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Zum Geleit

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von Christoph Türcke

Philosophie ist nach Platon die Kunst, das Sterben zu lernen (ars moriendi). Aber befähigt die Musik als »Einheit von Erklingen und Verklingen« (Peter Gülke) dazu nicht mindestens genauso? Allerdings bleiben Menschen in dieser Kunst lebenslang Lehrlinge. Keiner wird Meister. Dennoch vermag Gustav Mahlers Musik, in der ständig der Tod mitschwingt, in überwältigender Weise hörbar zu machen, was gelungene ars moriendi wäre. Davon handelt das vorliegende Buch in eindrucksvoller Weise.

Der zwanzigjährige Mahler hatte bereits sein Lebensthema gefunden. Er artikuliert es, gleichsam aus dem Stand, in seinem ersten großen Chor- und Orchesterwerk: dem Klagenden Lied. Es vertont das Märchenmotiv vom Knochen des erschlagenen jüngeren Bruders, den ein Spielmann findet. Dieser schnitzt sich daraus eine Flöte, die das Schicksal des Erschlagenen klagt. Als der Spielmann zum Königshof kommt, wo der ältere Bruder Hochzeit mit der Königin hält, und das Lied der Flöte den Bräutigam als Mörder identifiziert, versinken Schloss und Hochzeitsgesellschaft. Die Knochenflöte tut märchenhaft, was die Musik nicht kann: Ihr Klang spricht zugleich. Ihm ist die Sprache innerlich eingesenkt, nicht äußerlich aufgesetzt, wie wenn Menschen Text singen. Die imaginäre Vereinigung von Sprache und Musik zur utopischen Klanggestalt der Versöhnung geschieht aber nur in Form bitterer Klage über den Mord und Anklage gegen den Mörder.

Während Theodor W. Adorno Mahlers großen Erstling lediglich als Vorübung erachtete, noch gar nicht ernstlich als Werk, erweist sich der Vorschlag, »Mahlers Sinfonien als Variationen des Klagenden Liedes« zu verstehen, als verblüffend schlüssig. Martin Dornis macht das Knochenflötenmotiv als roten Faden durch Mahlers OEuvre kenntlich. Er legt dar, wie sich dieser Faden durch das gesamte sinfonische Werk hindurch fortspinnt. Nie allerdings verlässt er bei der Beschreibung von harmonischen, rhythmischen oder klangfarblichen Einzelheiten die musikalische Bedeutungsdimension.

Seine besondere Aufmerksamkeit gilt den letzten beiden großen Werken Mahlers: dem Lied von der Erde und der Neunten Sinfonie. Im Lied von der Erde wird eine chinesische Flöte zum Gegenstück der Knochenflöte. Ohne Chor, aber dank zweier alternierender Solostimmen, bekommt Vergänglichkeit den Charakter des »Verhauchens«, das Rettung und Erlösung sowohl dementiert als auch hörbar macht. Klage, Anklage, Versöhnung, im Klagenden Lied gelegentlich noch auseinanderdriftend, fallen hier mehr und mehr ineinander, ohne jedoch ganz eins zu werden. Im letzten Satz der Neunten schließlich findet der Schluss des Lieds von der Erde noch einmal ein rein instrumentales Echo, worin Mahler das Verhauchen in eine instrumental komponierte Dekomposition der Sinfonik transponiert. Dieses Ende bleibt paradox. Es wehrt sich dagegen, eines zu sein. Sein Verhauchen ist ein Verklingen, das nicht verklingen will, das sich weder dem Immer-so-weiter schlechter Unendlichkeit noch dem Gedanken des ewigen Kreislaufs von Leben und Tod noch dem »Stehenden Jetzt« der christlich verstandenen Ewigkeit fügt, sondern Zeit und Ewigkeit in einen buchstäblich unerhörten dissonanten Zusammenhang bringt.

Es gelingt Martin Dornis, Mahlers Sinfonik vom Klagenden Lied her neu zu erschließen. Er setzt damit in der Musikphilosophie um Mahler eine bemerkenswerte Zäsur.

Vorübung zu einer Kunst des Sterbens

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