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4. Form und Inhalt in der absoluten Musik

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Die erklingende bzw. komponierte Musik muss, um dem Konzept der absoluten Musik zu genügen, in sich folgerichtig sein. Die Sonatenform war der entsprechende Weg, dies zu erreichen. Beethoven übernahm sie von Mozart und Haydn und gestaltete sie grundlegend um. Ihre Struktur besteht in der Abfolge von Exposition, Durchführung und Reprise. Die Durchführung war vor Beethoven nur ein kleiner Zwischenteil, in der Mitte zwischen dem streng komponierten Anfangs- und Endteil der Sonate gelegen. Erst bei ihm entwickelte sie sich zum bevorzugten Ort kompositorischer Freiheit und Subjektivität. Sie wird, jetzt als wirkliche Durchführung mit eigenständigem Charakter, zum Zentrum der Sonatenform. Damit erst wird der Anfang der Sonate zu einer wirklichen Exposition, ihr Ende tatsächlich zu einer Reprise. Das ganze Werk soll durchgehend organisiert sein und sich so als werdendes Ganzes erst entfalten. Darin besteht die musikalische Verwirklichung von Beethovens ästhetisch-politischem Konzept des Weges zum neuen Menschen:

Als Napoleon der Musik wollte er die Kunst des Komponierens beherrschen wie dieser die Strategie des Kriegführens. Im Sinne der Aufklärung davon überzeugt, daß […] nicht nur die Gewalt der Waffen, sondern auch die Macht des Geistes vonnöten sei, um die Höherentwicklung der Menschheit durchzusetzen, gab er alles dafür, um der Feldherr im Reich des Geistes zu werden. (Geck 2000, 2)

Über enharmonische Verwechslung7 sagte er, sie ziele auf eine Wesensveränderung des Menschen (vgl. ebd.). Mit dem ersten Ton einer Sinfonie ist man bei ihm schon mittendrin. Aus wenigen Grundgestalten entsteht ein sich entfaltendes musikalisches Ganzes. Das Klopfmotiv der Fünften steht dafür paradigmatisch. (vgl. ebd., 20) Bei dieser Vorgehensweise differieren jedoch von Anbeginn das Musikalisch-Allgemeine und das Musikalisch-Besondere, die Gesamtdisposition, die sich in den Tonarten und ihrer Modulation auskristallisiert, und die einzelnen Themen. Dem streng durchkomponierten Hauptsatz gesellt sich ein bereits in geringerem Maße streng angelegter Seitensatz hinzu. Dazwischen vermitteln zumeist noch weniger autonome Überleitungen, die sich häufig aus dem Hauptsatz ableiten. Radikale und verwirklichte Freiheit regiert nur in der Durchführung. Beethoven beschränkte ihr Walten mit Grund auf diese bestimmte Partie. Die Kräfte der Subjektivität sollten so daran gehindert werden, die Einheit des Ganzen von innen zu unterminieren. Gerade um die proklamierte Emanzipation zu verwirklichen, erwies sich ein ordnender Rahmen als notwendig, innerhalb dessen sich Freiheit entfalten kann. Preis dafür war die Einschränkung der individuellen Spontaneität. Beethovens Spätstil weist einen möglichen Ausweg aus dieser Problematik: die Gegensätze werden dort schroff nebeneinandergestellt. (vgl. Stephan 1985, 45 ff.)

Auch Brahms folgte scheinbar der strengen Form des Sonatensatzes. Bei ihm entspringt das Geistige gleichfalls unmittelbar dem Sinnlichen. Er hält im Gegensatz zu Wagner und den »Neudeutschen« wie Liszt und Berlioz äußerlich an der herkömmlichen Form fest, radikalisiert dieses Prinzip jedoch durch immer stärkeren Ausdruck der Subjektivität. Damit erfasst das durchführende Prinzip schließlich die gesamte Sonate. Subjekt und Objekt werden von Anbeginn vermittelt. Schönberg spricht diesbezüglich von Brahms als »dem Fortschrittlichen«8. Was mit dieser Formulierung gemeint ist, zeigt sich am Anfang des Klavierquintetts op. 34, in dem nach wenigen Takten Anfangsmelodie eine Sechzehntel-Figur den Fortgang erzwingt. Diese Gestalt erweist sich jedoch sofort als doppelte Verkleinerung der ersteren Melodie. Thematische Arbeit setzt unmittelbar ein, augenblicklich wird durchgeführt, was wenige Takte zuvor exponiert wurde. In dieser zeitlichen Verdichtung zeigt sich ein extremes Bedürfnis nach Integration angesichts der dynamischen Tendenzen. Der musikalische Prozess kann nicht mehr bis zur Durchführung warten sich zu verdichten. Geist und Sinnlichkeit überlagern sich, weil Form und Expressivität an dieser Stelle nahezu ununterscheidbar zusammentreffen. Die gesamte Form wird dergestalt in eine objektive Ordnung gezwungen, in der alles Erklingende bis ins letzte Detail subjektiv durchdrungen ist. Das klassische Schema von Exposition, Durchführung und Reprise äußerlich festhaltend, beginnt Brahms unter der Hand von Anbeginn mit durchführungsartiger Gestaltung, der sogenannten entwickelnden Variation: Ein Werkzeug der (scheinbar) objektiven Musik, die Variation, verwirklicht dabei ihr gerades Gegenteil, radikale Subjektivität. Es gibt nichts Unthematisches, keine bloß abgeleiteten Themen mehr. Die Musik streift hier alle »konventionellen Floskeln, Formeln und Rückstände« (Kühn 1998, 82) ab. Diese Art zu komponieren betont den Akt des Hervorbringens: »Alles wächst heraus aus Einem« (ebd.).

Ziel ist ein strenger Satz, die »vollständige Integration aller musikalischen Dimensionen, ihre Indifferenz gegeneinander Kraft vollkommener Organisation« (ebd.). Das kündigt sich bereits in Brahms‹ erster Klaviersonate, op.1 an:

Je energischer aber Durchführungstechnik in die Exposition eindringt und diese damit selbst bereits zur ›Durchführung‹ macht, desto fragwürdiger wird ein eigener Durchführungsteil. Der ursprüngliche Formverlauf beginnt seinen inneren Sinn zu verlieren, die Radikalisierung der ›Durchführung‹ läßt die Sonatensatzform an sich selbst vergehen.9 (ebd., 143 f.)

Gustav Mahler erwies sich als Brahms’ getreuer Schüler, indem er stets von Anbeginn variiert, Original und Variation regelrecht verschwimmen lässt. Die Modifikation der Sonatenform wird ihm geradezu programmatisch: der Inhalt sucht sich bei ihm seine ihm entsprechende Form selbst.10 Mahler revoltiert gegen die absolute Musik auf ihrem eigenen Boden und erhebt damit Einspruch gegen ihr Ungenügen.

Das Subjekt erscheint bei ihm als naturhaft, abhängig und sterblich, weist jedoch von Anbeginn über dies hinaus.

Die Musik ist keine Kunst des Sterbens. Sie zeigt vielmehr, dass es eine solche überhaupt nicht geben kann. Aber desto mehr zeigt sie die Notwendigkeit einer solchen. Dem wird im Folgenden anhand Mahlers Sinfonik nachgegangen.

Vorübung zu einer Kunst des Sterbens

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