberfläche. Inmitten der schwankenden Wellen schwammen eine ganze Menge Trümmer, bestehend aus Kisten, Fässern und zerbarstetes Holz. Mir fiel auf, dass vorbei treibende Planken meist von schwarzer Färbung waren.
Gerade wollte ich gerade schreien, jemanden im Wasser treiben zu sehen, doch im letzten Moment erkannte ich den Irrtum. Teile vom Segel hatten sich um ein Fass gewickelt.
Einige Minuten später konnten wir endlich ohne Fernrohr das Wrack sehen. Die Fregatte hatte es schwer erwischt. Vom Bug bis Heck war sie zerbrochen und einige Sektoren hatten bereits die Wasseroberfläche erreicht. Die Bugspitze mit der Galionsfigur lag vollständig im Wasser. Alle drei Hauptmasten waren abgeknickt und verschwunden. Beim näher kommen sah ich, dass ein Teil des Großmasts quer auf dem Deck lag und es zerschmettert hatte. Auf dem ersten Blick war niemand, Lebend oder Tod zu sehen, doch wir irrten. Auf Deck machten wir liegende Gestalten aus.
Die LEVIN ging längsseits und war bereits so langsam, dass sie gut 10 Meter vom Wrack entfernt trieb. Das gewasserte Beiboot wurde bereitgemacht und eine Strickleiter zum einsteigen an der Reling befestigt. Kapitän Reno selbst wollte zum Wrack hinüber fahren. Ich sah, wie er drei weiteren Matrosen befahl ihn zu begleiten. Dann schaute er mich an.
„Gabriel, du kommst auch mit!“ rief er in einem strengen Ton und ich gehorchte. Kaum über die Reling geschwungen, kletterte ich eine wackelige Strickleiter hinunter. Damit ich nicht ins Wasser fiel, packte Reno meinen Arm und zog mich ins Boot. Dabei bemerkte ich, wie stark er war; er hätte mich locker viele Meter weit ins Wasser werfen können. Kaum saß ich, fingen Jean und Luc an zu rudern. Der Wellengang war ruhig und dennoch keine leichte Arbeit für sie. Es dauerte einige Minuten bis wir am Wrack anlegten. Mir fiel auf, das der Rumpf und Teile vom Deck schwarz angemalt waren. Auch sah ich große schwarze Stofffetzen. Schwarze Segel hatte ich noch nicht erlebt. Piraten? Wer weiß.
Kapitän Reno band das Beiboot in Wrackmitte an der Reling fest. Wir kletterten an Deck. Das Holz knarrte und erzitterte unter unseren Füßen. Man konnte das blubbernde Geräusch vom Wasser hören, das sich in jeden noch trocknenden Winkel verteilte.
„Luc und Jean Ihr überprüft das Deck. Und schaut auch nach ob jemand in die offene Frachtluke gefallen ist. Leon übernimmt mit mir das Heck. Gabriel, der Typ am Bug ist deine Aufgabe!“
„AI!“ riefen alle gemeinschaftlich.
Vorsichtig ging ich zum Bug. Ähnlich wie am Deck der LEVIN, doch hier aus lebenswichtigen Gründen, achtete ich auf jeden Schritt. Zur Sicherheit hangelte ich an der Reling entlang. Es war nicht einfach. Teile fehlten und ich musste Trümmern ausweichen.
Ich sah den Mann mit dem Gesicht nach unten am Bug liegen. Die dunkle Kleidung, bestehend aus einfacher Stoffhose und –Hemd, waren vom Wasser durchtränkt. Die Kleidung passte irgendwie nicht zu einem Seemann, doch konnte ich nicht sagen warum. Mir fielen blutverkrustete Verletzungen an den Fußsohlen auf. Schuhe besaß er scheinbar nicht. Die Hautfarbe sehr braun und dunkel, doch nicht so dunkel wie bei einem Afrikaner. Dazu pechschwarze zerzauste Haare. Ich kniete neben ihm und wollte den Mann herumdrehen, doch dann zog ich verunsichert die Hand wieder zurück. Einen höchstwahrscheinlich Toten zu berühren, behagte mir nicht.
Was wenn ich irrte und er noch lebte? Kurz schloss ich die Augen und atmete tief durch. Allen Mut zusammengenommen drehe ich ihn mit Schwung um.
Geschockt sprang ich auf und sofort meldete sich die Galle. Mein gesamter Magen drehte sich um. Dort wo einst das Gesicht eines Menschen war, blickte ich auf einen Matsch aus Haut, geronnenem Blut und Knochenmatsch. Ein Auge war noch intakt und starrte aus einer ungewöhnlichen Position heraus mich an. Ein Trümmerstück musste ihn getroffen haben.
In dieser Sekunde hatte ich genug, schnell drehte ich mich weg und war drauf und dran mich zu übergeben, als lautstarkes brechen von Holz, reißen von Seilen und einfach nur Lärm auf mich eindrangen. Ehe ich begriff was geschah verlor ich den Boden unter den Füßen. Der Bug zerbrach in seine Einzelteile und zog mich ins mit Meer. Kurz bevor ich ins Wasser eintauchte, hörte ich Reno meinen Namen schreien. Irgendein Trümmerstück traf mich am Kopf und mir wurde schwarz vor Augen. Mein letzter Gedanke galt dem armen toten Seemann am Bug. Ich wollte nicht so enden wie er.
Es müssen nur Sekunden vergangen sein, als ich wieder zu mir kam und die Augen aufschlug. Trübes Wasser von blaugrüner Farbe umgab mich. Alles war verschwommen. Hecktisch ruderte ich mit Armen und Beinen im Meer ohne wirklich etwas zu erreichen. Ich öffnete den Mund, versuchte zu atmen und spürte dabei, wie blasenartig Luft meine Kehle verließ. Noch hatte ich Glück, denn ich schluckte kaum Wasser. Jedoch das wenige genügte, um den salzigen Geschmack aufzunehmen. Seltsam, ich hatte in jenem Moment sogar das Empfinden, dass das Wasser nach Seetang schmeckte. Verrückt, was einem in solchen Situationen durch den Kopf geht. Jedenfalls begann sich Panik in mir auszubreiten und meine Gliedmaßen ruderten immer unkontrollierter herum. Eigentlich hatte ich keine Ahnung mehr wo oben, noch wo unten war. Ich riss ich die Augen auf und blickte wild umher. Bei einem neuen Versuch Luft zu holen, spülte sich letztendlich ein weiterer Schwall Meerwasser die Kehle hinunter.
Plötzlich sah ich etwas, was nicht da sein konnte. Fasziniert stellte ich alles ein, selbst das Atmen. Vor mir im trüben, verschwommenen Wasser schälte sich eine Gestalt aus der Dunkelheit. Der schlanke Körper einer barbusigen wunderschönen Frau. Ihr langes dunkles Haar wehte engelsgleich wie vom Wind getrieben im Wasser. Sah ich blaue Augen? Ihre untere Körperhälfte schimmerte grün glänzend, was nicht sein konnte, denn es schienen Schuppen zu sein. Dann erblickte ich eine anmutige Schwanzflosse anstatt von Beinen.
Eine Meerjungfrau!
Solch ein Geschöpf sollte es doch überhaupt nicht geben. Spielte mein Verstand mir im Sauerstoffmangel etwas vor? Oder sollte sie mich abholen und ins Reich der Toten bringen – davon hörte ich einmal, dass Seeleute kurz vor ihrem Tod Meerjungfrauen sahen. Ich wusste es nicht. Schwärze begann sich im Kopf auszubreiten, das Ende war nahe. Es war ein schönes Gefühl irgendwie, zu wissen nicht allein sterben zu müssen.
Mit einem kräftigen Schwung kam die Meerjungfrau geschwind näher und drückte mir etwas fest in die Hand. Da ich in diesem Moment an alles zur Rettung packen würde, ergriff ich den Gegenstand. Meine Hände verkrampften sich regelrecht darum. Im nächsten Moment ließ sich die Meerjungfrau zurückfallen und wurde von der unendlichen Finsternis des Meeres verschluckt. Ich versuchte einen Schrei, doch ich schlucke nur noch mehr Wasser. Letztlich kam der Moment, wo die Dunkelheit mich einhüllte.
Meine Augen öffneten sich irgendwann automatisch. Blendendes weißes Licht sorgte dafür, dass ich sie wieder schließen musste. Weißes Licht? Beim nächsten Versuch blendete das Licht nicht mehr so stark und ich sah auch hellblaue Farben. Grummelnde Geräusche, die immer lauter wurden drangen an meine Ohren. Es waren Stimmen, zuerst nicht als jene erkennbar, doch dann kamen, sie von weit her immer näher.
„Er kommt zu sich.“
„Ist ja auch ein zäher Bursche.“ Diese Stimme kannte ich, es war die Renos.
Ich wollte antworten, doch diese ging in einem großen Schwall Wasser und Husten unter. Ich spürte, wie ich auf die Seite gedreht wurde und so richtig kotzte.
Es verstrichen einige Minuten bis ich mich auf dem Deck der LEVIN an eine Kiste lehnend wieder fand. Die Kleidung war vom Wasser durchtränkt. Kapitän Reno hatte mir eine Decke umgelegt, die wärmte. Sie roch muffig, was aber nicht weiter störte. Reno kam herangeschritten und setzte sich auf ein Holzfass mir gegenüber. Im Mundwinkel klemmte eine Pfeife. Rauch stieg von ihr auf und ich roch den süßlichen Tabakgeschmack. Er hielt mir einen silbernen Metallbecher hin, den ich sogleich nahm.
„Trink! Wird Dich wärmen.“
Ich tat wie geheißen und der scharfe Geschmack von Rum füllte sich in Mund und Kehle aus. Tränen sammelten sich in meinen Augen und Sekunden später spürte ich die sich ausbreitende Wärme des Alkohols.
„Schmeckt auf jeden Fall besser als Wasser.“ Sagte ich schwach.
Reno lächelte. „Freit mich, das es Dir besser geht. Du hast uns allen einen ganz schönen Schrecken bereitet. Wir fürchteten bereits das schlimmste, als der Bug unter Deinen Füßen zusammenbrach. Jedenfalls hattest Du Glück. Bist mit ein paar blauen Flecken, Beulen und Schrammen, sowie einer leichten Unterkühlung dem Tod von der Schippe gesprungen. Aber mehr solltest Du ihn heute nicht herausfordern. Deshalb, wenn Du Dich etwas gefangen hast, leg die nassen Kleider ab und hülle Dich unter Deck in ein paar dickere Decken.“
„Werde ich, Kapitän.“
„Was hast Du Dir da eigentlich als Souvenir mitgebracht?“
Da fiel mir wieder mein Erlebnis wieder ein und ich blickte auf den Gegenstand in der linken Hand. Jenen, den mir die Meerjungfrau gegeben und ich seitdem nicht losgelassen hatte. Es war eine Handteller große beige Muschel und ähnelte von Aussehen her einer Auster.
„Die Muschel hat mir eine Meerjungfrau gegeben. Ich…“
„Eine Meerjungfrau?“ Reno schmunzelte und erhob sich. „Du brauchst Schlaf, Gabriel. Er wird Dir gut tun. Sehr gut. … Ehe Du Dir Deinen Kopf zerbrichst, wie ich Dich kenne. Was Du gesehen hast, wird die Galionsfigur gewesen sein. In Panik gaukelt uns unser Verstand so einiges vor.“
Reno verließ mich Pfeifenrauch in den Himmel pustend. Ich wollte über mein Erlebnis und die Muschel nachdenken, doch ich merkte, wie mir die Kraft dazu fehlte. Also befolgte ich des Kapitäns Rat.
Während ich mich schlafend erholte und von Fieber geschüttelt wurde, setzte Kapitän Reno die LEVIN auf Kurs Richtung Nantes. Es ging heim.