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Das Hochwasser kommt!

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Ein fernes Donnern kündigte es an. Unsere große Wiese vor dem Haus, die der Seppl-Bauer im Dorf alle paar Jahre in einen Maisacker oder ein Kürbisfeld verwandelte, öffnete sich nach Westen. Im Sommer war es unser „Wettereck“, das heißt, dass Schlechtwetter immer von dort kam. Verfinsterte sich der Himmel „beim General“ – seine großen Besitzungen lagen in Richtung Lichendorf, dem nächsten Ort –, so konnte man sicher sein, dass das Gewitter, manches Mal auch ein Unwetter mit Hagel, zu uns kam.

Das Donnergrollen rührte von der Mur her: Am anderen Ufer der Mur, fast genau gegenüber von unserem Haus, lag die Papierfabrik Paloma in Sladki Vrh, oder wie es früher einmal geheißen hatte: Süßenberg. Die Maschinen der Fabrik erzeugten stets ein gleich bleibendes Rauschen, das man aber nach wenigen Stunden des Aufenthaltes in Weitersfeld an der Mur nicht mehr hörte. Nachts erhellten hunderte Lichter der Fabrik den Himmel. Nur zum Nationalfeiertag und zum Jahreswechsel gab es Tage, an denen in der Fabrik die Maschinen still standen, ansonsten liefen sie rund um die Uhr und verbreiteten ihr ständiges Geräusch.

Zur Fabrik gehörte weit flussaufwärts, an der Grenze zu Lichendorf, ein Wehr. Sein Betrieb war sogar schon im Vertrag von St. Germain im Jahre 1919, der nach dem Ersten Weltkrieg die Grenzen des heutigen Österreich bestimmte, festgeschrieben worden. Es diente dazu, aus den Fluten der Mur einen kleinen, bedächtig fließenden Mühlgang abzuzweigen, der aber kräftig genug war, die Turbinen für die Fabrik anzutreiben und damit die Stromversorgung des Werkes sicherzustellen.

Über die Jahre waren die Schleusen des Wehrs eingerostet, die im Bedarfsfall ein Überlaufgerinne für ein Hochwasser freigeben sollten. Niemand war an einer Wartung interessiert. Wichtig war nur, anstürmenden Wassermassen den Zufluss zum Werk zu verweigern, um Schaden von den Maschinen abzuhalten.

So war es auch in jenem denkwürdigen Jahr 1970, in dem unser Garten nicht weniger als sieben Mal überschwemmt wurde. Dabei trat die Mur beim Wehr auf der österreichischen Seite aus den Ufern und eine graubraune Brühe ergoß sich, immer schneller werdend, über die Äcker und durch die Auenwälder. Am Horizont sahen wir es kommen, das Verwüstung bringende Wasser, und bald erreichte es, geifernd, schäumend, kochend die große Wiese vor unserem Haus.

Für Vater brach jedes Mal fast eine Welt zusammen. Er hatte viel Geld und Mühe in einen kleinen, aber sehr gepflegten Garten investiert und eine schöne Sammlung von Rosenstöcken angelegt. Mit überschwänglicher Freude hatte er Besucher mit Rosensträußen der neuesten Zuchtsorten verwöhnt. Umso trauriger stimmte ihn, dass die Wasserwirbel nunmehr die schönen Blüten zerstörten.

Lehm, Gatsch oder Letten – wie die Einheimischen die Schlammablagerungen nannten – bedeckte in der Folge jedes Stückchen Boden, das unter Wasser gestanden war. Mühsam musste nach jedem Hochwasser Blatt für Blatt mit dem Gartenschlauch abgespritzt werden. Viele Kilo Schlamm mussten mit Scheibtruhen aus dem Garten gekarrt werden.

Für die Bauern in Weitersfeld war das Hochwasser eine Katastrophe. Die ganze Ernte war vernichtet und die Felder mussten erst vom Schlamm befreit werden, damit sie wieder bebaut werden konnten. Es war eine schlimme Zeit, die erst vorbei war, als eines schönen Sommers eine Uferregulierung der Mur errichtet wurde. In der Folge gab es nie mehr ein Hochwasser.

Doch zurück zum denkwürdigen größten aller Hochwasser. Es war dies das Jahr 1965 und nach allem menschlichen Ermessen sollte, ja dürfte ich mich als damals Vierjähriger nicht daran erinnern können. Aber einige Momente haben sich tief in mein kindliches Gedächtnis eingeprägt.

Mein Vater und mein Großvater hatten unser kleines Häuschen ohne Keller gebaut: sie waren sich der Gefahr des Hochwassers und des Grundwasserdrucks bewusst. Eine breite Betontreppe mit drei Stufen führte aus dem Garten in den Vorraum.

Auf der Höhe des obersten Stufenabsatzes endete der Sockel des Hauses. Bis hierhin war das Haus speziell gut isoliert, damit keine Feuchtigkeit in das Haus aufsteigen konnte. Auf dieser obersten Stufe hatte ich meinen Beobachtungsposten eingenommen, als das Wasser im Garten unaufhaltsam stieg. Bald war keine Wiese und kein Blumenbeet mehr zu sehen. Dann erreichte das Wasser die erste Stufe. Meine Begeisterung kannte keine Grenzen: nicht wegen des Wasser, sondern wegen der Fracht, die es trug. Eine Vielzahl kleiner Naturbewohner: Ameisen, Raupen, aber vor allem Käfer: große, bunte, kleine – alle strampelten im verzweifelten Todeskampf und appellierten an meine Hilfsbereitschaft und Menschlichkeit. Ich rettete so viele wie ich nur konnte und bot ihnen in Schachteln vorübergehend Quartier an.

Dosen, Töpfe, Teller – meine Mutter und mein Vater hatten alle Hände voll zu tun, unser Hab und Gut aus dem Erdgeschoss in den ersten Stock zu schaffen. Das ging sehr langsam, denn wir hatten nur eine Patentstiege, die man in den ersten Stock schieben und mit einer Plafondklappe abschließen konnte, wenn man sie nicht benötigte. Denn im ersten Stock lagen nur die zwei Schlafzimmer. Ich mochte sie besonders wegen der Dachschräge, die den Zimmern vor allem in der Nacht und bei stürmischem Wetter und bei Gewitter eine besondere Gemütlichkeit verlieh.

Nach dem Abendessen war ich nach oben geklettert und hatte wohl schon einige Zeit geschlafen, als mich meine Mutter weckte: „Steh’ auf“, sagte sie. „Du musst dich anziehen. Das Bundesheer kommt uns abholen. Wir müssen fort.“ Ich war zu verschlafen, um zu verstehen, warum wir fort mussten. Dann fiel mir das Hochwasser wieder ein. Meine Mutter erzählte mir, dass vor ein paar Stunden der Sturmmayer-Seppl aus dem Dorf so weit wie möglich an unser Haus herangeradelt war. Er stand auf dem kleinen, etwas erhöhten Holzbrückerl über der Schwarza und schrie über den sich schwarz dahinschiebenden Hochwassersee zu unserem Haus, dass das Wasser weiter steigen werde und wir uns bereit machen sollten. Das Bundesheer würde bald da sein und uns evakuieren. Wir seien die einzigen, für die Gefahr bestünde.

Frau Počič hatte ihr Haus schon früher verlassen und war zu ihrem Sohn nach Mureck gefahren. Bei Frau Sirf stand der Keller wie so oft zuvor unter Wasser. Das Wohngeschoss war über eine Stiege zugänglich und ziemlich hoch über dem Keller gebaut. Frau Sirf hatte schon vor einiger Zeit erklärt, dass sie im Haus bleiben würde, was immer auch geschehen möge.

Für mich kleinen Knirps war die bevorstehende Rettungsaktion ein absoluter Höhepunkt des sommerlichen Abenteuers. Meine Eltern sahen das nicht so. Sie waren einerseits besorgt, wie die Evakuierung mit einer mehr als 70-jährigen Großmutter funktionieren würde. Andererseits verzweifelten sie bei dem Gedanken, welchen Schaden das weiter steigende und in das Haus eindringende Wasser anrichten würde.

In aller Eile packte meine Mutter unsere wichtigsten Sachen zusammen. Mein Bruder und ich hatten kleine Rucksäcke, in die wir unsere Spielsachen verstauten. Dann hieß es warten. Um 23 : 30 Uhr – so lange war ich noch nie aufgeblieben – hörten wir Stimmen. Vater hatte unser Licht am Haus eingeschaltet, um den Weg zu weisen.

Es war eine sehr finstere Nacht und wir waren umgeben von schwarzem Wasser. Aus dem Wald bei der Schwarzabrücke hörten wir Schreie, es waren laut geschrieene Kommandos. Lampen blitzten auf und dann schob sich ein großes dunkles Schlauchboot mit vielen Soldaten an Bord an unsere Eingangstüre heran. Der Kommandant des Bootes begrüßte meine Eltern, und in aller Eile begannen wir unsere Habseligkeiten ins Boot zu reichen. Ich saß mit meinem Bruder am Bootsende neben Oma und Mutter. Vater ließ das Licht brennen, versperrte die Eingangstüre und los ging’s. Auf Kommando des im Bug sitzenden Hauptmannes ruderten die acht Soldaten in Richtung Schwarzabrücke im Wald. Die Brücke war nicht mehr zu sehen. Sie war überflutet und – wie sich später herausstellte – sogar weggerissen. Die Flutwellen kamen aus dem Westen und schlugen links seitlich an unser Boot. Nach wenigen Metern auf Kurs West begann das Boot bedenklich nach Osten abzudriften. Die Kommandos wurden schärfer, die Soldaten ruderten aus Leibeskräften.

Wir hatten fast den Ort erreicht, an dem sich unsere kleine Holzbrücke befinden sollte, als eine mächtige Strömung unser Boot nach rechts in den Wald drückte. Man konnte das Schwitzen der Soldaten spüren und uns wurde angst und bang. Weiter ging es ins Gestrüpp. Der Hauptmann schrie wie ein Stier und versuchte die Schlagzahl der rudernden Soldaten zu erhöhen. Allein, das Boot hing mittlerweile zwischen den Bäumen und bewegte sich nicht. Durch die Zweige sah ich das Licht unseres Hauses und überlegte, ob der Dachboden nicht doch der sicherere Ort gewesen wäre.

Langsam und mit übermenschlicher Anstrengung der Soldaten löste sich das Boot aus der Umklammerung der Äste und schwankte der Freiheit entgegen. Alle Äste erschienen feindlich und von der Absicht getrieben, das Boot wieder in die Nacht des Waldes zurückzureißen.

„Und vor, und vor!“ Geradezu flehentlich brüllt der Kommandant den Soldaten Mut und Entschlossenheit zu. Träge bewegt sich das Schlauchboot gegen die Strömung. Zentimeter um Zentimeter kommt es voran, mehr von Hoffnung als Kraft getrieben. Wir müssen fünfzig Meter über die Stelle der Brücke hinausgerudert sein, ehe der Kommandant nach Steuerbord rudern lässt. Das Boot dreht sich rasch und schneidet schräg durch die Waldschlucht über die nicht mehr erkennbare Brücke auf das Kreuz zu. Mit einem Satz springt der Kommandant aus dem Boot und ergreift etwas im Wasser. Er hantiert am Bug des Bootes und plötzlich heult ein Windenmotor auf. Etwa fünfzig Meter vor uns steht ein Bundesheer-LKW, der sich plötzlich auf der Geraden in Richtung Dorf in Bewegung setzt und uns langsam aus dem Wasser zieht. Bei der Hälfte der Strecke ins Dorf läuft das Boot auf Grund. Es ist geschafft! Rasch wird das Boot im hinteren Teil des LKW verstaut und wir werden auf die Pritschenbänke gehoben. Wohin jetzt? Vater verhandelt mit dem Kommandanten und wir bleiben vor dem Wohnhaus des Sturmmayer-Seppl stehen. Ein großes Hallo bei der Begrüßung, Umarmungen. Am nächsten Morgen erwache ich im bäuerlichen Schlafzimmer. Der Bauer hatte die Nacht am Heuboden verbracht, damit die Städter in anständigen Betten schlafen konnten.

Ein paar Murfischer waren vom Hochwasser bei der Überfuhr eingekesselt worden. Sie saßen auf einer Halbinsel fest und um sie herum tosten die wilden Fluten. Am Morgen hörten Neugierige, die „Hochwasser schauen“ gingen, ein lautes Schreien von Bäumen an der Mur. Die Feuerwehr fuhr mit dem Feuerwehrauto weit in das Hochwasser hinein und sah die armen Fischer in den Bäumen sitzen. Sie hatten dort oben die ganze Nacht zugebracht. Mit Feuerwehrbooten konnten die völlig verstörten Fischer schließlich geborgen werden. Sie erzählten von den Minuten, in denen sie auf der Flucht vor den Wassermassen die großen Bäume am Murufer erklommen hatten. Alles Fischzeug mussten sie zurücklassen. Sie wagten in der Nacht nicht zu schlafen, weil sie Angst hatten, in die Fluten zu stürzen. Ein Fischer hatte die ganze Nacht Rosenkranz gebetet und war überzeugt, dass Gott selbst ihre Rettung ermöglicht hatte.

Groß war unsere Freude und Überraschung, als wir nach zwei Tagen ins Haus zurückkehrten: Das Wasser hatte die oberste Stufe nicht überschritten und selbst im Erdgeschoß war der Boden trocken. Selbst beim schlimmsten Hochwasser hatten wir kein Wasser im Haus!

Die Reparaturarbeiten im Garten hingegen dauerten lange. Schließlich musste Vater das Haus mit Hilfe von Arbeitern aus dem Dorf zur Gänze durchsägen, trocken legen und neu isolieren, da sich das Wasser aus den Fundamenten durch die Wände bis auf die Hälfte der Zimmerwände hochgezogen hatte. Wie gut, dass wir nicht auch noch einen Keller hatten!

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