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Das Ungenügen der absoluten Musik
1. Das Problem einer Kunst des Sterbens
Das menschliche Leben steht von seinen Anfängen an, sobald jedenfalls es sich seiner selbst bewusst wird, unter dem Banne einer panischen Angst vor dem Tod. Eine Kunst des Sterbens zielt, darauf reagierend, auf ein Philosophieren im Sinne einer Kunst, das Sterben zu lernen (vgl. Gülke 2004, 131 und Cicero 2008, 1,75). In seinem »Phaidon« versucht Platon sich zu vergewissern, dass es keinen Grund gäbe, sich vor dem Tod zu fürchten. Dieser sei vielmehr geradezu herbeizusehnen, weil die Seele bei seinem Eintreten ihr körperliches Gefängnis verlasse. Sokrates, so suggeriert uns zumindest Platon, vermag dank dieser Sichtweise seiner bevorstehenden Hinrichtung heiter und gelassen entgegenzusehen. Angesichts dessen fordert er seine um ihn herum versammelten Freunde dazu auf, seinem und dem eigenen Tod gleichfalls angstfrei, ja sogar freudig zu begegnen.1 (vgl. Platon 1994, 117) Platon reduziert hier den Menschen auf die Seele, d. h. er sieht vom Körperlichen, um das es doch beim Problem des Todes gerade geht, radikal ab. Die Abstraktion vom Sinnlichen, die der Tod am Lebendigen vollzieht, wird auf diese Weise ideell vorweggenommen, der Tod, gegen den eingesprochen werden soll, vorgreifend selbst vollzogen. Aber alles Geistige ist seinerseits dem Körperlichen überhaupt erst entsprungen: keine Seele ohne Körper. Die philosophische Kunst des Sterbens, wie Platon sie konzipiert, erweist sich angesichts dessen als ungenügend. Der griechische Philosoph scheint etwas davon geahnt zu haben, denn sein Sokrates wird in der Nacht vor seiner bevorstehenden Hinrichtung erneut von einem Traum heimgesucht, der ihn sein ganzes Leben über begleitete und der ihm die Botschaft überbrachte, er hätte sein Leben der Musik widmen sollen. »O Sokrates […] mach und treibe Musik« (ebd., 113). Bisher war der Philosoph jedoch stets davon ausgegangen, der Traum ermuntere ihn bloß zu dem, was er ohnehin schon täte: zu philosophieren: »weil nämlich die Philosophie die vortrefflichste Musik ist« (ebd.). Nun jedoch beschließt er, der Anweisung des Traumes Folge zu leisten: »Jetzt aber, seit das Urteil gefällt ist […], dachte ich doch, ich müsse, falls etwa der Traum mir doch befähle, mit dieser gewöhnlichen Musik mich zu beschäftigen, auch dann nicht ungehorsam sein, sondern es tun« (ebd.). Philosophie allein scheint somit als Vorbereitung auf den Tod nicht hinzureichen. Allerdings finden sich bei Platon keinerlei Hinweise darauf, warum das so sein sollte. Mehr als eine Ahnung scheint es nicht zu sein. Sokrates indes scheint sie ernst zu nehmen. Dabei ist anzumerken, dass hier nicht Musik in unserem heutigen Verständnis gemeint ist, sondern vielmehr alles Musische im weitesten Sinne. Sokrates brachte der Traumanweisung folgend denn auch Äsop‘sche Fabeln in die Versform. Ob sie als Gesang vorgetragen werden sollten, kann vermutet werden, ist indes nicht nachweisbar. Nichtsdestotrotz stellte Sokrates damit rituelle Strukturen wieder her, indem er das prosaisch vorliegende Textmaterial in die Form von Versen transformierte. Damit vollzieht er einen Rückgang zu einer gebundenen, und wahrscheinlich auch gesungenen, mithin tonunterlegten Sprache. Er entfernt sich also vom reinen Begriff, dem er in seiner philosophischen Praxis stets gefolgt war. Sokrates kehrt also angesichts seines bevorstehenden Todes zu einer rituellen Ausdrucksform zurück. Und auch beim klassischen Chor handelte es sich zunächst um ein Gesangsensemble. Daraus ergibt sich eine in Anderes eingebundene bzw. abstrakte Musik.
Die Musik kommt als Kunst des Sterbens besonderer Art ins Spiel. Sie will es besser machen: Weil sich die philosophischen bzw. sprachlichen Antworten auf den Tod als unzureichend erwiesen (vgl. Gülke 2004, 131). Die Philosophie genügt nicht, um auf ihn zu meditieren: Sie reduziert den Menschen auf sein Denken und ist damit als Antwort auf den Tod unzureichend. Sie ist eine Art, auf den Tod zu reagieren, Musik eine andere. Sie zielt auf den Menschen als Ganzes, als sinnlich-geistiges Wesen. Als dialektische Einheit von Erklingen und Verklingen vermag sie den verfließenden Zeitstrom zu organisieren, zu konzentrieren und auf ein Ziel hin auszurichten. Dergestalt ist sie in der Lage, zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu vermitteln und das Individuum darin zu stärken, sich mit dem Tode zu konfrontieren. So vermag sie dem einzelnen Moment überhaupt erst Gegenwart zu verleihen. Im Gegensatz zur Sprache, mit ihrer begrifflichen Schärfe, die vom Sinnlichen abstrahiert, umfasst die Musik den ganzen Menschen. Aber sie vermag ihren Gegenstand nicht begrifflich zu erfassen, sondern kann nur diffus auf ihn hindeuten.2 Die Musik verweist auf die Sprache, weil ihr die begriffliche Schärfe fehlt.3
Die Musik intendiert somit etwas, wozu sie sich, gleich der Philosophie, allerdings auf gegensätzliche Weise, als nicht in der Lage erweist. Sprache und Musik streben gleichermaßen, aber auf anderen Wegen, danach, dem Tod Einhalt zu gebieten. Sie können ihn aber weder überwinden noch ungeschehen machen. Ihre Trennung voneinander verweist darauf, dass beide ihr Ziel nicht erreichen können, jedoch unbändig danach streben. Werden sie schlichtweg addiert, könnte also das zerbrochene Ganze schlichtweg (wieder) heil werden, träte auch der Tod erneut ungemildert auf die Tagesordnung. Der auf diese Art wiederhergestellte, angeblich ganze Mensch wäre dem Tode nur noch erbarmungsloser verfallen als der entfremdete. Die Trennung von Musik und Sprache war selbst bereits eine Reaktion auf den Schrecken, von dem sie sich abstießen. Darin besteht das Grundproblem aller auf Entfremdungskritik basierenden Emanzipationsvorstellungen. Jede Befreiung, wie gelungen auch immer sie wäre, gelangt nicht dorthin, wo die Musik hinwill. Diese sehnt sich über die Dinge dieser Welt hinaus. Diesen Gedanken muss Emanzipation in sich aufnehmen, wenn sie nicht scheitern will. Ein verwirklichtes und gelungenes menschliches Leben wiese über gesellschaftliches Handeln hinaus – »Glück wäre über der Praxis« (Adorno 1970, 26).
Der Mensch strebt nach einem Leben ohne Tod, vermag jedoch ein solches nicht zu verwirklichen. Seine Existenz vollzieht sich in diesem Spannungsbogen. Zwischen Intention und Verwirklichung eines Lebens ohne Tod besteht ein Widerspruch. Musik und Sprache versuchen diese als die beiden grundlegenden und gegensätzlichen menschlichen Äußerungen zu bewältigen. Jede der beiden verweist auf ihr Gegenteil und gleichzeitig auf etwas, wovon sie ihrerseits nur ein Teil sind, das nicht begrifflich zu fassen ist, sondern das nur als Gegensatz von sprechend-singend und singendsprechend geahnt zu werden vermag. Musik verweist auf Sprache und Sprache auf Musik und beide auf ein Ganzes, von dem sie selbst nur Momente darstellen.
2. Absolute Musik
Musik ist der Versuch, eine Kunst des Sterbens zu sein, dazu ist sie prädestiniert durch ihr Zugleich von Er- und Verklingen. Die absolute erhebt das zu ihrem Prinzip: Indem es ihr ausschließlich um sich selbst geht. Erst sie strebt wirklich danach, nur Musik, und nichts sonst, zu sein. Abgrenzend lässt sie sich zunächst als eine textlich, programmatisch oder zwecklich nicht gebundene, nicht außermusikalisch definierte, selb- und eigenständige Musik beschreiben. Nach Hanslick handelt es sich bei ihr um »reine absolute Tonkunst […] die keinen anderen Zweck als sich selber hat.« (Honegger/Massenkeil 1976, 6)
Jene Musik, die wir heute »klassisch« nennen, tritt mit dem Anspruch auf, nur Musik zu sein. Man rezipiert sie in abgedunkelten Konzertsälen im Sitzen, ohne zu tanzen, zu essen oder zu trinken, zu beten oder sich zu unterhalten, d. h. nur als Kunst. Im Mittelpunkt dieses Konzepts steht eine Musik, die deshalb die absolute heißt, weil sie von Programm, Funktion und Text, mit denen die Klangkunst einst verbunden war, gelöst erscheint. Darin besteht das ästhetische Paradigma einer von allem außermusikalischen Inhalt abstrahierenden und in diesem Sinne absoluten Musik. Musik als absolute muss in sich selbst sinnvoll organisiert sein, folgerichtig vonstatten gehen. Die Musik versucht dergestalt, den zeitlichen Verlauf in sich sinnvoll zu organisieren. (vgl. Stephan 1985, 43 f.) Sofern ihr dies gelingt, kann sie als eine Antwort auf die Sterblichkeit des Menschen, seine innere Zerrissenheit und Abhängigkeit von der Natur verstanden werden, indem sie der verfließenden Zeit Sinn und Bedeutung verleiht, das Sinnliche, den kontingenten Sinnesstrom der Erkenntnis, sublimiert.
Dabei bekommt sie es allerdings mit einigen schwerwiegenden Problemen zu tun. Ihre Formen, der Marsch, der Tanz und das Lied, bleiben dem sinnlichen Leben, dem Alltag der Menschen und dem Kultus verbunden, also dem, wovon sie sich gerade zu emanzipieren trachtet. Hierbei handelt es sich – wie bei jeder wirklichen Abstraktion – stets um eine von etwas. Auch die Musik kommt, dem Vorurteil von ihr als der geistigsten aller Künste zum Trotz, nie vollständig von dem los, wovon sie abstrahiert. Ihr Absehen vom Sinnlichen drückt sich höchst sinnlich aus, in Tönen bzw. in deren Zusammenhang. Ihr angeblich ungegenständlicher Charakter manifestiert sich ausgesprochen gegenständlich: in Schwingungen von Luftsäulen, die vom menschlichen Gehör in physiologische Reize übersetzt und in dieser Form vom Gehirn verarbeitet werden.
In dieser doppelten Hinsicht bleibt auch die absolute Musik stets dem Sinnlichen verbunden, sosehr sie davon abzusehen gedenkt. Mehr noch: Die Konzentration auf einen besonderen Sinn, das Hören, wird in ihr geradezu auf die Spitze getrieben. Um des absoluten Charakters der Musik willen hat das Werk als Ganzes in sich sinnvoll und gelungen zu verlaufen, sich logisch aus voneinander unabhängigen Momenten zu ergeben. Entweder jedoch erweisen sich diese Momente als nicht wirklich autonom oder das Ganze wird in sich brüchig. (ebd., 43 f.) An dieser Problematik laboriert die absolute Musik seit ihren Anfängen. So absolut, wie sie sein möchte, vermag sie nicht zu sein. Mit ihrem Ungenügen verweist die absolute Musik auf das einer Kunst des Sterbens, damit auf das der Musik als solcher, darauf, dass sie dem Außermusikalischen entsprungen ist und auf dieses zielt.