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Die Auslese

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Annisa freut sich, dass nicht mehr in der Pappstadt leben muss. Sie hasst die Menschen dort. Es stinkt fürchterlich. Zuhause im Dorf lebte sie gerne. Aber nicht in der Pappstadt.

„Wieso hat sich alles so verändert?“ fragt sie sich oft. Als kleines Kind war sie glücklich in ihrem Heimatdorf. Die Eltern haben sie in die Pappstadt gebracht. Das konnte sie ihnen nicht verzeihen. Sie hatten sich verändert, die Eltern. Alles drehte sich nur noch um das Geld. Alle wollten ganz viel Geld verdienen. Keiner spielte mehr mit ihr. Gut ist, dass die weiße Frau mit ihr spielt. Sie hat ihr die Haare gekämmt. Ihr ein neues Kleid gekauft. Sogar Schuhe hat sie bekommen. Sie vermisst Elli, den Bruder. Der Bruder weiss, wo sie ist. Er hat alles gesehen. Er versteckte sich, als die Frau kam. Dem Vater würde er nie etwas davon erzählen. Der Bruder liebt die große Stadt auch. Er hasst die Pappstadt genau so wie Annisa. Ob er wohl in die Pappstadt zurück gegangen ist, der Bruder? Doch im Moment ist ihr alles egal. Sie sieht aus dem Fenster in ihrem Zimmer. Die Lichter der Unterstadt leuchten hell wie Sterne am Himmel. Hier ist es besser für sie. Kein Heimweh plagt ihren jungen Geist. Es war ihr nicht klar, was die Frau mit dem weissen Mann geredet hat. Die Sprache, welche sie benutzten, kannte sie nicht. Ausser >Wie heisst du?< die Frage nach ihrem Namen, hat sie nichts verstanden. Er scheint nicht sehr freundlich zu sein, der Mann. Aber die Frau mit den blonden Haaren ist für sie wie eine Person aus einer der Geschichten, welche Grossmutter ihnen immer erzählt hatte. Ein guter Geist.

Kani, Hemd mit Hose, verstand die Welt nicht mehr. Er prügelte den Sohn windelweich. Schrie ihn an. Zerrte ihn an den Haaren, aber nichts. Der Junge sagte, sie sei verloren gegangen. Er wisse nicht, wo. Er habe sie aus den Augen verloren. Der Vater war zornig und verärgert darüber, die Kinder mit in die Stadt genommen zu haben. Die Mutter schrie und weinte. Doch es nützte nichts. Sie mussten weiter machen. Der Vater brauchte die Büchsen. So schickte Kani den Sohn, als Strafe, wieder zum Müllplatz. Als der Sohn die ersten Papphütten hinter sich gelassen hatte, verließ er seinen Weg und ging in Richtung Stadt. Er dachte nicht daran, dem Vater zu gehorchen. Er hatte genug von dieser Pappstadt-Welt, in der er leben musste. Mit seinen zehn Jahren dachte er, dass der weisse Mann nur Unheil über sein Dorf gebracht hatte. Irgendwie wollte er das ändern.

Die Lichter gehen langsam aus. Die Nacht weicht dem Tag. Die ständige Geräuschkulisse der Stadt beginnt ihren täglichen Rhythmus zu finden. Das Gezwitscher der Morgenvögel wird unsanft von den Motorgeräuschen der Autos, welche sich in die Stadt bewegen, verdrängt. Gegen sechs Uhr am Morgen erwacht Martin Boeremann. An den Lärm muss er sich noch gewöhnen. Zuhause gibt es nur die Klänge der Büchsenfabrik. Er liebt diese Geräusche. Mit jeder Büchse hat Martin zwanzig Cent mehr auf dem Konto. Das ist Musik für seine Ohren. Klick, Klick, Klick. Das Bimmeln der Kuhglocken seiner Kälber auf der Weide ist ihm nicht so sympathisch. Aber auch für die bekommt er Geld von der Union. Zwanzig Kühe, da kann eine kleine Familie schon davon leben. Das überlässt er aber dem Vater. Für Martin zählt nur Leistung. Das Abrechnen am Ende des Monats gibt ihm den Kick, das Suchtpotential für ihn in sich trägt. Langsam dreht er sich weg vom Fenster. Er beobachtet seine Frau. Sie schläft noch tief und atmet langsam. Mit Schönheit konnte er nie etwas anfangen, dennoch ist sie die Schönste im Dorf. Für ihn muss eine Frau arbeiten, kochen und Mutter sein. Seine Frau ist keine Mutter. Sie ist klug. Seine Freunde im Schwarzwald meinen, wie viel Glück er doch hatte, solch eine Frau zu finden. Die Freunde. Das Dorf. Der Vater. Die Kirche. Der Bürgermeister. Die Arbeiter. Das Finanzamt. Mit all denen konnte er umgehen. Verhandeln. Einen Deal machen. Gewinn für sich herausschlagen. Seine Frau, sie war anderes. Sie war gut zu ihm. Sein Vater wollte sie nicht, weil sie anders war. Er aber brauchte sie. Das andere. Die Einzige, die es wagt, ihm zu widersprechen. Dem Sohn des alten Bauern widerspricht man nicht. Man ist für ihn oder bald mal weg vom Fenster. Er kann Handeln und Verhandeln. Er drückt seine Gegner in eine Ecke. Bevor sie wissen, dass sie besiegt sind, hat er schon alle in seinen Händen. Dann lässt er sie los. Er gibt ihnen das Gefühl, gewonnen zu haben. Zumindest so lange sie Partner des Bauern werden. Die Sicherheit, ein Teil des Großen zu sein. Aber sie sind gefangen in den Verstrickungen des Bauern. Wer Freund des Bauern ist, bleibt am Leben. Der Bauer kennt sein Handwerk. Er weiss, wie man Leben gibt. Ohne nur mit einer Wimper zu zucken, kann er jenes aber auch nehmen. Seit seiner Kindheit nimmt er Leben.

„Wer Essen will, muss töten können“, sagte sein Vater zu ihm. So einfach sind die Gesetze. Früher war es ein Huhn, das er töten musste. Heute treibt er die Gegner in einen finanziellen Ruin und übernimmt ihren Besitz. So einfach funktionieren die Gesetze für ihn. Nur seine Frau konnte er noch nie in eine Schublade stecken. Das gefällt ihm an ihr, ohne es je zuzugeben.

Ein Schubser an ihre Schulter. Dann noch einer. Sie dreht sich zu ihm. Ob er schon lange wach liege? Es ist Zeit, hier etwas zu erleben. Er will nicht all zu lange in diesem Afrika bleiben. Ein paar Dinge erledigen. Die Leute aus seinem Land hier treffen. Etwas Großes im Nationalpark schiessen. Er will zurück zu seiner Fabrik. Dem alten Bauern ja nicht genug Zeit geben, um etwas Dummes in der Firma anzustellen. Der soll endlich in Rente gehen und ja nicht mitreden.

„Seine Zeit ist vorbei!“ sagt sie wissend, worüber er nachdenkt. Sie hält seine Hand mit ihrer linken. Zieht seinen Kopf mit ihrer rechten an sich und küsst ihn. Er soll noch schlafen. Die Haushälterin macht gerade Frühstück. Hier laufen die Dinge langsamer als Zu Hause. Eines nach dem Anderen. Er knurrt kurz. Umarmt sie, so sanft er nur kann. Es fällt ihm schwer, das zu tun. Hart ist seine Hand. Versteift seine Körperhaltung. Ganz verloren ihn ihrer Sanftheit.

Eine Stunde später sitzt der Bauer mit Monika und den drei Kindern am Frühstückstisch.

„Verstehen sie uns?“ fragt Martin seine Frau, während er sich ein Brot mit Schwarzwälder Wurst belegt.

„Sie sind Kinder von hier. Sie kommen aus den Slums. Ihre Eltern haben sie verlassen oder sind tot. Es gibt Tausende von ihnen, alleine hier in dieser Stadt.“

„Sie sprechen kein Englisch!“ murmelt er, während er kaut.

„Du sprichst kaum Englisch und verkaufst hierher die meiste Ware aus unserer Firma. Lass sie einfach hier sein, so lange du hier bist.“

„Ich brauche ihre Sprache nicht zu sprechen. Es sollte allen klar sein, was ich will, wenn sie mich nur ansehen. Für alles andere sollten wir keine Zeit verschwenden. Wieso auch? Wenn ich will, kann ich ein Kind haben. Muss mir halt ne andere suchen, die kann.“

Es ist still am Tisch. Die Kinder verstehen nicht, worum es geht bei dem Gespräch, dennoch spüren sie dass es besser ist, ruhig zu sein. Einen Moment, der doch länger ist, als ein Augenblick. Die erste Konfrontation seit einer langen Zeit. Der erste Stich ihn ihrer Brust, seit sie das letzte Mal mit ihm über die Sache geredet hatte. Der Moment scheint ewig in ihrem Herzen. Bis er es bemerkt. Er will noch sagen, dass er es nicht so gemeint hatte. Doch es ist zu spät. Sie überspielt die Situation, denn sie kennt ihn. Sie meint, dass alle gemeinsam mit auf die Safari gehen. Das Treffen mit den Freunden aus der Heimat. Alle gemeinsam. Mit den Kindern. Ob es ihm passt oder nicht. Als ob seine Worte nie existiert hätten. Wie ein Schild, welches seinen verbal aggressiven Pfeil ablenkt und zu ihm zurück schiesst.

„Gut. So soll es sein. Sie sollen alle mit. Kann ja nicht schlimm sein das Ganze.“ Er versucht, hart zu bleiben. Wie bei allen Verhandlungen. Bei Monika fällt es ihm schwer. Sie ist die einzige Frau in seinem Leben. Die wichtigste Person. Neben ihr gibt es nur die Firma. Den Hof. Den Gewinn.

Kurz darauf fahren sie los. Über die Hauptstrasse hinaus, vorbei an den Papphäusern der Pappstadt in den Naturpark.

„Willst du nicht wissen, wie sie heissen, die drei?“

„Ruhe!“ Nur das Geräusch des alten Dieselmotors.

„Die kleine hinten links heisst Annisa die in der Mitte Dawa, die rechts Rachida. Sind das nicht schöne Namen Annisa, Dawa und Rachida.“ Der Bauer konzentriert sich auf die Strasse. Er tut so, als ob er sie nicht hören kann Doch sie bemerkt den leichten Ansatz eines Lächeln in seinem Gesicht. Die Strasse durch die Pappstadt ist holprig und nicht geteert. Vielleicht erfreut er sich, aber nur daran, den Kindern eine grosse Angst einzujagen. Annisa ist zum ersten Mal in ihrem Leben in einem Auto. Sie sind zu Fuß vom Dorf in die Pappstadt gekommen. Jetzt fährt sie mit den weissen Menschen in einem grossen Auto durch die Pappstadt. Es ist der kürzeste Weg hinaus ins Reservat. Annisa bemerkt, wie sich der Mann, den die Frau Martin nennt, aufregt. Es muss wohl die Strasse und die Fahrt durch die Pappstadt sein, worüber sie reden. Annisa kennt die Papphütten, an denen sie vorbei fahren. Nur noch ein paar Meter. Jetzt müsste sie einbiegen, um ihre Hütte zu erreichen. Doch sie spürt kein Verlangen, dort noch einmal hinzugehen. Jetzt ist sie im Auto des weissen Mannes und der schönen Frau mit den blonden Haaren. Sie hat ein schönes Kleid bekommen. Die schönsten Schuhe, die sie je gesehen hat. Mit den anderen zwei Mädchen spielt sie gerne. Sie versteht Dawa und Rachida aber nicht. Die Mädchen sprechen eine andere Sprache. Es gibt viele Sprachen um sie herum. Eine spannender wie die andere. Alle will sie verstehen. Aber am Wichtigsten scheint ihr, die Sprache des weissen Mannes zu lernen. In ihrem jungen Alter begreift sie sehr schnell die Situation, in der sie sich jetzt befindet. Wieso sonst hätte die Frau sie aufgenommen? Die zwei waren keine Familie mit Kindern. Bei dem Mann spürt sie Abneigung, bei der Frau Wärme. Sie fühlt, das nicht alle drei bei ihnen bleiben können. Zu abweisend war der grosse Mann. Aber sie will nicht zurück in diese Pappstadt, in den Dreck. Dort herrscht Gewalt. Angst. Mädchen wie Annisa haben keine Zukunft in der Pappstadt. Die jungen Männer haben sie schlecht behandelt. Sie behandeln alle Frauen wie Dreck. Sie schlagen sie windelweich, bis sie mit in ihre Papphütte gehen oder schlimmere Sachen machen müssen. Jetzt spürt sie eine Sicherheit, die seit den Tagen im Afrikanischen Dorf nicht mehr vorhanden war.

„Vater war ein guter Mensch. Er konnte uns aber nicht beschützen. Er dachte, er tut es. Aber er sah nicht, was wirklich geschehen war“, dachte Annisa.

Es ist nur ein Bruchteil einer Sekunde. Die letzte Gasse der Pappstadt. Aber sie erkennt ihn, sie sieht ihren Bruder. In einer Gruppe junger Männer. Elli ist leicht zu erkennen. Annisas Bruder ist der Kleinste von allen. Eine hohe Stirn und nach hinten gekämmte, glatte Haare. Eine kurze Sekunde hat gereicht, um zu wissen, dass der Bruder nicht mehr beim Vater lebt. Die Männer, die bei ihm sind, sind die, vor denen sie sich am meisten gefürchtet hatte in der Pappstadt. Wer bei ihnen ist, lebt mit ihnen oder ist tot. Wechselte Elli, der Bruder, die Seite? Es musste so sein, denn er lebt. Annisa verspürte Angst um Elli.

Sie verlassen die Pappstadt. Vor ihnen öffnet sich eine grosse, unendlich weit erscheinende Ebene. Martin Boeremann fährt mit seiner Frau und den drei Mädchen auf der Strasse, in Richtung ihrer Zukunft.

Sie sitzen alle zusammen an einem grossen Tisch. Die Tischdecke ist weiss, das Besteck reines Silber. Bedient werden sie von afrikanischen Angestellten des Ressortclub German Lions. Annisa sitzt neben der Frau. Die Frau neben dem Bauern. Die anderen zwei Mädchen neben Annisa.

„Wir sollten expandieren. Es ist wichtig! Lass uns ausbauen. Ja? Nein? Mehr? Weniger? Wie viel? Dabei? Alle dabei? Dann lasst uns Pläne schmieden! Alles kann funktionieren, wenn wir zusammen halten.“

„Sie sind lieb, die Kinder, nicht?“ fragt Monika Boeremann. Alle Frauen am Tisch nicken.

„Ja. Wir wollen sie mit nach Europa nehmen.“

„Wollen wir?“ fragt der Bauer verärgert, bevor er einen großen Bissen von seinem Schweinshaxen nimmt. Monika sieht ihn an. Kein Lächeln entweicht ihrem Gesicht. Alle am Tisch sind ruhig.

„Ich will mit!“ Just fallen alle blicke auf Annisa.

„Sie kann ja unsere Sprache“, sagt einer der Männer.

„Annisa lernt schnell“, antwortet Monika.

„Ich will mit“, wiederholt sich Annisa.

„Ist sie nicht süss?“ Monika ist entzückt vom Talent Annisas und fühlt sich bestärkt in ihrem Vorhaben.

„Wir reden später darüber“, meint der Bauer. Wir reden später darüber. Die anderen Männer diskutieren noch darüber, wie gut es wäre, eine von hier in der Familie zu haben. Wenn sie gemeinsam die Firma in Afrika aufbauen sollten, ein Haupttreffer. Eine von der Familie, welche auch noch Beziehungen knüpfen kann zu den Menschen hier. Der Profit würde steigen. Es gibt gute, billige Arbeitskräfte hier in Afrika. Der Bauer beginnt zu überlegen.

„Bis in ein paar Jahren könnten wir anfangen. Annisa könnte junge Arbeiter von diesem Kontinent ausbilden und betreuen. Sie ist noch sehr jung. Aber hier werden die Menschen eh nicht alt. Junge, dumme Arbeitskräfte. Keine Gewerkschaft. Die Behörden hier verstehen meine Art zu arbeiten. Hier werden Geschäfte noch mit Geld und einer kleinen Provision geregelt. So gefällt es mir“, sagt der Bauer zu den anderen. Die Männer stossen auf ihr Vorhaben an. Die Frauen hören nicht zu. Sie wollen nicht hören, was die Männer von sich geben. Es dreht sich immer nur um das Geschäft und das Geld. Sie kennen ihre Männer nur zu gut. Sie lieben sie auf ihre Art. Diese Männer ermöglichte es ihnen, ihr Leben so zu leben, wie sie es wollen. Und da ist das Geld ein wichtiger Faktor. Sie sind alle starke Frauen. Neben einem dominanten Mann lässt sich gut leben, wenn man weiss, wie man ihn nehmen muss. Das ist die Stärke dieser Frauen und so fühlen sie sich insgeheim überlegen. Die Männer sind zufrieden. Sie unterhalten sich noch lange über die Mädchen. Über das Kinder haben. Darüber, eine >Familie< zu sein. Alle Anwesenden, ausser dem Bauern und seiner Frau, haben Familie. Es ist wichtig für die Frauen, ihre Erfahrung mit Monika zu teilen. Wenn es nicht klappt mit eigenen Kindern, warum nicht? Die Kinder hier sind ohne Zukunft. Die Zukunft für den Bauern und seiner Frau könnte, mit den Kindern von hier, eine gute werden. Monika fühlt sich wohl. Heute bekommt sie die Bestätigung, die ihr Martin nicht geben will. Der Bauer hatte kein Gespür für so etwas. Sie fühlt, dass ihr die Zeit davonläuft. Jetzt will sie sich für die Familie entscheiden, die sie hier zufällig gefunden hat. Was wohl auf sie zukommen würde, ist Monika nicht bewusst. Mehr noch. Sie will nicht in der Dunstwolke der Angst davon laufen. Es ist ihre Zeit. Dieses Afrika ist ihr Leben. Hier, wo das Leben entstanden ist, hier soll der Anfang für sie und ihre kleine Familie sein. Die Frau des Bauern will die Mädchen zu ihrer Familie machen. Der Bauer ist davon überzeugt, dass Annisa eine gute Investition für seine Geschäfte in Afrika werden konnte. In einigen Jahren wird sie gross genug sein, um wichtige Aufgaben für seine Firma zu übernehmen. Sie wird Teil der Familie werden. Und loyal ihm gegenüber. Sie kann die Afrikaner von der Arbeit in seiner Firma überzeugen. Ihm zu noch grösserem Reichtum verhelfen. Ein gutes Alter, um das Mädchen so zu beeinflussen, wie er sie brauchen könnte in ein paar Jahren. Martin lacht. Stösst mit den Männern an und trinkt sein Bier. Er freut sich über diese Entscheidung. Jetzt hat er keinen Grund mehr, dagegen zu sein. Es macht alles Sinn für ihn. So ist auch die Monika glücklich.

„Annisa kann mit. Das mit den anderen zwei Mädchen werde ich noch auf dem Heimweg regeln.“ prostet er den Männern zu.

Es wird Abend und die frühe Dämmerung Afrikas setzt ein. Als sie durch die Pappstadt fahren, brennen unzählige Öltonnen. Er findet nur einige Worte, kurz und bündig, bis er zum Punkt kommt.

„Annisa kann bleiben. Mehr geht nicht.“ Die Kleinen spielen hinten auf dem Rücksitz. Sie bekommen nicht mit, um welch wichtigen, zukunftsweisenden, Schritt der Bauer mit seiner Frau spricht. Monika bleibt ruhig. Sie dreht ihren Blick in Richtung der Papphäuser ab.

„Wir haben genug Geld. Wir können sie alle drei mitnehmen. Es wird uns an nichts fehlen.“ Der Bauer bleibt in seinen Worten kurz und direkt.

„Fangen wir mit Annisa an. Wenn das gut geht können wir in ein zwei Jahren immer noch weiter überlegen.“ >Morgen soll sie die anderen zwei Mädchen los werden. In das Waisenhaus geben. Er würde dem Haus auch eine kleine, bescheidenen Spende machen. Nicht zu viel. Eine dezente Zuweisung<, denkt er, als er Monika seufzen hört.

„Ich kann die Kinder auch gleich hier rauswerfen, wenn du jetzt mit der Weinerei nicht gleich aufhörst. Ich bin ja kein Unmensch, aber irgendwann reicht es.“ Er bleibt mitten auf der Strasse stehen. Er will ihr in die Augen schauen, aber Monika dreht ihren Blick immer noch in Richtung Papphäuser. Es ist klar, dass er seine Entscheidung den Kindern gegenüber getroffen hat.

„Es ist nicht klug hier stehen zu bleiben.“ Martin ist es in dieser Situation egal. Er würde es mit jedem aufnehmen können. Der Stärkste in seinem Dorf. Der Größte in seine Gegend. Hier in der stinkigen Ummantelung der Armen gibt es für den Bauern keine Furcht. Minuten herrscht Ruhe in dem Auto des Bauern. Die Kinder hören auf zu spielen. Sie erkennen Subba-Da-bebe. Ihre verhasste alte Heimat. Der Gestank der Mülltonnen, die am Abend in Brand gesetzt werden. Die Zeichen für die Stunden der Gewalt. Wenn die Tonnen brennen, gibt es andere Gesetze in der Pappstadt. Hier auf der grossen Strasse zu stehen, ist für die Kinder keine gute Sache. Zu oft musste sie die Gewalt miterleben, welche auf dieser Straße herrscht.

„Fahr. Fahr. Fahr!“ schreit Annisa den Bauern an. Der Bauer sieht immer noch die Frau an.

>Vielleicht doch keine gute Idee, überhaupt eines von den Kindern mitzunehmen“< denkt er sich in dem Moment.

„Sie hat recht.“ sagt Monika zum Bauern.

„Fahr. Hier bleibt keiner lange stehen.“

„Entscheide dich jetzt. Ein Kind oder keines.“ Sie soll jetzt entscheiden, die Frau vom Bauern. Er drängt sie. Monika versucht Annisa zu beruhigen, die immer noch schreit. Die hintere Türe des Jeeps wird aufgerissen. Kaum eine Sekunde dauert es, bis zwei Männer die drei Kinder aus dem Auto zerren. Der Bauer öffnet die Fahrertüre. Er schlägt auf einen der Männer ein. Es sind viele. Der Erste geht zu Boden. Der Bauer ist stark. Er zieht Annisa an sich, während er einem weiteren Mann mit seiner Faust direkt in das Gesicht schmettert. Auch dieser geht zu Boden und bewegt sich nicht mehr. Monika schreit panisch. Der Bauer wirft Annisa von der Fahrerseite zu seiner Frau. Er rennt um das Auto, um die anderen Mädchen zu befreien, aber es sind zu viele. Sie sind überall. Der Bauer muss zurück in das Auto. Noch einmal schlägt er mit der offenen Hand einen der Angreifer nieder, bevor er einsteigen kann. Dann fährt er los. Einige Leute auf der Strasse werden von seinem Auto niedergestossen und überrollt, bis sie die Ansammlung hinter sich lassen können. Der Bauer sieht seine Frau an.

„Schicksal. Was sollte ich noch machen? Es waren zu viele!“

„Annisa, morgen kommen wir wieder.“ Er will morgen nicht wieder kommen. Es ist so. Und das Überleben in der kurzen Situation hat es für ihn bestätig. Handeln, bevor die anderen eine Chance dazu bekommen. Zuschlagen, bevor man selbst geschlagen wird. Der Tag schliesst die Türen. Weitere Gespräche gibt es heute nicht mehr. Der Bauer kann das Weinen seiner Frau nicht mehr ertragen. Er ignoriert sie. Im Haus angekommen, trinkt er noch eine Flasche Jameson Whiskey, bevor er auf der Veranda glücklich einschläft.

Annisas Flügel

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