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DIE WAHRHEIT, TEIL 2

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Jedes Mal, wenn ich dich wiedersehe, kommst du mir ein paar Zentimeter größer vor.

Jedes Mal, wenn ich dich wiedersehe, kommen mir deine Kleider ein paar Millimeter kürzer vor.

Jedes Mal, wenn ich dich wiedersehe.

Und ich weiß, du färbst dir jetzt deine Haare, ich weiß, du hast ein paar Kilo abgenommen – und beides macht mich traurig, und nie weiß ich, warum.

Und ich weiß, du erzählst deinen Freunden, wir hätten uns auf einer Beerdigung kennengelernt, dass ich süchtig war nach deiner Haut, aber nicht die Finger lassen konnte von den anderen, mich ständig einwickeln musste in neue Erzählanfänge, dass ich dich am Flughafen stehen gelassen habe, dass ich mit zwei Flugtickets an Bord gegangen bin und dich zurückgelassen habe mit einem fünfundzwanzigseitigen Abschiedsbrief, geschrieben in Schriftgröße 12 und mit 1,5 Zeilenabstand, dass niemand deinen Namen aufgerufen hat am Gate und dass du die S-Bahn zurück nach Wien genommen hast, dein Koffer ganz schwer, aber dein Herz überraschend leicht, so leicht, als wäre es ein Ballontier.

Und ich weiß, du erzählst deinen Freunden, dass du gut ohne mich kannst, dass du nicht mehr jeden Tag auf mein Facebook-Profil gehst oder schaust, was ich auf Twitter schreibe, dass du aufgehört hast, dich mit meinen anderen Ex-Freundinnen auf Kaffee und weiße Spritzer zu treffen, dass du einen Urlaub gebucht hast ans Meer, dass du gerne alleine reist, dass du vielleicht noch manchmal an mich denkst, aber erst nach dem dritten oder vierten Glas, also trinkst du weniger und machst mehr Sport, gehst am liebsten wandern, dann schaust du stundenlang nicht auf dein Handy, dann bist du ganz bei dir.

Und ich verstehe, dass du ihnen nicht erzählst, wie du in meinem Fenster gestanden bist und springen wolltest, wie du mich angeschrien hast, dass du dich jetzt umbringst wegen mir, dass ich dich weggerissen habe vom Fenster und du eingeschlagen hast auf mich, bis auch ich eingeschlagen habe auf dich, als würden wir hageln, ein Korn nach dem anderen, dass wir irgendwann erschöpft aufgehört haben, verschwitzt aufeinandergelegen sind, dass wir dann Sex gehabt haben und du mir unter der Dusche gesagt hast, du willst ein Kind von mir.

Und ich verstehe, dass du ihnen nicht erzählst, dass jeder Schnaps, den du trinkst, auf mich ist, dass du im Sommer das Grab meines Vaters besucht hast, dass du das Haus gesucht hast, in dem ich aufgewachsen bin, und den Fußballplatz, auf dem ich meine ersten Tore geschossen habe, dass du dich zur Sandkiste am Kinderspielplatz gesetzt hast und ein paar Minuten lang die zerbrochenen Plastikschaufeln angeschaut hast und die löchrigen Plastikkübel, und dass du mir fast ein Foto geschickt hättest von der Schaukel, die sich ganz leicht bewegt hat im aufkommenden Wind.

Und ich verstehe, dass du ihnen nicht erzählst, dass du manchmal noch die Tür aufmachst, wenn ich mitten in der Nacht anläute, dass du aufgehört hast zu zählen, wie oft wir schon gesagt haben: DAS IST DAS LETZTE MAL.

Die Wahrheit ist: Wenn es regnet, höre ich die Kilometer zwischen uns, wie sie gegen meine Fensterscheibe trommeln. Dann liege ich in meinem Bett und berechne: die Neigung des Regens.

Die Wahrheit ist: Du teilst deine Kleider im Schrank noch immer in zwei Hälften – die Kleider, die ich dir schon ausgezogen habe, und die Kleider, die ich dir noch ausziehen werde.

Die Wahrheit ist: Seit ich dich kenne, will ich ein Buch über Hungerkünstler schreiben.

Die Wahrheit ist: Ich kann den Taxifahrern von jedem Punkt dieser Stadt den kürzesten Weg zu deiner Wohnung ansagen.

Die Wahrheit ist auch: Du hattest Angst vor meinen ungelesenen Büchern, Angst vor den vielen Namen in meinem Adressbuch, Angst vor jeder Handy-Vibration. Angst vor Synonymen.

Und die Wahrheit ist: Nichts davon stimmt.

Was bleibt: zu klein gewordene Parkbänke, ein zu klein gewordener Bezirk, eine zu klein gewordene Stadt.

Was bleibt: eine lange Liste mit tatsächlichen und eingebildeten Abschieden.

Was bleibt: eine Vergangenheit, die uns blaue Flecken schlägt.

Und ich weiß, du wirst mir nicht glauben, wenn ich dir sage: Schau, ich schreibe noch immer über dich. Und schau, mittlerweile weiß ich, was uns gefehlt hat: eine Anleitung, wie man Dinge repariert. Und schau: LIEBEN HEISST, DAS EIGENE ICH ZERLEGEN.

Jedes Mal, wenn ich dich wiedersehe, kommst du mir ein paar Zentimeter größer vor.

Ich will den Spliss anfassen in deinen Haaren, will wissen, ob er immer noch mir gehört.

Jedes Mal, wenn ich dich wiedersehe.

Wie man Dinge repariert

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