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WIE KREBS FUNKTIONIERT

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Als Kind wusste ich nicht, wie Krebs funktioniert. In meiner Erinnerung stehe ich im Haus der Nachbarn, in meiner Erinnerung stehe ich in ihrem Schlafzimmer. Es muss ein Sommertag gewesen sein, denn ich erinnere mich an kurze Hosen, an den Geruch von Sonnencreme und an mit Wassereis verklebte Mundwinkel. Der Nachbar war an Zungenkrebs erkrankt und lag schon seit Wochen im Sterben, konnte nicht mehr sprechen und sich nur mit Stift und Papier mitteilen.

Meine Mutter hatte mich mitgenommen, meine Mutter hatte auf den paar Metern zwischen unserem Haus und dem Haus der Nachbarn zu mir gesagt: Der Nachbar hat Krebs. Das war alles. Nur dieser eine Satz. Der Nachbar hat Krebs. Und ich habe mir vorgestellt, wie da ein Flusskrebs in seinem Hals lebt und ihm die Zunge wegzwickt, habe mir vorgestellt, dass der Krebs seine Stimmbänder abgezwickt hat und er deshalb nicht mehr reden kann, und habe mich natürlich gefragt, warum niemand seinen Hals aufschneidet und den Krebs rausholt, habe mich zwischendurch sicher auch gefragt, wovon der Krebs sich ernährt und ob er zum Beispiel Nudelsuppe mag. Überhaupt, glaube ich, war damals mein Gehirn ein Malkasten und ich wusste noch nicht, welche Farben man besser nicht mischen sollte.

Die Frau unseres Nachbarn rauchte viel, auch im Schlafzimmer neben dem Krankenbett rauchte sie ständig, und ihre Stimme war tief und kratzte in meinen Ohren. Vielleicht sitzt auch in ihrem Hals ein Krebs, dachte ich, aber ihr Krebs kommt nicht zum Zwicken, der findet vor lauter Rauch die Stimmbänder nicht.

An diesem Nachmittag oder Vormittag jedenfalls, ich weiß nicht mehr wieso, war ich auf einmal alleine mit dem Nachbarn und seinem Krebs in seinem Schlafzimmer. Er war offensichtlich eingeschlafen, denn der Block war ihm aus der Hand geglitten und der Stift zu Boden gefallen. Meine Mutter und die Nachbarin waren in die Küche gegangen, wahrscheinlich um Kaffee zu kochen. Ich sah, dass die Schublade des Nachtkästchens ein Stück weit offen war, entdeckte ein buntes Magazin, und hoffte, dass meine Nachbarn, so wie mein Cousin, vielleicht Comics sammelten. Also ging ich ganz leise zur Schublade und öffnete sie.

Im nächsten Moment hielt ich das erste Pornoheft meines Lebens in der Hand. Ich hatte nicht viel Zeit, ich hörte die Stimme meiner Mutter und die Stimme der Nachbarin zwei Zimmer weiter, sie kamen mir jetzt näher vor, außerdem konnte der Nachbar jederzeit wachgezwickt werden von seinem Krebs, also schlug ich nur eine einzige Doppelseite auf, und ich glaube, seit diesem Tag ist meine Lieblingsstellung die 69.

Wie Krebs funktioniert, weiß ich immer noch nicht.

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