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Gedanklicher Fanatismus
ОглавлениеWir sehen die Welt nicht so, wie sie ist, sondern wie wir sind. (Anais Nin)
Es kam dann die Zeit, dass ich meinen guten Job kündigte und immer wochenweise zu Bärbel fuhr, um mehr Zeit für meine geistige ‚Schulung‘ zu haben. Meine damalige Tätigkeit - ich arbeitete in einer Pharmafirma und war für die Zeitung der Außendienstmitarbeiter zuständig - gefiel mir auch nicht mehr. Der Termindruck ging mir sehr an die Nerven. Vor allem sank meine Motivation radikal, als ich erfuhr, aus welchen Gründen viele Ärzte die chemischen Pillen verschrieben. Ich war zur Ausbildung einige Wochen mit Außendienstmitarbeitern bei Ärzten in Deutschland unterwegs. Was ich da so mit ansehen musste, wie die Ärzte und die Pharmavertreter verhandelten, schockte mich. Niemals hätte ich gedacht, dass die meisten Ärzte ihren Patienten chemische Keulen verschreiben und zu Hause homöopathische Mittelchen nehmen. Ich konnte dies mit meinem eigenen Gewissen nicht mehr vereinbaren. Ich kündigte. Das war er. Der erste Moment in meinem Leben, in dem ich wirklichen Mut besaß und bewusst eine etwas schwierigere Entscheidung traf.
Schließlich zog ich von Darmstadt in Bärbels Nähe, nach Herford. Einen super bezahlten Job zu kündigen, umzuziehen und ins Nichts zu springen, war nicht einfach. Ich war arbeitslos und hatte auf einmal Zeit.
Mehr Zeit, um mich zu finden. Aber ich verlor mich immer mehr. Bärbel wurde immer strenger und kälter, was mir aber nicht auffiel, da ihre Veränderung übergangslos vonstatten ging. Immer mehr verlor ich den Bezug zur Realität. Sie erzählte mir weiter über das Wesen der Geistigen Welt, über Leben auf anderen Planeten. Wir philosophierten. Und philosophierten. Manchmal Tage und Nächte. Und ich wollte immer ‚spiritueller‘ werden. Immer besonderer. Immer mehr Wissen aufnehmen. Und bekam nicht mit, dass ich absolut abdriftete in dunkle Sphären, die mich fast bis zum Wahnsinn trieben. Ich fühlte mich auserwählt, an der Seite einer so ‚weisen‘ Frau zu lernen und teilweise mit ihr essen zu dürfen. Ich war stolz, als ihr Schüler zu gelten. Ich lernte, auf gewisse Symbole im täglichen Leben zu achten. Auf Kleinigkeiten, die geschahen, die Menschen sagten oder taten. So gesehen nichts Verwerfliches, aber bald schon wollte ich in jedem Hundegebell ein göttliches Zeichen sehen. Eine Krähe flog über das Haus. Was soll das nun schon wieder? Die Badezimmertür knackte. Was bedeutet dies? Ein Kind streckte mir die Zunge heraus. Und das? Ich könnte unzählige solcher Dinge schildern und Fragen aufzählen, die mir durch den Kopf gingen. Mein Denkapparat musste immer mehr arbeiten. Ich kam einfach in mir immer weniger zur Ruhe. Und geriet immer mehr in einen gedanklichen Fanatismus.
Es war bestimmt schwer für meine Eltern und für meine Freunde mitzubekommen, wie ich mich verändert hatte. Allen war klar, dass sich in meinem Leben etwas zum Unguten veränderte, nur mir nicht. Das Verhältnis zu meinen Eltern veränderte sich zum Glück nicht, sie waren, wie ich jetzt weiß, die Stütze, die Pfeiler, die mich die ganze Zeit hindurch im Irdischen trugen. Trotz Meinungsverschiedenheiten änderte es doch an unserer Liebe nichts. Nachdem ich schließlich auch umgezogen war, wurde leider auch der Kontakt zu einigen Freunden geringer oder hörte ganz auf. Nur einige wenige Freundschaften aus meinem bisherigen Leben hielten manche Zerreißprobe aus. Aber das Verständnis und die Toleranz waren zum Glück stärker als jeglicher Fanatismus oder Andersartigkeit.
Wie gesagt, ich hatte gekündigt, hatte in Herford eine Bruchbude, vielmehr ein Loch bezogen, und war in diesen Monaten ohne feste Arbeit. Das einzige selbstständige, das ich machte, war mir ein altes Fahrrad zu kaufen – damals hatte ich noch kein Auto – und radelte jeden Tag zu meiner großen Lehrerin.