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SCHNEEHÖHLENFORSCHER

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Wenn ich an Niederösterreich denke, dann denke ich immer auch an das Wort KELLER. So könnte ich beginnen. Im Keller anfangen, dann über den Heizraum schreiben, über das im Nebenraum gestapelte Holz, das früher der Großvater gemeinsam mit dem Vater, dann der Vater alleine und schließlich niemand mehr mit der Kreissäge geschnitten hat, an Samstagvormittagen und Samstagnachmittagen. Unbedingt auch den Weinkeller erwähnen mit seinen Spinnweben und den vom Onkel mitgebrachten Weinflaschen aus Tschechien, aus Budapest und von diversen anderen Gruppenreisen. Vielleicht in diesem Zusammenhang gleich erzählen, ganz genau beschreiben, wie mein Onkel vor den Augen meiner Tante meiner Mutter an die Hüfte und auf den in einer Leggins aufbewahrten Hintern gegriffen und gleichzeitig ihre Kuchenbackkünste gelobt hat. Unbedingt erwähnen, dass der Onkel dabei den Hintern meiner Mutter in der einen und die Kuchengabel in der anderen Hand gehalten hat.

Ich könnte aber auch von den Schneehöhlen erzählen, die ich als Kind gegraben habe, eingehüllt in einen Skioverall und das Gesicht geschützt von einer sogenannten Schalhaube. Ja, meine Erinnerung an selbst gegrabene Tunnel, tief hinein in die nach dem morgendlichen Schneeschaufeln angehäuften Schneeberge neben der Einfahrt wäre ein passender Einstieg. Ich könnte ebenso über die mit meinem Vater gemeinsam gebauten Schneemänner schreiben, denen immer irgendetwas gefehlt hat, ein Auge oder eine Nase oder ganze Gliedmaßen, könnte auf diese Weise vorwegnehmen, dass später auch er fehlen wird. Ich müsste die Episoden nur ohne nostalgisches Pathos erzählen, ganz kühl und wie Pulverschnee müsste die Sprache sein.

Auf keinen Fall will ich mit dem Geruch von Hirschtalgcreme beginnen, mit der Hirschtalgcreme meiner Diabetes-Großmutter, die im selben Haus gewohnt hat. Es wird wichtig sein, relativ bald auf sie zu verweisen, auf ihre Diabeteskrankheit und ihr meine Mutter erdrückendes Übergewicht, aber nicht gleich auf der ersten Seite. Ich will ja keine Klavierspielerin 2.0 schreiben und auch kein noch wunschloseres Unglück.

Um dieses Risiko zu minimieren, könnte ich mit einer Busfahrt in den Kindergarten beginnen, mit einer neben der gleichaltrigen Nachbarstochter verbrachten Kindergartenbusfahrt, und ich könnte das Motiv auf meiner Kindergartentasche beschreiben und das Motiv auf ihrer Kindergartentasche beschreiben, könnte also über meine Garfield-Tasche und ihre Tweety-Tasche schreiben und auf diese Weise geschickt eine sich anbahnende unglückliche, vielleicht sogar bis zu einem gewissen Grad brutale, Liebesgeschichte andeuten.

Was sich natürlich auch anbietet, ist der erste Vollrausch und die Beschreibung der Angst, wenn man nach Mitternacht auf einmal den besten Freund nicht mehr findet, sondern nur sein Fahrrad, und glaubt, er ist vielleicht im Löschteich ersoffen. Dass man also in den Löschteich hineinspringt, um ihn zu retten, was wiederum dazu führt, dass man selbst fast ersäuft, dass man aber zum Glück eine ältere Schwester hat, die besser schwimmen kann. Überhaupt würde es mich reizen, dieses eine Dorffest genauer zu beschreiben. Ich würde gerne über den Geruch der Grillhendln schreiben, über die Wadeln der Kellnerinnen und das Gefühl, wenn dein Kopf nach vorne schnalzt, weil jemand mit voller Wucht beim Autodrom in dich hineingerast ist.

Ich könnte mit dem an Zungenkrebs erkrankten Nachbarn beginnen, damit, dass ich in einer seiner Schubladen das erste Pornoheft meines Lebens gefunden habe und seitdem kein Nutella mehr mag. Oder mit der Erinnerung an Sommerferien und den Tagen am Badeteich. So könnte ich den Geruch von noch nicht ganz aufgeblasenen Luftmatratzen beschreiben, als erstes Anzeichen einer sich später ausformenden Sexsucht. Ich könnte mit lyrischer Prosa poetische Bilder malen: der kleine Fußballplatz im Dorf, aber die Tore haben keine Netze, die Sandkiste hinterm Haus, aber alle Kübel haben Löcher, die überfahrene Nachbarskatze, aber alle glauben, es ist ein Marder.

Dass das erste Lokal, in dem ich mich regelmäßig mit Freunden getroffen habe, ROCK-IN geheißen hat, aber dass dort nur Blues gespielt wurde, das will ich auch unbedingt einbauen, dass dort eine Pizza Margherita mit Schinken und Zwiebeln serviert worden ist, und ein Wieselburger Stammbräu nur 22 Schilling gekostet hat. Das ROCK-IN, in dem ich mein erstes Date gehabt habe, aber sie war Ministrantin, und das machte alles ein wenig kompliziert.

Was soll ich über die erste Liebe schreiben, wenn die erste Liebe ja doch die Frau ist, mit der man das erste Mal Sex hat, weil dann hat man's endlich hinter sich, dann kann man wieder an andere Sachen im Leben denken, zum Beispiel daran, welches Computerspiel man sich als nächstes kauft, oder man kann ein paar zusätzliche Akkorde auf der Gitarre lernen und irgendwann fünf statt nur drei Nirvana-Songs spielen.

Ich habe überlegt, über das Geräusch zu schreiben, das ein 56K-Modem beim Einwählen ins Internet von sich gegeben hat. Oder über den Tag, als meine Mutter mein offenes Tagebuch gelesen und mir gesagt hat, ich soll bitte weniger an meine Cousine und mehr an die nächste Mathematik-Schularbeit denken. Oder über meinen Großvater, der irgendwann den Bieröffner nicht mehr gefunden hat, obwohl der Bieröffner in derselben Schublade gelegen ist wie sonst auch, aber niemand in der Familie hat das Wort »Alzheimer« ausgesprochen. Genauso gut könnte ich sein Begräbnis beschreiben und das Geräusch der regenfeuchten Erde, die wir im 4/4-Takt auf seinen Sarg geschaufelt haben.

Ich könnte mit einer Widmung beginnen, THIS IS NOT FOR YOU könnte ich auf die erste Seite schreiben, oder von einer gemeinsamen Reise erzählen, dass du mir den Unterschied zwischen Topografie und Anatomie erklärt hast, dass du mir erklärt hast, wie ein künstlicher Horizont ausschaut. Ich könnte dir viele Namen geben im Verlauf unserer Geschichte, sie sind so austauschbar, die Namen, fast so austauschbar wie die Orte, an denen wir uns verpasst haben.

Ich könnte mit allem anfangen, aber kein Anfang wäre richtig, kein Anfang würde stimmen. Auch die Reihenfolge ist egal, weil es keine Chronologie gibt. Alles, was wir erleben, ist untertunnelt, und darunter: ein ganzes Höhlensystem. Ich kann nicht über Weihnachten schreiben, ohne über Auffahrunfälle zu schreiben. Ich kann nicht über Ostern schreiben, ohne über den unfreiwilligen Wet-T-Shirt-Contest meiner beiden Tanten zu schreiben. Ich kann nicht über meinen zwölften Geburtstag schreiben, ohne über in Weichselsaft aufgelöste Butterkekse zu schreiben. Alles, was ich kann, ist Schneehöhlen graben. So lange, bis mir der kalte Schnee in die Schalhaube hineinrutscht. Oder sich der Schnee braun färbt von der harten Wintererde.

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