Читать книгу Take the Slow Road - Martin Dorey - Страница 31
ОглавлениеIch stehe vor der Rückseite eines Apartmentblocks an der Strandpromenade von Le Touquet und versuche mich daran zu erinnern, in welchem der Ein-Zimmer-Apartments ich im Jahr 1999 vier Monate verbracht habe. Es war das Jahr der totalen Sonnenfinsternis. Ich erinnere mich an ein großes Fenster, eine winzige Terrasse und den Ausblick auf eine unscheinbare, düstere Seitenstraße sowie einen Teil des Gartens einer ehemals prächtigen Strandvilla. Irgendwann einmal hatte die Villa wahrscheinlich eine tolle Aussicht aufs Meer gehabt, aber der Bau der Apartmentanlage sorgte dafür, dass diese für immer und ewig von tristen braunen Backsteinen versperrt war.
Warum war ich damals hier? 1999 (bevor ich dann feierte, als wäre es das bereits erwähnte Jahr) verbrachte ich einige unangenehme Monate beim Dreh einer TV-Serie mit dem Titel Monsignor Renard. Die Rolle des Renard spielte der wunderbare John Thaw (auch als Inspector Morse bekannt), und es ging um das von den Deutschen besetzte Frankreich. Die Serie wurde größtenteils in einer Stadt namens Saint-Valery-sur-Somme gedreht. Ich war, zusammen mit dem größten Teil der Crew, in Le Touquet untergebracht, wo es genügend Unterbringungsmöglichkeiten (oder besser gesagt: billige Unterbringungsmöglichkeiten) für uns alle gab. Jeden Morgen gegen 5 oder 6 Uhr erhob ich mein noch weinseliges Haupt, setzte mich ins Auto und fuhr 60 Kilometer, um zahllose Statisten aus der Umgebung sowie unsere englischen und deutschen Schauspieler aufzulesen und durch Maske und Kostüm zu schleusen. An manchen Tagen mussten wir bis zu 100 deutsche Soldaten und Leute aus der Stadt für den Dreh fertigmachen, deshalb blieb mir kaum Zeit, um mich mit der Umgebung zu beschäftigen.
Ich arbeitete von einem Container aus, der auf dem Marktplatz von Saint-Valery stand, fast ohne meine Außenwelt wahrzunehmen – bis auf die wenigen Momente, wenn wir die Statisten in die Stadt brachten. Das versetzte die Einheimischen, die sich noch an die Deutschen erinnern konnten, in Schockstarre, weil ihre Alpträume wieder lebendig wurden. Was sie wohl am Tag der Sonnenfinsternis dachten! Ich erinnere mich an 30 Statisten in deutschen Soldatenuniformen, die Sonnenschutzbrillen trugen, um die Sonne zu beobachten, während die Arbeit ruhte. Es war zeitweise wirklich seltsam, aber sicher nicht so leidvoll wie 1940, als 10.000 alliierte und französische Soldaten hier gefangen genommen und in deutsche Kriegsgefangenenlager gebracht wurden.
Heute, auf meinem Slow-Road-Abenteuer von Calais nach Étretat, bin ich auch gekommen, um mir diesen Teil Frankreichs endlich richtig anzusehen, gewissermaßen unter »friedlicheren Umständen«. Ich möchte die Mohnblumen an den Feldrändern sehen und beobachten, wie der Wind durch den Weizen weht, während ich vorbeifahre, statt mir Gedanken darüber zu machen, ob die Schauspieler pünktlich sind oder ich nicht etwa vergessen habe, den Panzer für den heutigen Dreh zu buchen.
Le Touquet ist schäbiger als in meiner Erinnerung. Es ist nicht so nobel, wie es mir aus der zeitlichen Distanz erschien. Die Altstadt ist zwar hübsch, aber der Strand, der zwischen den Weltkriegen so viele Engländer angezogen hat, ist völlig verbaut und einfach nur hässlich. Die wenigen Strandvillen aus dem 19. Jahrhundert, die zwischen den Wohnblocks überlebt haben, leisten den Horden geschmackloser Touristen noch recht elegant Widerstand, aber ich glaube, eines Tages werden auch sie den Stadtentwicklern zum Opfer fallen. Wir radeln durch die Stadt und dann am Strand zurück durch das am nördlichen Rand der Stadt gelegene Naturschutzgebiet. Hier sieht es ganz anders aus. In den Dünentälern am Rand des Waldes ist es still und hübsch. Auf der einen Seite befinden sich Meer und Küstenwald – eine struppige Kombination aus Sanddorn und Birken –, während sich auf der Inlandseite Kiefern durchgesetzt haben. Wir radeln auf der hölzernen Promenade zu einem Aussichtspunkt, wo wir das Mündungsgebiet der Somme überblicken können. Eine Robbe dümpelt im Wasser, und das schlickige Watt erstreckt sich in die Ferne. Die aire ist ganz in der Nähe, sie grenzt an den Segelclub und ein kleines Restaurant am Fluss. Wir wandern hinunter ins Watt und entdecken dort Meerfenchel – ein hellgrüner Teppich kurzer, kräftiger Sukkulenten. Ich pflücke ein Stück davon ab und probiere es. Ich finde es großartig. Es ist salzig und frisch und schmeckt nach See. Wenn ich nicht schon hier wäre, könnte ich mich mit nur einem winzigen Bissen davon hierher teleportieren.
Als wir in Saint-Valery-sur-Somme eintreffen, erkenne ich es kaum wieder. Es ist voller Touristen und strotzt nur so vor Blumenarrangements. Wir parken außerhalb der Stadt und fahren dann mit dem Rad wieder hinein, am Canal de la Somme entlang. Dabei folgen wir den Schienen der Dampfeisenbahn, die die Stadt mit dem Naturschutzgebiet auf der anderen Seite der Bucht verbindet. Wir fahren am neuen Teil der Stadt vorbei und direkt in die kleine ummauerte Zitadelle hinein.
Sofort bin ich wieder in der Vergangenheit. Wir entdecken den Platz und das Stadttor, durch das all meine Schauspieler damals hindurchgegangen sind. Auch Johanna von Orléans ist durch diese Mauern geschritten, weil sie hier gefangen gehalten wurde, bevor man ihr in Rouen den Prozess machte und sie dann auf dem Scheiterhaufen verbrannte. Der Platz hat sich zum Glück nicht verändert, und die Gebäude – eine zeitlose Mixtur aus Backstein, Feuerstein und Holz – wachen über die darunter stehenden Platanen. Als Lizzy sich hinsetzt, um einen Anruf entgegenzunehmen, habe ich einen Flashback: Auf diesen Stufen habe ich damals gesessen, als das Mädchen, mit dem ich vor meiner Abreise zusammen war, mit mir Schluss machte. Im Ausland an einem Film mitzuarbeiten, hört sich toll an, aber es hat nichts Glamouröses, wenn man nach einer 100-Stunden-Woche verlassen wird, noch dazu in einem fremden Land, und wegen des nächsten Arbeitstages so gestresst ist, dass man ohne eine halbe Flasche Rotwein nicht einschlafen kann.
Wir stellen unsere Räder ab und wandern in die ummauerte Stadt hinein. Es ist genauso, wie ich es in Erinnerung habe. Hier hat Renard einen Hobbit attackiert (oder wenigstens einen Schauspieler, der später einen Hobbit gespielt hat), hier wurde der Hobbit von den Deutschen erschossen, hier wurde dem Mädchen, das mit dem Feind kollaboriert hatte, der Kopf geschoren, hier stand John Thaws Trailer. Hier ist das Café der Résistance, das von der Schauspielerin in mittleren Jahren geführt wurde, in die ich verliebt war. Hier wurde dem deutschen Kommandanten vom französischen Bürgermeister das Rathaus übergeben. Es muss für die Einheimischen zugleich merkwürdig und verwirrend gewesen sein, dass wir hier auftauchten und einen schmerzlichen Teil ihrer Geschichte wieder aufführten. Wenigstens war John Thaw ein perfekter Gentleman.
Wir entfernen uns vom Platz und laufen in das Wirrwarr der Straßen hinein, die die ummauerte Stadt durchziehen. Unter unseren Füßen knirscht der Kies, und die Sonne wärmt uns den Rücken, während ich Teile der Stadt entdecke, die mir vorher nie aufgefallen waren. Gigantische Stockrosen in allen Farben wachsen aus jeder Mauerritze, ebenso Mohnblumen, Gänseblümchen, Salbei und Nachtkerzen. Blumenkästen voller Geranien und Ringelblumen kontrastieren mit den Feuersteinmauern und dem farbigen Fachwerk der kleinen Häuser, deren Hausnummern auf blauen Emailleschildern stehen.
Saint-Valery-sur-Somme ist einfach fantastisch. Wir radeln über Nebenstraßen, dann den Berg hinunter und ins Watt, wo wir ein Restaurant finden, in dem es Mittagessen gibt: riesige Muscheltöpfe und Pommes frites mit Meerfenchel. Wir setzen uns und nehmen uns Zeit, beobachten die Seevögel und die Kinder, die auf einem sandigen Platz Fußball spielen, lassen unsere Blicke über die Flussmündung und die verschiedenen Schichten der Landschaft schweifen. Da ist ein purpurner Schimmer, den kleine Büschel von seltenem niedrigwüchsigem Lavendel erzeugen, eine Schicht von grünem und eine Schicht von hellgelbem Sand vor dem Blaugrün der Flussmündung und dem Blau des Kanals dahinter. Über uns halten die kolossalen Mauern der Zitadelle Wache, wie sie es immer getan haben und immer tun werden. Plus ça change.