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In einer anderen Welt

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Annisa sieht in den kleinen Spiegel über dem Nachtkästchen, neben ihrem Bett. Sie betrachtet sich, dennoch versteht sie nicht, was sie sieht. Es ist ein Mensch mit strahlend braunen Augen, unterwegs auf einem einsamen Weg. In Gedanken sieht sie ihrem Vater, der Mutter und Elli, ihrem Bruder in die Augen. Sie sucht eine Antwort. Einen Grund, welcher sie aus ihrem Dorf, aus der Pappstadt, aus Afrika heraus getragen hatte. Sie musste nochmals von vorne anfangen. In diesem neuen Dorf im Schwarzwald verkauft niemand seine Tiere, um die Büchsen zu erhalten. Hier gibt es alles, was sie sich nur vorstellen kann. Es gibt grüne Wiesen. Die Kühe sind so gross wie sie noch nie eine gesehen hatte. Hunde und Katzen dick, so wie die meisten Menschen, die hier leben. Kaum eine Frau oder ein Mann ist annähernd so dünn wie ihr Vater es war. Das Wasser vom Berg ist trinkbar. Es gibt keine giftigen Schlangen. Ein leichter Luftzug holt Annisa aus ihrem Halbtraum. Es ist Zeit für ihre Rede. Schulabschluss. Nach zehn Jahren hat sie es geschafft in dieser neuen Heimat.

„Wir müssen gehen, los!“ ruft Monika Boeremann in den oberen Stock.

„Komme gleich! Ich geh nur nochmals kurz zu Grossmutter“, ruft Annisa Monika nach. Sie packt ihren kleinen Jutebeutel, welchen sie seit ihrer Kindheit in Afrika mit sich trägt. Ausser einem kleinen Schminketui enthält er einen alten Filofax sowie einen fein säuberlich gefalteten Ausdruck ihrer Abschlussrede zur Abiturverleihung. Sie nimmt sich die Zeit, um sich noch von der Grossmutter zu verabschieden.

Mit der Faust klopft sie an die Türe der Grossmutter. Sie ist mittlerweile über neunzig Jahre alt und hört nicht mehr gut. Das Radio läuft in ohrenbetäubender Lautstärke. Als Annisa das Wohnzimmer betritt, grüsst sie fast schon schreiend. Das Wohnzimmer einer alten Frau. Ein Teppichboden aus den siebziger Jahren. Genauso alt könnte der Fernseher sein, der in der alten Kredenz versteckt ist. Der Tisch und die Stühle stammen noch vomVater der Grossmutter, der eine Schreinerei im Dorf besass. Die alter Frau sitzt auf einem Sofa, das mit gehäkelten Decken und Polstern bedeckt ist. Sie drückt ihren alten Siemens Radio mit der rechten Hand an die linke Kopfseite. Ihr altergrautes, kurz geschnittenes Haar kämmt sie immer nach hinten. Der Anblick einer alten, aber sehr stolzen Frau, die viel erlebt hat. Die Grossmutter, wie Annisa sie nennt, hatte nie ein Problem mit ihr seit dem ersten Kennenlernen vor zehn Jahren. Es sind viele Jahre vergangen. Sie wusste, dass Martin der junge Bauer, ihr Sohn, und seine Frau Monika keine Kinder bekommen konnten. Es musste mehr dahinter stecken als nur ein Urlaub oder eine Geschäftsreise, als sie damals in Afrika waren. Das war der Großmutter bewusst. Der Sohn und seine Frau kamen mit einem Mädchen zurück. Als sie Annisa sah, spürte sie eine starke, positive Energie in ihr. Ein kleines junges Mädchen, schwarz wie die Nacht, mitten in einem kleinen Schwarzwalddorf. Es war der alten Frau egal, welche Farbe sie hatte oder welcher Nationalität das Kind angehörte. Sie war ein Geschöpf der Liebe und des Lebens. Monika, die junge Bäuerin, war glücklich und brachte ein lange nicht da gewesenes Gefühl von Wärme und Freude in das Haus des Sohnes. Die Grossmutter war sehr gläubig. Sie betete oft für das junge Paar, auf dass sie eine glückliche Familie werden würden.

Annisa dreht ihrer Grossmutter das Radio leiser und grüsst noch einmal.

„Es ist soweit, ich werde heute meine Rede halten, Grossmutter.“ Kurz wartet sie auf eine Antwort, bis sie bemerkt, das Grossmutter verzweifelt versucht, ihr Taschentuch auf ihrem alten Sofa zu finden. Seit kurzer Zeit entgleitet ihr das Augenlicht. Das Radio ist ihre einzige Möglichkeit, Informationen zu erhalten und sich die Zeit in den langen einsamen Stunden zu vertreiben. Von morgens bis abends. Es sind Tränen, die aus den Augen der Grossmutter rinnen. Annisa ist sich sicher, Tränen der Freude zu sehen. Freude über den langen Weg bis zu diesem Tag.

„Ok. Erzähle mir nochmals die Geschichte“, sagt Annisa, die sich auf einen alten Holzstuhl neben dem Sofa setzt.

„Die Geschichte des Loslassen und des Fliegens.“

Als die Grossmutter Annisa fragt, ob sie die Geschichte nicht schon zu oft erzählt hatte, verneint sie.

„Diese Geschichte kann ich immer wieder hören. Aber nur von dir.“ Die Grossmutter lehnt sich entspannt zurück. Sie hält Annisas linke Hand und schliesst ihre Augen, welche sich hinter der alten Hornbrille verstecken.

„Loslassen und fliegen?“

„Ja. Loslassen und fliegen!“

Annisas Flügel

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