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Brief aus der Not

In ihrer Not schrieb Laura einen Brief an die Redaktion der Zeitschrift »Neue philosophische Blätter«. Der Brief hatte folgenden Inhalt.

Liebe Genossen,

seit kurzem bin ich Leser Eurer Zeitschrift. Inzwischen habe ich auch schon die letzten drei Jahrgänge geschafft und werd mich auch noch weiter durcharbeiten, denn ich hatte zwei Todesfälle in der Familie und bin Atheistin. Die »Deutsche Zeitschrift für Philosophie«, die ich abonniert habe, befaßt sich nicht mit solchen Gegenständen, die ich jetzt zu bewältigen habe. Und die Bibel, die sich mit solchen Gegenständen beschäftigt, kann mir nicht helfen. Deshalb dachte ich, Eure »Neuen philosophischen Blätter« bearbeiten das fragliche Gebiet. Aber ich glaube, ich hab falsch gedacht. Und deshalb frag ich Euch, liebe Genossen, wer hilft unsereinem?

Wir haben Gott abgeschafft, schön und gut. Aber die Gegenstände, mit denen sich die Religion beschäftigt, konnten wir nicht abschaffen. Tod, Krankheit, Zufall, Glück, Unglück – wie lassen sich die unerbittlichen Wechselfälle des Lebens eigenverantwortlich meistern? Wer ohne Gott lebt, kann Verantwortung nicht delegieren. Er muß diese Last immer allein tragen. Bei Entscheidungen kann er den Zweifel über deren Richtigkeit nicht loswerden, indem er sich mit der Vorsehung beruhigt. Schwer ist das, liebe Genossen, wenn man nicht vom Glück begünstigt bleibt. Unsere Oberwelt haben wir ganz gut im Blick. Aber die Unterwelt …

Freilich, der Marxismus ist eine noch junge Wissenschaft. Er hat vorerst noch alle Hände voll zu tun mit politischen und gesellschaftlichen Zuständen im engeren Sinne. Auch habe ich den Eindruck, daß unsere Philosophen solche Gegenstände bevorzugen, die die Klassiker schon mal angefaßt oder doch wenigstens berührt haben, und daß Philosophie für Fachleute geschrieben wird von Fachleuten, von »Berufsdenkern« grob gesagt.

Aber wir brauchen auch Philosophie oder etwas, wofür ich bisher keinen Namen weiß, für Nichtfachleute. Über täglich zu bewältigende, unabweisbare, elementare Lebensereignisse. Daß diese Gegenstände außer von Literatur kaum öffentlich behandelt werden, heißt ja nicht, daß sie nur von einigen Schriftstellern bedacht werden. Kein Mensch kann leben, ohne diese Gegenstände irgendwie zu bewältigen. Irgendwie. Ja. Möchtet Ihr nicht auch wissen, wie dieses »irgendwie« aussieht, wie, erstmals in der Geschichte der Menschheit, einfach Leute, deren Leben nicht nur von körperlicher, sondern auch von Bücherlesen und anderer geistiger Arbeit geprägt ist, das Problem Leben bedenken. Und das Problem Tod, mit dem jeder Mensch früher oder später konfrontiert wird. Ich möchte’s wissen, liebe Genossen. Denn ich bin ja nicht die einzige Frau auf der Welt, der liebe Menschen wegsterben. Aber wenn ich mich umseh, kann ich keine Kopflosigkeit entdecken, die meiner gleicht. Oder verstecken die Leute ihren Kummer besser? Oder haben sie das, was gebraucht wird und wofür ich bisher noch keinen Namen weiß, vielleicht schon gefunden?

Mit sozialistischem Gruß

Laura Salman

Triebwagenfahrerin

(Irmtraud Morgner 1984 [1983], 152 f.)

Vorübung zu einer Kunst des Sterbens

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