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Die neue Stadt
ОглавлениеDamit war er Teil des großen, der Kommune der nicht Nackten. Mit Schutzbrief, dem Glauben, für die Zukunft ausgestattet, musste er nun seinen Sold erfüllen. Kani alias >Shirt und Hose< hatte sich seiner Freiheit um ein kleines Stück beraubt. Denn er brauchte nun unbedingt Shirt und Hose für die ganze Familie. Die Angehörigen konnten natürlich nicht weiterhin nackt sein im Dorf. Um glücklich zu sein , muss man Shirt und Hose haben, dachte Kani.
Damit standen ihm die Türen offen. Wäre da nicht das Geld gewesen. Zumindest umsehen konnte man sich im Einkaufsladen. Aber nur das alleine ging auch nicht für Kani. Zu groß war die Versuchung der angebotenen Waren.
Nur Brot? Das Brot der Ausgabestelle ist in die zweite Reihe gerutscht. Es gab viel besseres als das Geschenkte. Die Kinder waren nicht satt. Egal. Bewaffnet mit Shirt und Hose ging es der Freiheit ein für alle mal an den Kragen. Er war jetzt jemand im Stamm. Das Schutzpaket Glaube, mit der Erklärung für das Ende, nahm der ewigen Ruhe des Stammes die Luft zum Atmen. Dort herrschten jetzt andere Gesetzte. Die Freiheit des >Nichts< wurde nicht mehr gelebt. Dieses >Nichts< war weder gut für Kani noch für seinen Sohn Elli, dachte er.
„Der Sohn und die Tochter sollen es besser haben in diesem Jetzt. Weil es nicht gut ist, nackt zu sein. Es ist nicht gut, Nichts zu sein. Jeder muss Teil eines Etwas sein.“ dachte er.
So war Kani der Erste in seinem Stamm mit Shirt und Hose. Er hatte das kostenlose Brot und die Freiheit mit etwas Größerem eingetauscht. Das „nichts haben“ das Kani die Freiheit gegeben hatte, existierte nicht mehr. Somit träumte er mit seinem Stamm vom Weg nach Europa.
„Dort liegt die Freiheit“ predigten die Erzähler.
„Dort kommen die besten Lebensmittel in Konservenbüchsen her.“
Kani, Shirt mit Hose, wollte auch die Konservenbüchsen aus Europa. Die Büchsen aus dem kleinen Supermarkt in Athandii. Seine Arbeit auf dem Feld schien ihm nicht mehr wichtig. Das Geld war neu in seinem Leben. Früher gab es die Ziege. Die Milch der Ziege gab ihm die Möglichkeit, beim Nachbar ein Ei der Henne einzutauschen. Mit dem Ei der Henne und der Milch der Ziege und dem Getreide von seinem Feld konnte seine Frau einen Brei machen. Ein Teil dieses Breies gab er dem Kuhhirten, welcher ihm ein Stück Fleisch überließ. Seit es Büchsen gab, verabschiedete sich der Handel mit Waren in seinem Dorf. Um das Geld für die Büchsen aus Europa zu bekommen, mussten alle im Stamm einer anderen Arbeit nach gehen. Die Ziege wurde schon lange gegessen. Es gab ja auch keine Hühner mehr. Das Fleisch des Kuhhirten ging schon längst in die Fabrik für die Büchsen aus Afrika. Da der Kuhhirte aber viel Geld brauchte für die Büchsen aus Europa, welche seine Familie ernährten, gingen ihm auch bald die Kühe aus. Die eigenen Büchsen, die aus Afrika, waren viel zu teuer. Es gab ja die europäischen Büchsen. Jene waren billiger und besser. Weil die Union in Europa zusammen hielt, konnten die Bauern dort billiger nach Afrika exportieren. Ein Geschenk für Afrika. Das arme Land. Jetzt konnten die Bauern in Afrika anderen Tätigkeiten nachgehen. Sie mussten ja nach Europa. Sie wollten lernen, wie man so billig nach Afrika exportieren kann. Sie wollten lernen, wie Europa Afrika wieder einmal helfen kann. Oder besser nicht?
Jetzt haben alle Shirt mit Hose. Ganz viele leere Büchsen mussten gesammelt werden. Dann bekam er Geld für eine volle, europäische Büchse. Arbeit bei der Firma hatten nur ein paar Glückliche bekommen. Viel mehr leere Büchsen gab es in der großen Stadt. Darum zog Kani Masud mit seiner Familie an den Rand der großen Stadt. Dort im neuen Dorf, kurz vor der großen Stadt, waren viele Menschen vom ganzen Land. Die neuen Häuser sind aus Pappe. Eine große Schachtel reicht fürs erste, für die ganze Familie. Die Kinder sind nicht oft im Papphaus. Sie müssen ja sammeln gehen. Er muss auch die Frau beschützen. Andere, die nicht mit Sammelabsicht gekommen sind wollen seine Frau. Sie ist hübsch, Ani die Frau. Hier in der Vorstadt sind nicht viele lang hübsch geblieben. Sie verdienen ihr Geld mit Arbeit. Keine ehrenvolle Arbeit wie Büchsensammeln.
Die Regierung ist hier in Gangs aufgeteilt. Jede betreut ein Gebiet von sehr großem Ausmaß. Um den Standplatz seiner Papphütte zu bezahlen muss er viele Büchsen sammeln. Kani geht in die große Stadt. Dort gibt es viele weiße Menschen die Büchsen einfach in den Müll werfen. Er hörte sie reden. Von Europa. Großes weites Land. Alle haben viel Geld in Europa. In Europa schwimmt man in Seen voll mit Honig. Wenn er zurück kommt in sein Haus aus Pappe, ist er immer froh die Frau unversehrt zu sehen. Sie muss sich verstecken wenn er nicht da ist. Elli und Annisa, die Kinder, sind schnell. Die kennen die Wege in der Pappstadt in und auswendig. Sie müssen sich nicht verstecken. Kleine Kinder sind schneller wie er und die Gangs der Pappstadt. Morgen will er die Kinder mit nehmen in die große Stadt. Die Kinder wollen nicht mehr auf die Müllhalden am Rande der Vororte gehen. Sie hassen den Gestank. Es ist dort nicht wie in der Heimat mit der Ziege, dem Nachbarn mit der Henne und all den anderen. Die ganzen Bewohner vom alten Dorf sind auch hier. Das wissen die Kinder aber nicht. Die verstehen noch nicht, dass es wichtig ist hier zu sein. Damals waren sie nackt. Jetzt nicht mehr. Sie leben in der Pappstadt. Morgen dürfen sie zum ersten Mahl mit, in die große Stadt, Büchsen sammeln. Die Kinder freuen sich auf Morgen. Heute schlafen sie alle zusammen in der Papphütte.
Noch bevor die Sonne am Morgen zu sehen war, erreichten sie die ersten Häuser aus Stein. Der Teer der Straße gab über Nacht kaum seine Wärme ab. Noch nie liefen sie mit ihren kleinen, nackten, Füßen auf einem fast unerträglich heißen Asphaltboden. Je weiter sie gingen, desto größer wurden die Häuser um sie herum. Das morgendliche Erwachen der Stadt mit ihren Millionen Einwohnern begeisterte die Kinder. Fußgänger eilten um ihren Bus zu erreichen, der sie in die Arbeit brachte. Fahrradkuriere drängten sich an stehenden Autoschlangen vorbei. Alles bewegte sich in Richtung Zentrum der Stadt. In weiter Ferne war es zu sehen, das Herz der Metropole. Große Wolkenkratzer, hoch wie Berge, reflektierten das Sonnenlicht an ihren Fassaden. Es schien, als ob die unzähligen Hochhäuser ihre eigenen Seelen besaßen, welche hell leuchtend, eine magische Anziehungskraft auf die Bewohner hatte.
Kani hatte die Kinder ermahnt immer bei ihm zu bleiben. Nicht stehen zu bleiben. Hier kann man sich leicht verlaufen. Er zeigte ihnen die ersten Mülleimer. Die guten Plätze, wo man so einiges brauchbares finden konnte. Was gut war, steckten sie in die mitgebrachten Plastiktüten. Kani war sich sicher, mit den Kindern konnte er mindestens drei mal so viele Büchsen sammeln. Doch noch funktionierte sein Plan überhaupt nicht. Die Kinder waren fasziniert von den großen weißen Steinhäusern, den Autos, den Fahrrädern, den Motorrädern, den vielen Menschen mit Schuhen und schönen Kleidern. Sie sahen Frauen mit weißem Haar und Männer mit grauen Bärten. Heute war Sammeln nicht so wichtig für die Kleinen. Doch der Vater ließ ihnen keine Zeit, um herumzutrödeln. Wieder und wieder ermahnte er sie, sich den Weg zu merken. Sich an die wichtigen Plätze hinter den Häusern zu erinnern. Dort, wo er immer fündig wurde, wenn er in die große Stadt ging. Er versprach den Kindern einiges. Wenn sie fleißig sammeln, bekommen sie eines Tages eigene Schuhe. Das wollten die Kinder. Schuhe für die große Stadt. So wurden die Kinder ein Teil von Kani’s Plan. Sie vergaßen schnell, dass sie es so schön hatten in ihrer alten Heimat. Damals, als sie nackt und glücklich waren.
Tage später ging Annisa alleine in eine kleine Seitenstraße. Elli übernahm eine andere Straße. Es war schon spät, wie immer, wenn sie in diese reiche Gegend kamen. Der Vater hat es ihnen nicht erlaubt, so spät noch zu sammeln. Doch Annisa wollte unbedingt die Schuhe haben. Die schönen Schuhe für die geschundenen Kinderfüße. Darum bemerkte sie nicht, dass es schon dunkel wurde und sie schon viel weiter in der Stadt war als je zu vor. Die Lichter der Häuser gingen an jenem Abend an. Kurz blickte sie auf. Sie dachte, jemanden gehört zu haben. Unsichtbar zu sein war wichtig für ihre Arbeit. Nur so konnte sie die Deckel der Tonnen öffnen, ohne die Aufmerksamkeit auf sich zu richten. Doch die Lichter des großen Hauses faszinierten sie so sehr, das sie für einen Moment inne hielt. Wer sie sei, fragte eine große Gestalt im Garten des Hauses. Starr vor Schreck konnte sie ihrem normalen Reflex, schnell weg zu rennen, nicht nachgehen. Die Gestalt trat aus dem Schatten hervor. Es war eine große weiße Frau. Die Frau hatte langes blondes Haar. Als sie näher kam bemerkte Annisa die himmelblauen Augen der Frau. Sie trug einen dunkelroten Umhang und weiße Sandalen. Annisa hatte keine Angst mehr. Was sie sah, war schön und faszinierend. Die große Frau schien wie ein Engel in den Geschichten, die der Vater ihr seit seiner Taufe immer wieder erzählt hatte. Ein großer weißer Engel. Das musste diese Frau sein. Darum hatte Annisa keine Angst.
„Schon wieder ein Kind. Ein Kind der Nacht. Ein Kind der Straße.“ Die Frau streichelte Annisa über die Haare. Sie nahm sie mit in das große Haus mit den vielen Lichtern. Annisa folgte ihr ohne zu zögern. Es war ja ein Engel.
„Wie heisst du? Jina Lako nani?“
„Jina Langu ni Annisa.“