Читать книгу Take the Slow Road - Martin Dorey - Страница 37

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Leichter Nieselregen fällt, als wir den Friedhof von Orglandes erreichen. Wir befinden uns im Landesinneren, etwa acht Kilometer von Utah Beach, dem nördlichsten der D-Day-Strände, entfernt. Unser Wagen ist der einzige auf dem Parkplatz, wo etwa zehn Fahrzeuge Platz haben, und im Dorf ist es still, bis auf ein paar weit entfernte Schreie, die von einem Fußballspiel herüberwehen, das irgendwo hinter den Feldern auf einem matschigen Spielfeld stattfindet. Wir betreten den Friedhof durch das Eingangstor. Die stählernen Pforten sind weit geöffnet.

Lizzy betritt das Gelände und sieht sich um. Der heutige Tag ist so etwas wie der Kulminationspunkt ihrer umfangreichen Recherchen. Sie hat die Chance, Ihrem Großvater zum ersten Mal gegenüberzutreten und ein wenig darüber herauszufinden, was er damals gesehen und empfunden haben mag, doch genau wird sie das nie wissen. In den 75 Jahren, die seit seinem Tod vergangen sind, ist vieles in Vergessenheit geraten. Vieles wurde auch nie bekannt, außer vielleicht den schrecklichen Nachwehen. Und wie soll man sich aus dieser Distanz heraus überhaupt mit den Erfahrungen eines anderen Menschen auseinandersetzen?


Sie biegt nach links ab und geht auf einen kleinen Tisch zu, auf dem ein großer blauer gebundener Einband liegt. Sie öffnet ihn und beginnt, die Seiten umzublättern. Jede einzelne enthält Dutzende von Namen, Daten und Nummern, die auf eine Grabstelle des Friedhofs verweisen. Die Namen sind alphabetisch geordnet. Lizzy schlägt unter »L« nach und findet schließlich Herbert Lindenau, ihren Großvater mütterlicherseits. Sein Todesdatum ist der 10. Juni 1944, vier Tage nach dem D-Day. Es gibt allerdings keine Zuordnung zu einer Grabstelle, nur den Zusatz »unter den Unbekannten«. Wir wissen, dass Herbert am 10. Juni als vermisst gemeldet wurde. Sein Leichnam wurde nie gefunden. Oder er konnte nicht identifiziert werden. Er war Fahrer bei der Marine, und man nimmt an, dass er mit seinem Lastwagen in die Luft gesprengt wurde. Es heißt auch, er habe während der Kämpfe einen Kameraden aus einem Hafenbecken gerettet. Er wurde nach seinem Tod befördert. Niemand kennt die Wahrheit, und trotz vieler Bemühungen, die Lizzy unternommen hat, um Briefe übersetzt zu bekommen, fürchten wir, dass diese nur die offizielle »Nazi-Version« der Wahrheit enthalten.



Wir gehen über den Friedhof. Es ist ein schöner, würdevoller Ort mit großzügig verteilten schwarzen Schieferkreuzen. Es gibt viele Tausende von ihnen, und sie sind vier oder fünf verschiedene Sektionen eingeteilt. Große Bäume stehen zwischen den Reihen: Kastanien und Eichen, die wahrscheinlich schon vorher hier waren.

Es stehen immer sechs Namen auf einem Grabstein. Einige Soldaten wurden noch nicht einmal 20 Jahre alt, und die meisten fielen am 6. Juni oder kurz danach. Viele Grabsteine tragen die herzzerreißende Inschrift »Ein unbekannter deutscher Soldat«. Später lesen wir, dass dies ursprünglich ein Friedhof für Angehörige aller Nationalitäten war, die alliierten Soldaten aber nach dem Krieg umgebettet wurden.

Die sterblichen Überreste der amerikanischen Soldaten wurden in ihre Heimat überführt oder nach Omaha Beach. Es heißt, dass in den Tagen nach dem D-Day etwa 200.000 deutsche Männer und Frauen ihr Leben verloren. Niemand kann das mit Sicherheit sagen.

Lizzy kniet vor einem der Kreuze, die an einen unbekannten Soldaten erinnern. Es könnte ihr Großvater sein. Oder auch nicht. Vielleicht ist er auch gar nicht hier. Der Regen wird jetzt stärker, und die Blätter werden vom Wind aufgewirbelt und zeigen ihre silberne Unterseite. Der Regen tropft von Lizzys Mütze und rinnt in Strömen an den Grabsteinen herunter. Sie beginnt zu weinen.

»Sie haben so weit weg von zu Hause gekämpft. Und wahrscheinlich haben sie nicht einmal an das geglaubt, wofür sie gekämpft haben. Aber trotzdem mussten sie es tun. Vielleicht hatten sie nur noch einander. Vielleicht haben Sie nur ihre Freunde verteidigt.«

Ich weiß, dass Lizzy jetzt auch an das Schreckliche denkt, das auf Herberts Verschwinden am 10. Juni 1944 folgte. Lizzys Mutter verlor mit 14 Jahren ihre Eltern; ihre Mutter war bereits 1943 an Krebs gestorben. Sie lebte danach bei ihren Großeltern, die beide ums Leben kamen, nachdem sie nach Kriegsende von plündernden Flüchtlingen angegriffen worden waren. Sie versteckte sich unterm Bett, als man ihren Großvater in die Hand schoss. Er starb später an seinen Wunden.


Die größte Tragödie des Krieges sind Geschichten wie diese, die sich hinter jedem Grabstein auf diesem Friedhof verbergen. Und auch hinter allen anderen auf den übrigen Friedhöfen, die sich an dieser Küste befinden. Die meisten Männer, die in Nordfrankreich begraben liegen, waren weit weg von zu Hause. Viele folgten nur ihrer Einberufung, kämpften widerwillig und hatten sicherlich Angst.



Wir fahren nach Utah Beach und verbringen die Nacht in der aire direkt hinter den Dünen. Am nächsten Morgen stehen wir bei Tagesanbruch auf und wandern am Strand entlang zum Museum. Der Strand ist flach, nichtssagend und weitläufig. Die Sonne hat keine Kraft, und es regnet leicht, während wir gehen. Wir laufen hinunter ans Meer, das ein paar Hundert Meter von den Dünen entfernt ist. Für die Soldaten, die hier damals an Land gingen, muss es ein weiter Weg gewesen sein, bis sie Schutz fanden. Sie mussten bei Ebbe durchs Wasser waten und dabei Minen, Stacheldraht und Kugeln ausweichen. Wir können das Ausmaß kaum ermessen. Wir finden irgendetwas Metallisches im Sand, es ist verbogen und korrodiert, praktisch unkenntlich. Dann gehen wir ins Museum, wo wir uns die Überreste eines Landungsbootes sowie Panzer und Artilleriegeschütze ansehen – die einträgliche Maschinerie des Krieges. Wir sind nicht gekommen, um den Tod von irgendjemandem zu glorifizieren, indem wir Panzer anstarren, deshalb setzen wir unsere Fahrt an der flachen, leeren und windgepeitschten Küste fort. Die Straße verläuft hinter Utah Beach landeinwärts und folgt der »Voie de la Liberté« (Straße der Freiheit) nach Carentan, um eine große Flussmündung herum und dann in Grandcamp-Maisy zurück ans Meer. Wir fahren so nahe an der Küste, wie es geht, vorbei an Dörfern mit cremefarbenen Häusern, durch Ackerland und an den Promenaden ruhiger Seebäder entlang. Die Küste ist überall voller Erinnerungen an die Vergangenheit, und an jedem Strand gibt es ein Museum, das dem Gedenken derer gewidmet ist, die dort gekämpft haben. In Geschäften sehen wir Postkarten mit Schwarz-Weiß-Fotografien alliierter Soldaten. Auf vielen prangen Überschriften wie »Danke unseren Befreiern«.

Wir befinden uns auf dem Amerikanischen Friedhof. Der Parkplatz ist im Gegensatz zum Deutschen Friedhof riesig, und wir werden zu unserem eigenen Bereich geleitet, der für Wohnmobile reserviert ist. Die Security ist streng, und alles ist sehr gepflegt und geordnet.

Wir nehmen uns Zeit für die Exponate, lesen alles, was es zu lesen gibt, und sind von fast allem gerührt. Es gibt eine Timeline des D-Day aus der Perspektive der Amerikaner und Alliierten, Filme und Fotos mit Details über die Vorbereitung, die unglaubliche zahlenmäßige Größenordnung und die logistischen Probleme, die eine solche Invasion mit sich brachte. Die ganze Zeit über verliest eine ernste Frauenstimme die Namen der 10.000 amerikanischen Armeeangehörigen, die draußen begraben liegen. Dies ist die Konstante, die immer im Hintergrund präsent ist: der Preis an Menschenleben. Ich denke an all die damit verbundenen Geschichten, all den Schmerz, die Sehnsucht und den Verlust. Wie die Leben all der Hinterbliebenen ohne Brüder, Väter, Onkel, Freunde, Großväter aussahen. Egal woher sie kamen, auf welcher Seite sie kämpften und woran sie glaubten – es ist unvorstellbar. Und dennoch: Wenn man auf der Gewinnerseite steht, verehrt die Nation die Gefallenen als Märtyrer, feiert ihr ruhmvolles Opfer, betreibt einen Heldenkult. Wenn man auf der Verliererseite gekämpft hat, im Namen von Dogmen, an die man vielleicht gar nicht geglaubt hat, leiden die Hinterbliebenen still, voller Scham für das Regime, unter dem man unglücklicherweise gelebt hat.



Lizzys Mutter ging nach England und wurde Krankenschwester. Als sie dann nach Deutschland zurückkehrte, traf sie Lizzys Vater, der dort seinen Wehrdienst ableistete. Als sie älter wurde, besuchte sie den Friedhof in Orglandes und fand den Namen ihres Vaters in dem großen Buch, das am Eingang des grünen Friedhofs liegt, wo die sterblichen Überreste Zigtausender junger Männer begraben sind.

Wo auch immer Herbert Lindenau jetzt liegt – wir hoffen, dass er keine Angst hatte.


Take the Slow Road

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