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3. Das theoretische Konzept der absoluten Musik

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Absolute Musik zielte auf die Aufhebung von Endlichkeit, Abhängigkeit und Vergänglichkeit des menschlichen Daseins. Dazu ist sie als Musik, die ausschließlich solche zu sein trachtet, gezwungen. Das Sinnliche galt diesem ästhetischen Konzept zufolge als etwas, das »überwunden« werden müsse. Die klingende Kunst solle zum Ewigen, Absoluten streben. Bei ihr handelt es sich, Carl Dahlhaus zufolge, zunächst um ein »ästhetisches Paradigma«, das auf einen fundamentalen Umbruch dessen zielt, was unter Musik überhaupt zu verstehen ist (Dahlhaus 1978, 12): als eine ernste Sache, vollzogen um ihrer selbst willen, getrennt vom Lebensalltag, in eigens dafür errichteten Konzerträumen konsumiert: Res severa verum gaudium (was meist falsch übersetzt wird: Nicht »die wahre Freude ist eine ernste Sache«, sondern vielmehr: »Das Ernste ist die wahre Freude«).

Eine von Arbeit und Leben abgetrennte Musik ohne Worte betrachtete der marxistische Komponist Hanns Eisler als typisch für die kapitalistische Gesellschaft und bringt damit ihr Ungenügen auf den Punkt. Sie gelange, so der Komponist, nicht zu jenen, denen sie doch zum Ausdruck verhelfen möchte: den Menschen, namentlich den Produzierenden, den Arbeitern, weil sie ihre Probleme nicht behandele. (vgl. ebd., 8) Sie müsse inhaltlich Ausbeutung und widrige Lebensbedingungen, den Kampf der Arbeiter für den Sozialismus thematisieren. Als instrumentale mache sie das per se nicht, weshalb diese Eisler als bürgerlich gilt. Dahlhaus hält Eisler entgegen: Die absolute Musik kontrastiert von Anbeginn scharf den Wertvorstellungen des Bürgertums. Sie ziele auf eine »abgesonderte Welt«, provoziere gegen das ausschließlich auf Nützlichkeit verengte bürgerliche Denken. Der angebliche Mangel, die Abstraktion vom Gegenstand, wurde von den Vertretern des Konzepts zum Vorteil erhoben. (vgl. ebd., 12)

Beide Autoren sind gegeneinander im Recht. Einerseits Eisler gegen Dahlhaus: Obwohl die absolute Musik bürgerlichen Werten widerspricht, korrespondiert sie der kapitalistischen Produktionsweise. In dieser verselbständigt sich die Zirkulation gegenüber der Produktion und dadurch der Produktionsprozess in seiner Einheit in Bezug auf die Produzenten. Musik als absolute und Gesellschaft als bürgerliche ähneln sich darin, dass sie autonomen, das heißt von den sie hervorbringenden Individuen verselbständigten Gesetzen folgen, weil sie nur klingende Kunst, und nichts sonst zu sein bestrebt ist. Keineswegs jedoch entspricht die Musik dabei der Zirkulationssphäre. Deren Verselbständigung korrespondiert ihr vielmehr. Der Komponist vollzieht ohne es zu wissen gesellschaftliche Prozesse.

Auf der anderen Seite ist Dahlhaus gegen Eisler im Recht: Die absolute Musik geht keineswegs in der bürgerlichen Gesellschaft auf. Ihr kommt durchaus Autonomie zu. Bereits dem Musikkritiker Eduard Hanslick galten die »Form in der Musik« als »Geist« und Beethovens späte Streichquartette »als Paradigma der Idee der absoluten Musik«. In ihnen drücke sich aus, dass die »Musik […] gerade dadurch, daß sie sich vom Anschaulichen […] lossagt, Offenbarung des Absoluten« sei (Hanslick 1982 (1854), 95–104; vgl. Dahlhaus 1978, 23). Entscheidend ist der Anspruch, sich vom konkreten Inhalt lossagen zu wollen, was sie jedoch niemals einzulösen vermag und die Einlösung wäre auch nicht wünschenswert. Absolute Musik als ästhetisches Paradigma ist deshalb innerlich ungenügend.

Der widersprüchliche Charakter der absoluten Musik drückt sich bereits in ihrem Begriff aus. Dieser stammt von dem Komponisten und Musikphilosophen Richard Wagner (1813–1883), der damit pejorativ reine Instrumentalmusik bezeichnete. (vgl. Dahlhaus 1991, 24) Der Begriff selbst artikuliert bereits ihr Ungenügen, verweist darauf, dass jegliches als absolut erscheinende stets nur »relativ absolut« ist, also absolut nur in Beziehung zu etwas Anderem. Die »von ihren Wurzeln in Sprache und Tanz losgerissene und darum schlecht abstrakte Musik« erscheint Wagner seinem Gesamtkunstwerk gegenüber als defizitär.4 (ebd., 25 f.) Die Musik soll an die Einheit der Künste, aus der sie einst geboren wurde, zurückgebunden werden. Wagners Musikdrama verdammt jedoch keineswegs den absoluten Charakter der Musik schlichtweg, sondern war vielmehr bestrebt, ihn bestimmt zu negieren. Wagner wollte die absolute Musik im Sinne der Kritik Feuerbachs an Hegel auf eine höhere Stufe heben und so den Geist mit dem Sinnlichen verschmelzen und blieb so ihrem Paradigma verbunden.

Wagners Kontrahent Eduard Hanslick nahm den Begriff der absoluten Musik von Wagner auf, wendete ihn jedoch ins Positive (ebd., 32). Was Wagner als unvollkommen erachtet, erklärt Hanslick zur Stärke: eine Musik rein instrumentalen Charakters, ohne unmittelbare inhaltliche Aussage. Die Tonkunst ziele durch die von ihr formulierte Loslösung von den menschlichen Leidenschaften auf eine von aller dinglichen Realität. Sie ziele auf das Absolute, und zwar im umfassenden philosophischen Sinn. (vgl. ebd., 32 f.) Der Streit zwischen Wagner und Hanslick verweist auf das Ungenügen der absoluten Musik, auf einen Bruch im Konzept selbst. Das Konzept der absoluten Musik intendiert, Endlichkeit, Abhängigkeit und Vergänglichkeit des menschlichen Daseins aufzuheben. Sie strebt nach dem Absoluten.

Die Vergeistigung, zentraler Aspekt der absoluten Musik, soll besonders in ihrem Sprachcharakter, der Formulierung musikalischer Gedanken, deutlich werden. Die Theorie der Instrumentalmusik musste das erklingende Tonmaterial erst umdeuten. Dazu war es nötig, dass die Musik der Theorie von selbst entgegenkommt: durch ihre immanente Logik als Kunst. (vgl. ebd., 105 f.)

Die motivisch-thematische Arbeit wird damit zum Ansatzpunkt, die Musik als sprachähnlich zu fassen. Die musikalischen Themen werden darin entfaltet, bekräftigt, modifiziert und einander entgegengesetzt, gleich dem Vorgehen in einer philosophischen Darlegung: Hegel bringt das in seinen Vorlesungen zur Ästhetik auf den Punkt, indem er bezüglich des musikalischen Gedankens von der

Art und Weise [spricht], wie ein Thema sich weiterleitet, ein anderes hinzukommt und beide nun in ihrem Wechsel oder in ihrer Verschlingung sich forttreiben, verändern, hier untergehen, dort wieder auftauchen, jetzt besiegt scheinen, dann wieder siegend eintreten […]. [E]in Inhalt in seinen bestimmten Beziehungen, Übergängen, Verwicklungen und Lösungen. (Hegel 1965 [1835–38], 267)

Hanslick charakterisiert die Musik als »tönende Form«. Als solche ist sie ihm geistigen Wesens und immanentes gestaltendes Prinzip. Die Töne sind als musikalischer Inhalt bereits geformt. In ihnen kondensieren sich schon Idee, Geist, Wesen, Prinzip. Die musikalische Form besteht laut Hanslick ihrerseits aus Tönen. Das musikalisch Konkrete ist geformt und jede musikalische Form stets inhaltlich bestimmt.5 (vgl. Dahlhaus 1978, 112 f.)

Für Theodor W. Adorno macht diese musikalische Form den Sprachcharakter der Musik aus. Er vereint die hier dargestellten Positionen von Wagner, Eisler und Hanslick. Mit Wagner besteht er auf der Einheit von Musik und Sprache, hält dessen Form, sie zu verwirklichen, jedoch nicht für gelungen. Mit Eisler geht er davon aus, dass die Musik die Sache der Elenden und Entrechteten zu vertreten hat. Das ist jedoch nicht möglich, indem sie unmittelbar Themen der Arbeiter, etwa die Ausbeutung, problematisiert, sondern nur immanent musikalisch. Mit Hanslick hält er Form in der Musik für zentral, geht aber davon aus, dass diese selbst bereits von Außermusikalischem zehrt: Ihre Formen selbst werden als gesellschaftlichen Charakters dechiffriert. Das ist das Programm einer Musik, die absolut ist, das Sinnliche einbegreift und auf der Seite der Ausgebeuteten und Unterdrückten steht. Adorno bestimmt die Musik als eine besondere sprachliche Form, die auf das in der alltäglichen Sprache stets Ungenannte zu verweisen vermag. Die klingende Kunst bezeichnet die Dinge, ohne sie damit zu beherrschen und zuzurichten, also ohne zwanghaft bedeuten zu wollen. Damit zielt sie auf eine andere Sprache jenseits der kommunikativen: »Gegenüber der meinenden Sprache ist Musik von ganz anderem Typus. In ihm liegt ihr theologischer Aspekt. Was sie sagt, ist als Erscheinendes bestimmt und zugleich verborgen. Ihre Gestalt ist die des göttlichen Namens. Sie ist der wie immer auch vergebliche menschliche Versuch, den Namen selber zu nennen, nicht Bedeutung mitzuteilen.« (Adorno, 1978 [1956], 252 f.) Das jedoch gelingt allein weder der Musik noch der Sprache. Erstere »verweist auf die wahre Sprache als auf eine, in der der Gehalt selber offenbar wird, aber um den Preis der Eindeutigkeit, die überging auf die meinenden Sprachen« (ebd., 252 f.). Die Musik ist für Adorno eine Sprache, die die Dinge bei ihrem wirklichen Namen nennen kann, ohne sie begrifflich zurechtzuquetschen – aber sie vermag im Gegensatz zur Sprache nicht klar und distinkt zu sein. Musik geht aufs Ganze. Aber es mangelt ihr an begrifflicher Schärfe.

Adorno kritisiert die sich gewaltförmig vollziehenden Identitätslogik der meinenden, auf Kommunikation ausgerichteten, Sprache, durch die die mannigfaltigen Dinge auf das Prokrustesbett der Begriffe zurechtgeschnitten werden. Zwar ist die Musik keineswegs in der Lage, die Identitätslogik aufzusprengen und Begriffe zu formulieren, die den Dingen gerecht werden – sie vermag allenfalls auf Derartiges zu verweisen: »Die meinende Sprache möchte das Absolute vermittelt sagen, und es entgeht ihr in jeder einzelnen Intention, lässt eine jede als endlich hinter sich zurück. Musik trifft es unmittelbar, aber im gleichen Augenblick verdunkelt es sich.« (ebd., 254; vgl. Dahlhaus 1978, 116) Das zu Sagende »blitzt« vielmehr in ihr lediglich sporadisch auf (ebd., 117).

Indem Adorno den Grundgedanken der absoluten Musik, den einer Musik, die sich selbst genügen soll, die nur solche und nichts sonst zu sein beansprucht, immanent über sich hinaustreibt (ebd. 116), entbindet er das revolutionäre und sprengende Potential der Tonkunst, das stets untergründig in ihr wirkte: So vermag gerade absolute Musik zu zeigen, dass sie nicht um ihrer selbst willen da ist, sich nicht selbst genügt. Sie verweist vielmehr auf ihr Gegenteil, die Sprache. An den (musikalischen) Begriffen selbst verdeutlicht Adorno, dass es reine Identität, auf die der Begriff seinem Wesen nach zielt, nicht wirklich geben kann, und bringt damit die in ihnen verborgene materialistische Wahrheit der Musik auf den Punkt: Sie vergeistigt nicht lediglich das Sinnliche, sondern macht vielmehr auch den angeblich reinen Geist als sinnlich kenntlich.6 Der Sprachcharakter der klingenden Kunst sollte deren Eigengesetzlichkeit, ihre Trennung von Welt und Gesellschaft verdeutlichen. Adorno zeigt unter der Hand das Gegenteil, ihren gesellschaftlichen Charakter. Seine Argumentation ist vom jüdischen Verbot bestimmt, den Namen Gottes auszusprechen. Dessen Erklingen wäre eines mit der Verwirklichung der Utopie vom Himmelreich auf Erden. Musik verweist auf diese Utopie, vermag aber gleichfalls den Namen nicht auszusprechen, sie also nicht zu realisieren.

Vorübung zu einer Kunst des Sterbens

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