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Die Sache mit dem alten Haus

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Rodney Gordon war einer der reichsten Männer Englands. Er war überdies einer der am wenigsten netten Männer Englands. Skrupellos, geldgierig, rücksichtslos, verschlagen und hinterhältig waren noch die höflichsten Formulierungen, die Leute, die mit ihm verkehrten, für ihn benutzten.

Gordons Familie verfügte seit Generationen über unzählige Besitztümer, die über das ganze Königreich verteilt waren. Einige waren in Indien, Gordon hatte sie nie zu Gesicht bekommen, andere fanden sich in Irland, Schottland und Wales, die meisten jedoch lagen in England verteilt. Eins davon, ein kleines Anwesen, in einem Dorf namens Kenborough, eines der kleinsten Dörfer Englands, wenn man den Reiseführern glauben durfte. Das Dorf hatte nur 56 Einwohner, war mit der Eisenbahn etwa eine Dreiviertelstunde von London entfernt und hatte sonst nicht viel zu bieten. Außer dem Anwesen der Gordons, bei dem es sich um ein gewöhnliches Haus zu handeln schien. Ein Haus jedoch, wie Gordon herausfand, das seit Jahren, seit Jahrzehnten weder vermietet noch verkauft werde konnte. Das weckte seine Neugier. Wie konnte ein Anwesen, das sich laut Aussagen des Maklers in einem guten Zustand befand und das so dicht bei London lag, so schmählich gemieden werden? Sein Anwalt, der sich kundig gemacht hatte, konnte ihn über den Sachverhalt aufklären.

Das Haus war verflucht. Jedenfalls war das die Version der Dorfbewohner. Grub man ein wenig tiefer, stieß man auf eine schreckliche Geschichte, eine schlimme Vergangenheit, grausame Taten, die in dem Haus begangen worden sein sollen. Menschen, die dort die Nacht verbringen wollten, seien gestorben, ermordet worden, grausam verstümmelt. Der letzte Bewohner des Hauses habe eigenhändig ein Blutbad angerichtet. Seine Frau, seine beiden Töchter, der Pförtner und zwei Fremde seien ihm zum Opfer gefallen. Angeblich habe der Hausherr sie alle mit der Hilfe eines großen Schlachtermessers massakriert und nun, so der Glaube, warte sein Geist darauf, dasselbe mit den neuen Eigentümern zu machen. Gordon, eben dieser Eigentümer, verspürte kein Verlangen danach, seinen Besitz in Kenborough je in Augenschein zu nehmen. Dennoch ließ er in der Familienchronik nachschlagen, ob einer seiner Vorfahren in diese Fälle verwickelt gewesen war. Es fand sich kein Indiz dafür.

Derweil widmete er sich seinen eigenen Leidenschaften, zu denen neben der Spielsucht auch Sadismus gehörte. Bei einer seiner Wetten hatte er einen Freund in den Tod getrieben, indem er ihn in betrunkenem Zustand auf der Brüstung seines Balkons balancieren ließ. Nach dessen Tod hatte er dessen Frau verführt und sie anschließend verstoßen. Ob sie, von Gordon schwanger mit einem Bastard, den Freitod gesucht hatte, wusste er nicht, aber es interessierte ihn auch nicht. Er hatte andere Interessen, die er auszuleben gedachte. Er schickte zwei Telegramme, eins an den Makler des Hauses in Kenborough, in dem er seine Ankunft ankündigte, und eins an einen gewissen Kurt Turner, der bei einem großen Theater in London arbeitete. Dann lehnte er sich zurück und sah mit Freude den Dingen entgegen, die da kommen mochten.

Mit Schnee und Hagel begann das Jahr 1893, aber das waren bei Weitem nicht die schlimmsten Gewalten, die Bruno Dorfmann zu schaffen machten. Er hatte eine Frau kennen gelernt, sie war schwanger geworden und er tat das Ehrenhafte und heiratete sie. Dafür hatte er sich einen Kredit bei einem seiner wohlhabenden Freunde erbeten. Die Geschäfte liefen schlecht, die Frau wurde krank, Medizin war teuer – Bruno war nicht in der Lage, den Kredit zurückzuzahlen. Den Kredit, den ihm Rodney Gordon gewährt hatte, ein Mann, dessen Sadismus im Laufe der Zeit mehr und mehr zugenommen hatte und der ihm bestimmt keinen weiteren Aufschub gewähren würde.

Mit feuchten Händen wartete Bruno auf die Ankunft seines Gastgebers. Als dieser gekommen war, man die Höflichkeitsfloskeln ausgetauscht hatte und er auf das Thema des Geldes zu sprechen kam, erklärte Bruno, dass er sich zwar bemüht habe, die Summe zusammen zu bekommen, aber dass er leider nicht in der Lage wäre, das gesamte Geld zurückzuzahlen. Er erwartete, dass sein Gastgeber toben würde, doch dieser verhielt sich überraschend gefasst, scherzte gar über die Kleinlichkeit der Banken und erklärte, dass er einen Vorschlag habe, wie man diese leidige Angelegenheit aus der Welt schaffen könne. Bruno war völlig überrumpelt von diesem überraschenden Angebot und ging direkt darauf ein. Gordons so genanntes Angebot war eine Wette. Bruno sollte in einem Haus, das Gordon gehörte, eine Nacht verbringen. Gordon verschwieg ihm auch nicht, welche Geschichten sich um das Haus rankten und dass der letzte Mensch, der genau das versucht hatte, es nicht überlebt habe. Schaffte Bruno es, die ganze Nacht in diesem Spukhaus auszuharren, wären ihm all seine Schulden erlassen. Schaffte er es jedoch nicht, schulde er Gordon fortan den doppelten Betrag, das bedeutete Pfändung des Hauses, Obdachlosigkeit für die Frau, Kinderheim für den Sohn und Gefängnis für Bruno. Sollte er in dem Haus jedoch sterben, sei es eines natürlichen oder auch eines brutal unnatürlichen Todes, seien ihm seine Schulden ebenfalls erlassen. Mit einem weiteren Cognac stießen sie auf diese Wette an und ehe er sich’s versah, fand sich Bruno am nächsten Morgen mit einem leichten Kater, einer leichten Reisetasche und einem nicht ganz so leichten Rodney Gordon im Zug wieder. In einem Dorf namens Kenborough stiegen sie aus.

Lächelnd führte ihn Gordon zu einem großen Gebäude, welches sich am Rande des Dorfes befand. Es erweckte in ihm den Eindruck, dass dort seit Jahren, seit Jahrzehnten niemand mehr sauber gemacht hatte, von wohnen ganz zu schweigen. Es war jetzt um die Mittagszeit und sie gingen zurück in den Gasthof. Langsam verging der Nachmittag und als der Abend dämmerte, meinte Gordon, dass es für Bruno nun an der Zeit wäre, seinen Teil der Wette zu erfüllen. Er begleitete ihn noch bis zur Haustür und wünschte ihm eine geruhsame Nacht. Sein Lächeln verhieß nichts Gutes.

Gordon ging zurück in den Gasthof, während Bruno das verstaubte Bett im ersten Stock entdeckte. Es war das einzige Bett im ganzen Haus und merkwürdigerweise war es am Boden festgeschraubt. Viel lieber hätte er unten geschlafen, aber so blieb ihm nichts anderes übrig, als dieses Bett für die Nacht vorzubereiten. Er hatte kein gutes Gefühl bei dieser Sache, aber er schwor sich, diese Nacht hier auszuharren und sich damit von seiner Schuld zu befreien. Kaum hatte er diesen Gedanken gehabt, wurde ihm auch schon seine Müdigkeit bewusst. Das war das Beste, das ihm passieren konnte. Ohne sich das Haus noch einmal in Ruhe anzusehen, machte er sich bereit für die Nacht und fiel wenig später in einen leichten Schlaf.

Gegen elf Uhr dreißig in der Nacht, wurde Bruno geweckt. Zunächst war er sich nicht sicher, aber dann glaubte er, merkwürdige Geräusche wahrzunehmen. Sie kamen nicht von der Straße, sie kamen aus dem Haus, in dem er sich befand. Es klang fast so, als kämen sie sogar von dem Stockwerk, auf dem er sich befand. Er atmete tief durch. Er wollte sich durch nichts aus der Ruhe bringen lassen, das hatte er sich geschworen. Wenn das Haus versuchen wollte, ihn aus der Ruhe zu bringen, dann hatte er eigene Wege, zu seiner Ruhe zurück zu finden. Ein Schlafmittel. Er hatte sich extra eins mitgebracht und nun griff er danach, doch das Tischchen neben seinem Bett war leer. Dort, wo ein kleines Fläschchen hätte stehen sollen, befand sich nur noch verwischter Staub. Er zündete eine Lampe an und fand zu seinem Erstaunen alle seine Sachen fortgeräumt. Konnte das sein? Waren all die Schauergeschichten, die man sich über das Haus erzählte, vielleicht wirklich wahr? Eines auf jeden Fall war sicher: Er war nicht allein im Haus!

Bruno dachte nach. Er hatte die Tür abgeschlossen, da war er sich ganz sicher. Wer oder was konnte durch eine verschlossene Tür in sein Zimmer eindringen und seine Sachen stehlen? Bruno stand auf und ging zur Tür. Sie war verschlossen. Wie war das möglich? Was geschah hier? Er presste sein Ohr an das Holz und lauschte. Da waren Geräusche. Langsam und vorsichtig öffnete Bruno die Tür. Niemand zu sehen. Aber die Geräusche waren noch da. Sie kamen, so schien es, aus dem Zimmer am Ende des Ganges. Die Lampe in der Hand schritt er darauf zu, langsam und leise. Behutsam öffnete er die Tür. Der Lichtschein fiel auf leeren Boden, tastete sich vorbei an Spinnenweben, Staub, bis er plötzlich verharrte. Er hatte etwas gefunden. Ein Bein. Abgetrennt, blutend. Bruno fuhr zusammen und stieß die Tür auf. Ihm bot sich ein furchtbarer Anblick. Der Boden war übersäht von verstümmelten Körpern. Sie sahen aus wie frische Leichen. Und der Mörder... da war noch jemand im Zimmer. Er kauerte in einer Ecke im Schatten. Bruno sah ihn an und sein Blut gefror. Die Gestalt erhob sich, langsam, und kam auf ihn zu. Dann trat sie in den Schein der Lampe. Es war entsetzlich. Nur die eine Seite ihres Gesichts schien mit Haut bedeckt zu sein, die andere war blanker Knochen. Die Gestalt sah Bruno direkt in die Augen und ein Schauer lief ihm den Rücken herunter. Bruno wandte den Blick ab und da sah er... Fred Stoker. Oder besser: dessen Kopf. Der abgetrennte Kopf von Fred Stoker? Was machte der in einem Haus... Und dann begann es in seinem Kopf zu arbeiten. Fred Stoker war ein Schauspieler in einem großen Theater in London. Dasselbe Theater, an dem auch Kurt Turner arbeitete, ein Freund seines „Gastgebers“. Nun begriff Bruno, dass Gordon das alles inszeniert hatte, um ihn aus dem Haus zu treiben und somit seine Wette zu gewinnen. Diesen Gefallen würde Bruno ihm nicht tun, denn er hatte das Spiel durchschaut.

„Komm nur, du Monster!“ rief er und die Gestalt blieb überrascht stehen. „Wo ist denn dein Freund Kurt? Kommt er auch noch? Oder hat er seinen Zug verpasst? Ihr könnt eurem Freund Gordon sagen, dass ich mich von so lächerlichen – und schlechten! – Schauspielern wie ihr es seid nicht in die Flucht schlagen lasse!“ Und mit diesen Worten knallte er dem überraschten „Monster“ die Tür vor der Nase zu, ging zurück in sein Zimmer und legte sich voller Wut auf sein Bett. Was für eine Unverschämtheit, was für ein Mummenschanz, den man hier veranstaltet hatte. Und wenn er genau darüber nachdachte, dann hatten die Leichen auch nicht besonders echt ausgesehen. Genau das würde er diesen „Schauspielern“ jetzt auch unter die Nase reiben. Noch immer erregt sprang er auf und lief zurück in das Zimmer mit den Leichen. Auch wenn er wusste, dass es nur Theatereffekte waren, das Zimmer war eine schauerliche Kulisse. Doch die Gestalt, der Schauspieler mit der Maske, war nicht darin. Bruno drehte sich um und sah, wie die Gestalt gerade die Treppe herauf kam. Sie trug etwas in der Hand. Etwas rundes, haariges, blutendes: Kurt Turners Kopf.

Bruno erstarrte. Das Monster sah ihn an. Kalt, brutal, tödlich. Und dann... rannte Bruno los. An dem überraschten Monster vorbei, die Treppe hinunter und hinaus aus dem Haus. Die Wette hatte er vergessen, er lief in die Nacht hinaus und blieb erst wieder stehen, als er sich vor dem Gasthaus befand. Hier merkte er auch erst, dass er ein großes, blutverschmiertes Messer in der Hand hielt. Er wusste nicht, wie es dort hingekommen war, er wusste gar nichts, er starrte es nur an und dann... wurde er der Tatsache gewahr, dass in ebendiesem Gasthof sein Freund, sein Gastgeber, sein Geldverleiher Rodney Gordon lag, wahrscheinlich selig schlafend und davon träumend, wie er es ihm, Bruno, gezeigt, wie er ihm eins ausgewischt und wie er ihn um sein Geld betrogen hatte. Bruno sah das Messer an und das Messer schien zurück zu blicken, ihm zuzuzwinkern, ihn überreden zu wollen. Doch das war nicht nötig. Bruno musste nicht mehr überredet werden. Er ging in das Hotel, schlich sich in das Zimmer von Rodney Gordon und führte dort die Arbeit des Monsters fort. Man würde es für das Werk der Erscheinung halten, einer Erscheinung, die schon seit Jahren, seit Jahrzehnten ihr Unwesen trieb und nun hatte sie das getan, was sie stets getan hatte: Den Besitzer des Hauses ermordet!

Nochmal Blut gegangen

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