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Einblicke und Ausblicke

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Einen frühen und für meinen Lebensweg bedeutsamen Hinweis bekam ich im Alter von sieben Jahren, als mich mein Vater mitten in der Nacht durch den Eisernen Vorhang von Ungarn nach Österreich brachte: dass Grenzen die Freiheit einengen und Lebenschancen mindern. Dass sie aber, sofern man den Mut hat, sie zu überschreiten – auch gegen Widerstände und organisierte Gewalt –, ein Tor zu mehr Freiheit bedeuten. Man muss nur bereit sein, das Tor aufzustoßen.

Um etwas Neues zu entdecken oder um über sich selbst hinauszuwachsen, musste ich im Leben oft an Grenzen gehen und diese überschreiten – ob beim Lernen, im Beruf oder in der Liebe. Auch wenn nicht alle Überschreitungen zu Neuentdeckungen führten: Eine Herausforderung stellten sie immer dar. Auch wenn meine Neugier nicht immer befriedigt wurde: Ich lernte oft dazu. Und mein Horizont erweiterte sich jedes Mal.

Die wichtigsten Erkenntnisse kamen unerwartet und oft auf schmerzliche Weise. Ich denke an die Erfahrung, dass das Verlangen nach Freiheit dann am intensivsten ist, wenn man eingesperrt ist, so wie ich mit neunzehn Jahren in einem syrischen Gefängnis, in Damaskus. Allein unter Kriminellen. Oder was es heißt, eine selbst auferlegte Pflicht zu erfüllen. Immer noch mit neunzehn Jahren half ich einem blinden indischen Pater, eine Blindenschule in Südindien zu gründen und diese unter schwierigen Bedingungen auszubauen. Oft wusste ich nicht, womit ich am nächsten Tag Lebensmittel für die blinden Kinder kaufen sollte, und lief dennoch nicht davon, zurück nach Europa. Fast vier Jahre lang hielt ich durch, bis die Schule auf einer soliden Basis etabliert war. Pflichterfüllung ist der falsche Ausdruck. Vielmehr scheint es eine Form der wahren Liebe zu sein, die größte Kräfte in einem Menschen mobilisiert, um sich für die Schwächsten einzusetzen. Ohne Lohn und ohne Erwartung eines Dankes von der Gesellschaft.

Ich jedenfalls lernte, dass „Tugend ihren Lohn in sich trägt“, wie die Amerikaner sagen. Nicht eine Belohnung in Form von Geld, Status oder Macht, sondern als innere Zufriedenheit und Glück. Die blinden Kinder brachten mir bei, wie man das Leben auch unter widrigen Bedingungen meistert. Und wie man an den einfachsten Dingen Freude empfinden kann. Ganz unerwartet kam dann doch eine äußere Belohnung: das Angebot eines Stipendiums an einer amerikanischen Eliteuniversität. Es öffnete den Weg zu meinem späteren Beruf. Was noch wichtiger ist:

Ohne den Indienaufenthalt und die Arbeit für die Blinden hätte ich meine „indische Prinzessin“ nie kennengelernt, ein junges Mädchen aus Wien, das mit achtzehn Jahren zum ersten Mal das Land seines Vaters bereiste, eines berühmten indischen Freiheitskämpfers und Nationalhelden. Bis heute erscheint mir unsere Liebe wie ein Märchen. Und sie ist neben der Geburt unserer Kinder wohl das größte Wunder, das ich in meinem Leben erfahren durfte.

Im Verlauf meines Lebens sollte ich noch weitere Erkenntnisse gewinnen. Die vielleicht wichtigste: Das, was allgemein als Erfolg im Beruf und im Leben angesehen wird – Anerkennung, Macht, Geld –, ist nicht unbedeutend, kann für sich genommen jedoch keine Erfüllung bringen. Ich war einer der jüngsten Ökonomieprofessoren der USA, wurde später in den Sachverständigenrat der Sieben Gesundheitsweisen der Bundesrepublik berufen und zu einem der gesundheitspolitischen Sprecher meiner Fraktion im Bundestag gewählt. Gleichzeitig wurde mir immer klarer, dass die wahren Werte in den Beziehungen zu anderen Menschen liegen: in der Liebe, in der Freundschaft und im Verständnis für den Anderen. Diese Erkenntnis kam mir erst im Lauf der Jahre und nachdem ich andere Wege zum Glück mit großer Hingabe verfolgt hatte, im akademischen wie im politischen Feld.

In meiner Jugend war mir der Sinn meines Lebens noch weitgehend verborgen. Ich hatte aber schon gelernt, dass der Mensch durch Herausforderungen wächst, am meisten durch die Hingabe an ein Ziel, das größer ist als er selbst. Auch heute, fast sechs Jahrzehnte später, glaube ich, dass dies ein Schlüssel zu einem erfüllten Leben ist. Durch freies Handeln muss jeder den Sinn seines Lebens selbst definieren: den eigenen Sinn oder einen Sinn, den man selbst auswählt.

Welches Ziel und welchen Weg ich genau verfolgen würde, war damals noch unklar: Am liebsten wäre ich wohl Künstler geworden, angespornt durch meine Freude am Zeichnen und Malen. Oder ein politisch Handelnder, um zur Völkerverständigung beizutragen. Vielleicht war es auch eher die selbstlose Hingabe an eine Aufgabe zur Linderung der Not der Schwächsten, zu der ich mich hingezogen fühlte?

Ich erfuhr eine große Enttäuschung mit einem Menschen, dem sehbehinderten indischen Pater: In meinen Augen war er ein ungewöhnlicher Mensch, denn er widmete seine ganze Kraft der Gründung und dem Aufbau der Blindenschule. Nach meiner Rückkehr in den Westen erfuhr ich, dass ihm kriminelle Handlungen zugeschrieben wurden. Ob und wie weit diese Behauptungen zutrafen, weiß ich bis heute nicht.

Meine Wegstrecke war lang. Sie führte mich über viele Grenzen – zwischen Ländern, zwischen Menschen, zwischen akademischen Fachgebieten und zwischen Wissenschaft und Politik. Oft musste ich alles geben, um Grenzen zu überwinden, die in mir selbst lagen.

Wie groß mag der Anteil von Glück und Unglück, von Planung und Zufall an den Weichenstellungen auf dieser Route gewesen sein?

Wenn Aristoteles recht hatte, dann sehnt sich der Mensch entweder nach Glück oder nach Unglück. Nachdem ich von Letzterem in meiner Kindheit genug erfahren hatte, kann ich mein Leben als die Suche nach Glück – in seinen verschiedenen Formen – deuten. Es war ein innerer Kompass, der mir die Richtung meiner Grenzüberschreitungen anzeigte. Für mich ergaben die einzelnen Etappen eine zusammenhängende, logisch zwingende Abfolge.

Es ist aber eine Illusion zu glauben, dass man die Vergangenheit wie eine Grenze hinter sich lassen kann: In Wirklichkeit tragen wir sie wie einen Rucksack unser ganzes Leben mit uns herum. Diese Erkenntnis sollte sich mir erst viel später im Leben erschließen.

Eine Autobiografie zu beginnen, die die äußere und auch die innere Reise durch mein Leben beschreibt, stellt sich als verwegenes Unterfangen dar. Wie groß ist die Gefahr, in eine zu positive Darstellung der eigenen Person abzurutschen, weil das Gedächtnis viel Unangenehmes verdrängt hat? Nicht umsonst hat George Orwell behauptet, dass man einer Autobiografie nur trauen kann, „wenn sie etwas Schändliches enthüllt“. Ich wäre jedenfalls aus eigenem Antrieb nicht auf die Idee gekommen, eine Autobiografie zu schreiben. Nur die nachhaltige Einflussnahme meiner Familie, insbesondere meiner Kinder, und eines geschätzten Gymnasiallehrers ließen diesen Entschluss reifen. Und die Erkenntnis, dass der eigene Lebensweg als Suche nach Sinn und Glück vielleicht auch etwas Nützliches für andere Menschen darstellen könnte.

Nachdem ich mich nun doch dazu durchgerungen habe, will ich Marcel Reich-Ranickis Mahnungen mit auf die Reise nehmen: „Der Autobiograf soll aufrichtig schreiben, aber nicht exhibitionistisch, feinfühlig und empfindsam, aber nicht sentimental sein. Bescheiden hat er zu sein, aber nicht mit seiner Bescheidenheit zu kokettieren oder gar zu protzen. Diskretion wird erwartet, aber Geheimniskrämerei soll unbedingt vermieden werden.“1 (So zitiert in: Marcel Reich-Ranicki, Mein Leben, Auswahlband für die Schule, Herausgegeben und kommentiert von Volker Hage, 2. Auflage, München 2007, S. 11.) Eine Wanderung auf einem schmalen Grat!

Da ich mit dem Schreiben begonnen habe, entdecke ich eine bisher ungeahnte Befriedigung und neue Erkenntnisse, auch über mich selbst. Ich schreibe diese Geschichte deshalb vor allem für mich selbst – als einen Spiegel meines Lebens, den ich mir in meinem achten Lebensjahrzehnt vorhalte. Ich will nichts anderes als ein ehrlicher Berichterstatter sein – gegenüber mir selbst, aber auch gegenüber den anderen. Dennoch nehme ich die Mahnung Eric Amblers ernst: „Nur ein Idiot glaubt, dass er über sich die Wahrheit schreiben kann!“ Ich will es jedenfalls ernsthaft versuchen. Denn auch ich weiß: Die Wahrnehmung der eigenen Person ist nur zu oft verzerrt – Motivation beeinflusst bekanntlich Perzeption! Deshalb stütze ich mich, wo immer möglich, auf schriftliche Urteile anderer, sowohl für positive als auch für kritische Voten.

Lange habe ich gezögert, ob ich wirklich die Stationen meiner inneren Reise durchs Leben so offen zur Schau stellen kann und darf – in der Sexualität, in der Liebe, in der Religion und in meiner Weltanschauung. Aber ohne Kenntnis dieser inneren Wegmarken ist die von mir gewählte äußere Route nicht verständlich. Es muss also beides angesprochen werden, sagte ich mir, inspiriert auch durch die Lektüre von Reich-Ranickis Autobiografie. Wenn dieser magister elegantiae die Schilderung solcher Ereignisse aus seinem Leben nicht als geschmacklos ansah, sondern sie als für den Fortgang der Geschichte wichtig und notwendig erachtete, muss dies wohl auch für meinen „Reisebericht“ gelten!

Doch auch hierfür gibt es Grenzen: Die Namen einiger Personen, die ich auf der Reise durch mein Leben traf und die mir viel bedeuteten, werden deshalb geändert, andere ganz weggelassen. Damit soll vor allem deren Privatheit – nicht die meine – geschützt werden.

In einem facettenreichen Leben ist es schwer, den Anfang der Geschichte und den richtigen Pfad zu finden. Ich will einfach mit der ersten Grenze beginnen, deren Überquerung schicksalhafte Bedeutung für mein weiteres Leben bekommen sollte. Meine Geschichte beginnt also mit einer Grenze, mit Gefahren, mit Leid und mit „Herzweh“. Viel später erst sollten Hoffnung, Glück und Erfüllung hinzukommen.

Die Eltern, Maria und Anton Pfaff, anlässlich ihrer Goldenen Hochzeit (1986)

Die Brüder Pfaff im Jahr 1962 (von links nach rechts): Mathias (21), Martin (23) und Anton (19)

Anita und Martin sowie Anitas Mutter Emilie beim Anschneiden der Hochzeitstorte (5.7.1965)

Anitas Vater Subhas Chandra Bose (1942)

Anita (Frühjahr 1961)

Anita und Martin (Sommer 1962)

Anita und Martin (Sommer 1962)

Unsere Kinder im Jahr 1976: Peter Arun (8, Mitte), Thomas Krishna (2) und Maya Carina (9 Mon.)

Mit Reverend Father Abraham in der Blindenschule (1958)

Reverend Father Abraham mit blinden Schülern (1959)

In der Braille-Klasse (sitzend: der blinde Lehrer C.D.P. Vittal)

In einer Handwerksklasse (hier: in der Rohrgeflecht-Klasse)

Martin schenkt dem indischen Premierminister Pandit J. Nehru einen von den blinden Kindern geflochtenen Teller (1960)

Martin mit Professor Kenneth E. Boulding und mit Professor Nicholas Georgescu-Roegen (1972)

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