Читать книгу Brasilien - Martin Curi - Страница 6

Im Land der „grimmigen Menschfresser“

Оглавление

Die Sonne brennt auf das historische Zentrum von Rio de Janeiro. Heute steht in der Zeitung, nur in Nord-Ghana wäre es noch heißer. Eigentlich kein Tag, um Einkäufe und Bankgeschäfte zu erledigen, aber es muss sein. Ich hetze durch die engen, überfüllten Gassen der Fußgängerzone, immer auf der Suche nach etwas Schatten. Am Ende der malerischen Straße mit ihrem Kopfsteinpflaster und den zweistöckigen Häusern im portugiesischen Kolonialstil, die einen angenehmen Kontrast zu dem modernen brasilianischen Streben nach immer höheren und moderneren Gebäuden darstellen, befindet sich meine Bankfiliale. Ich öffne die Tür und betrete den von einer Klimaanlage gekühlten Raum.

Die Schlange am Kassenschalter ist, wie immer, viel zu lang. Während der Schweiß an mir herunterrinnt, kalkuliere ich mindestens eine halbe Stunde Wartezeit. Die Klimaanlage kämpft derweil gegen die Hitze. Wenige Augenblicke später stellt sich der nächste Kunde hinter mir an.

„Ist das die Schlange für den Kassenschalter?“

Ich bejahe.

„Ah, Sie sind nicht von hier?“

Selbst bei dieser so kurzen und simplen Antwort verriet mich, wie so oft, mein Akzent. Da man in Brasilien oft lange ansteht, haben die Einheimischen einen Grundvorrat an Themen, über die sie sich mit wildfremden Menschen in diesen Situationen unterhalten können. So geht die Wartezeit schneller vorbei.

„Ich bin Deutscher.“

„Ah, ja. Meine Nichte hat kürzlich einen Deutschen geheiratet und lebt jetzt in Köln. Sie schwärmt mir immer vor, wie schön es dort sei. Da gibt es auch einen Fußballverein, nicht wahr? Was ist Ihr Verein?“

„Bayern München.“

„Ja, ja, Bayer!“

„Nein, Bayern. Bayer ist Aspirin, Bayern ist ein Bundesland mit der Hauptstadt München.“

„Aha. Ich habe mich schon immer gefragt, was der Unterschied ist. Spielen dort gerade Brasilianer?“

„Ja, Lúcio und Zé Roberto.“

„Sehr gute Spieler. Die sind auch in der Seleção. Wie lange leben Sie schon hier?“

„Schon lange: zehn Jahre.“

„Zehn Jahre! Dann sind Sie schon Brasilianer. Welchen Verein unterstützen Sie hier?“

„Fluminense.“

„Uh, Fluminense! Da kommen Sie von so weit her, um für den falschen Verein zu sein!“

Und schon ist man mitten in einem Gespräch über Vereinsvorlieben, Spieltaktik, Transfermarkt oder die Fußballgeschichte im Allgemeinen. Egal, ob auf der Arbeit, in der U-Bahn oder am Strand, Fußball ist in Brasilien das Gesprächsthema Nummer eins. Jeder hat seinen Lieblingsverein, und jeder hat seine Meinung. Man kann wunderschön ernsthaft darüber reden, gleichzeitig aber auch den Gesprächspartner aufziehen, indem man ihn an die letzte Niederlage erinnert. Fußball ist frei von ernsten Dimensionen wie Religion oder Politik und somit wie geschaffen, um die Wartezeit am Bankschalter zu überbrücken.

Brasiliens wichtigste Sportart wird aber nicht nur in den Stadien gespielt, sondern wirkt in alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens. Luiz Inácio Lula da Silva, Präsident des Landes von 2003 bis 2010, ist ein Meister im Gebrauch der Sportmetaphern. Die unbequeme Frage eines Journalisten nach eventuellen Fehlern seiner Regierung wies er mit dem Satz zurück: „Wir werden nicht den Toren nachtrauern, die wir gestern vergeben haben, sondern uns auf die Tore konzentrieren, die wir morgen erzielen werden.“ Kurz vor Ende seiner Amtszeit kündigte er dann an, dass er weiterhin die Politik seines Landes zu beeinflussen gedenke: „Eines würde ich als Trainer niemals machen: ein Tor erzielen und mich dann in die Defensive zurückziehen, um auf die Angriffe des Gegners zu warten.“

Diese und andere Metaphern sind legendär. Sie zeigen, wie sehr der brasilianische Alltag „fußballisiert“ ist. Auch wenn man sich nicht für Fußball interessiert, entkommen kann man ihm nicht. Der Fußball ist eine allgegenwärtige Kommunikationsplattform. Mit seiner Hilfe werden in einem Land von kontinentaler Größe gesellschaftliche Fragen und Probleme thematisiert und überall verstanden. Diese Kommunikation und ihre Inhalte sind der Gegenstand des vorliegenden Buches.

Die immense Bedeutung des Fußballs für Brasilien dürfte kaum überraschen: Bekanntlich ist die brasilianische Nationalmannschaft, die Seleção („Auswahl“), mit fünf Titeln Rekordweltmeister. Pelé und Garrincha, zwei der größten Fußballgenies aller Zeiten, wurden hier geboren. Mit ihnen verbinden wir Spielwitz und individuelle Technik, die unser Brasilienbild prägen. Romantisierende Geschichten von kickenden Kindern am Strand, die mit Leichtigkeit die Ballführung erlernen, gehören zu diesen typischen Vorstellungen. Als ob man sich in dem tropischen Paradies nur mit Samba, Strand, Karneval und guter Laune beschäftigen müsse, um ohne Anstrengung ein millionenschwerer Fußballstar zu werden.

Weltweit findet der Stil der Seleção Bewunderer und begeisterte Fans. Die Brasilianer wissen um die globale Bekanntheit und Beliebtheit ihres Nationalsports, deshalb nennen sie Brasilien gern „Das Land des Fußballs“. Dass der Fußball eigentlich in England erfunden wurde, wird dabei schon mal verdrängt.

Während Fußballfans auf der ganzen Welt verwundert registrierten, dass die FIFA Länder wie die USA, Korea oder Katar als Austragungsorte für Fußball-Weltmeisterschaften auswählt, freute sich jedermann über die Vergabe der WM 2014 nach Brasilien. Es scheint, als ob das Weltturnier in seine Heimat zurückkommt. Die Brasilianer sehnen sich danach, endlich wieder eine WM organisieren zu dürfen. Die letzte fand hier 1950 statt. In andere Länder zu reisen, um dort die eigene Nationalmannschaft zu unterstützen, ist für die meisten Brasilianer unerschwinglich. So hoffen die einheimischen Fans, 2014 endlich einmal ein WM-Spiel live im Stadion miterleben zu können. Die Austragung der WM wird von der Bevölkerung massiv unterstützt. Insofern überrascht es auch nicht, dass der ehemalige Präsident Lula eine entscheidende Rolle bei der erfolgreichen Bewerbung des Landes spielte.

Obwohl Brasilien weltweit als „Land des Fußballs“ gilt, weiß man in Europa nur wenig über den regionalen Fußball im Land, seine nationale Liga, die Vereine, deren Anhänger und lokale Geschichten. Einer der ersten deutschsprachigen Berichte aus kulturwissenschaftlicher Sicht zum Thema stammt aus dem Jahr 1956 und wurde von Anatol Rosenfeld im Jahrbuch des Hans-Staden-Instituts São Paulo veröffentlicht. Spätere Veröffentlichungen konzentrierten sich auf die Nationalmannschaft. So beispielsweise Karin Sturm und Carsten Bruder in ihrem Buch „Zwischen Strand und Stadion – Das Fußballwunder Brasilien“ oder Gerd Fischer und Jürgen Roth in „Ballhunger – Vom Mythos des brasilianischen Fußballs“. Die Stärke des Werkes von Fischer und Roth ist die Dokumentation der Brasilianer, die schon in Deutschland gespielt haben.

Die Konzentration auf die Nationalmannschaft endete mit Alex Bellos’ Werk „Futebol – Die brasilianische Art zu leben“. Der Engländer berichtet in seiner auch ins Deutsche übersetzten Reportagesammlung direkt aus der lokalen Fußballszene in Brasilien. Dieses Werk, dessen Erstveröffentlichung aus dem Jahr 2002 datiert, war eine wichtige Inspiration für das vorliegende Buch. Seit der Recherche von Bellos ist jedoch viel Zeit vergangen, in der eine Menge passiert ist. 2002 dachte noch niemand daran, dass Brasilien jemals wieder Austragungsort einer Fußballweltmeisterschaft werden könnte. Der nationale Fußballverband CBF war tief zerstritten mit der Regierung Lula, und die Stadien befanden sich in beklagenswertem Zustand.

Das hat sich geändert. Heute zählt Brasilien als Teil der BRICGruppe zu den aufstrebenden Wirtschaftsmächten, denen man ohne Weiteres die Durchführung von Sportgroßereignissen zutraut. Auf diese Veränderungen will das vorliegende Buch eingehen und dabei besonders auf Verbindungen zwischen dem deutschsprachigen Raum und Brasilien eingehen.

Anhand folgender Themen soll ein möglichst reales Bild des Fußballs, wie er in Brasilien gespielt, gesehen, und gelebt wird, dargestellt werden:

Brasilien

Подняться наверх