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BSS – Beschleunigter Strafvollzug mit Sozialisierungsprogramm
ОглавлениеIch erinnere mich jetzt nur allzu gut daran, wie man dieses spröde Wortgebilde mit einem eigens dafür gedrehten Werbespot der Bevölkerung hatte schmackhaft machen wollen.
Paul Kellermann, Projektleiter und Initiator des Pilotprojektes »BSS«, stand unter dem Brustbild eines circa 50-jährigen Mannes mit Halbglatze und kurzen, braunen Haaren, die ihm als Haarkranz um seinen etwas eckigen Schädel verblieben waren. Zwei kleine schwarze Augen schauten einen durch das Gestell einer noch schwärzeren Hornbrille an, sodass die Brille mit den Augen schon fast als eigenständiges grafisches Element betrachtet werden konnte. Tiefe Furchen schnitten die Wangen um die Mundwinkel ein.
Als Hintergrund hatten sich die Macher des Spots eine idyllische Waldlichtung ausgesucht. Wohl um dem Ganzen einen positiven Anstrich zu geben. Man hätte Herrn Kellermann ansonsten eher mit einem staubigen Aktenregal im Hintergrund assoziiert. Auch der offene Hemdkragen ohne Krawatte unter dem lässigen Jackett schien wohl eher eine Idee der Imageberater zu sein. Sein fröhlicher Plauderton wirkte gestelzt.
»Hallo, mein Name ist Paul Kellermann, Projektleiter und Initiator des Pilotprojektes BSS«, wiederholte er unnötigerweise, was der Untertitel dem Zuschauer bereits verraten hatte. »Ich lade Sie ein zu einer kleinen Reise in die zum Greifen nahe Zukunft von BSS.« Er lief los, lächelte in die Kamera und lud den Betrachter mit einem Winken ein, ihm zu folgen.
»Wir wollen eine bessere Zukunft für bessere Menschen. Kommen sie mit!«, sagte er, bevor er in einen wartenden weißen und hypermodernen Hubschrauber stieg. Während der Hubschrauber startete, das Fahrwerk einzog und in einer eleganten Schleife über eine grüne Wald- und Seenlandschaft flog, plauderte Kellermann weiter: »Lassen Sie uns zuerst einmal einen Blick auf den aktuellen Strafvollzug richten.«
Der Hubschrauber war jetzt über einem mit Mauern und Stacheldraht gesicherten Areal angekommen. Der Blickwinkel zeigte einen Wachturm mit Gefängnishof, der immer näher rückte, bis man einzelne Personen sehen konnte. In der Mitte des Gefängnishofes sah man fünf Männer in Feinrippunterhemden miteinander kämpfen – wie konnte es auch anders sein, Feinripp schürt Aggressionen!
»Leider stoßen wir heute in unserem Strafvollzug an Kapazitätsgrenzen. Die Gefängnisse sind nach dem heutigen Standard zu eng und überfüllt. Aggressionen brechen aus und Gewalt erzeugt Gegengewalt.« Die Kamera wandte sich endlich ab von den drei Männern, die auf die anderen zwei am Boden liegenden brutal eintraten.
Der Hubschrauber drehte ab und flog nun flach über einen in der Sonne glitzernden Fluss. Im hohen Gras blickten ein paar Rehe auf und sprangen davon.
»In der Zukunft sieht alles ganz anders aus! Bisher sprach man im Strafvollzug von Resozialisierungsprogrammen, um die Wiedereingliederung in die Gesellschaft zu fördern. BSS hingegen setzt einen Schritt früher an. Unser Programm setzt auf Sozialisierung! Was ist der Unterschied, werden Sie sich fragen ... Nun, die Resozialisierungsthese geht davon aus, dass die Straftäter über ihre Eltern, Freunde, Erziehung, Schule et cetera einen erlernten sozialen Hintergrund haben und lediglich vom rechten Pfad abgekommen sind, im Prinzip aber den Unterschied zwischen Gut und Böse kennen. Wir alle wissen natürlich, dass diese Vorstellung schon lange nicht mehr der Wirklichkeit entspricht und viele Jugendliche die Schule nur als Drogenumschlagsplatz kennen.«
Er machte eine kurze rhetorische Pause, um die Worte wirken zu lassen, während satte grüne Landschaften unter dem Betrachter durchzogen. »BSS setzt mit seinem Programm der Sozialisierung sehr viel früher an. In einem harmonischen Umfeld, ohne Hass und ohne jegliche Gewalt lernen die Straftäter das Miteinander und die sozialen Werte unserer Gesellschaft von Grund auf kennen. Sie werden als neue, wertvolle Mitglieder unserer Gesellschaft das Programm verlassen und einen wichtigen Beitrag für unser Land leisten.«
»Lassen Sie uns nun einen der Förderer des BSS–Programms besuchen. Er bietet sozusagen die Grundlage unseres Programms.« Kellermann betonte das Wort Grundlage besonders, drehte seinen mit Kopfhörern bestückten Kopf über die Rückenlehne des Co-Pilotensitzes nach hinten und grinste in die Kamera. Der Zuschauer sollte mit dieser Einstellung das Gefühl bekommen, er sitze im hinteren Teil des Hubschraubers. Während sich der grinsende Kellermann wieder nach vorne wandte, gab er den Blick durch das Cockpit auf ein riesengroßes, orangefarbenes Firmenschild frei, das auf dem Dach eines modernen Gebäudes prangte. Mc Bed sah man in großen Lettern und in einer kleineren Schreibschrift darunter:
»Liegen ist unsere Profession.«
Der Hubschrauber landete direkt auf dem Dach des modernen Gebäudes. Im Rotorenabwind kam ein durchtrainierter Mittdreißiger in einem orangefarbenen Poloshirt und einer Fitnesshose angerannt. Entweder war das Poloshirt zu klein oder die muskulöse Brust zu groß.
»Hallo Paul, schön, dass Du auf einen Besuch vorbeischaust«, sagte er mit leicht schottischem Akzent.
»Hallo John, lange nicht gesehen.«
Während die beiden geduckt aus dem Rotorenabwind zum Treppenabgang liefen, stellte Kellermann seinen sportlichen Begleiter vor: »Das ist John Mc Lay, Inhaber des Mc-Bed–Bettenimperiums. Er kam im zarten Alter von achtzehn Jahren hierher und studierte Sport- und Physiotherapie. Nur sechs Jahre später kaufte er sich bei einem kurz vor der Insolvenz stehenden Hersteller für Pflege- und Krankenbetten ein und machte daraus ein Unternehmen mit mehr als 5000 Mitarbeitern.«
»Oh, vielen Dank für die netten Worte, Paul«, sagte er künstlich verschämt.
»Paul kam vor ein paar Monaten mit der Grundidee des BSS-Projekts auf mich zu. Ich war natürlich sofort Feuer und Flamme! Kommen Sie mit und schauen Sie selbst, was wir daraus gemacht haben!«
Er drückte zwei Stahlflügeltüren auf und gab den Blick auf eine große Halle mit Parkettboden frei. Das Ganze mutete eher wie ein Fitness-Studio an, in das sich irgendwie sieben Betten verirrt hatten, als wie eine Fabrikhalle.
»Willkommen in meinem Bettenlabor.«
Die Kamera fuhr auf die High-Tech-Betten zu, die auf einem komplizierten, aber futuristisch designten Gestell lagerten. Man konnte jetzt erkennen, dass sechs der Betten belegt waren. John schwang sich mit einem katzenhaften Sprung in das freie Bett und kam in Idealposition auf dem Rücken zu liegen, um genauso dynamisch loszuplaudern: »Die Herausforderung bestand nicht nur in einem ansprechenden Design, sondern vor allem in der Ergonomie und Funktionalität. Bei Patienten, die lange liegen, besteht die Gefahr von Sehnenverkürzungen, Muskelschwund und dem Verlust der Flexibilität des Skeletts. Wir haben die Herausforderung angenommen und ein vollautomatisches Physiotherapiebett entwickelt. Aber sehen Sie selbst!«
Bettdecken flogen beiseite und gaben drei bauchfreie, durchtrainierte Mädels und drei halbnackte, knackige Jungs frei. Die Betten begannen, begleitet von klassischer Musik, mitsamt ihren Insassen das reinste Ballet zu vollführen. Das Beinteil des Bettes wurde, von Elektromotoren angetrieben, angezogen und führte in den Kniegelenken angewinkelt nach hinten. Sechs Six-Packs wurden synchron kontraktiert, dann die Oberschenkel … und das Programm lief weiter und weiter …
Inzwischen hatte John seinen Platz Kellermann überlassen, der sich bei jeder neuen Bewegung des Bettes immer wieder die Brille zurechtschob.
»Und?« John stand stolz und strahlend neben ihm. »Wie fühlst Du Dich?«, fragte er.
»Phantastisch, einfach phantastisch!«, keuchte Kellermann.
»Und das Ganze gibt es noch mit optionalem Infotainment-3-D-Holo-Flat-Pad-Learning-Advisory und Easy-Handle-Sanitizer!«, rief ihm John euphorisch zu. Er hätte genauso gut einen Bauchmuskel-Trainer aus Fernost oder eine weitere Fahrt im Kettenkarussell anbieten können.
Von der Decke kamen 3-D Flachbildschirme heruntergeschwebt, die in wechselnder Reihenfolge die Worte Lernen, Verhalten, Sprache und Mathematik als Hologramme aufblinken ließen.
»Das ist ja wirklich großartig John, und glaube mir«, er schickte ihm einen verschwörerischen Blick auf die Fitnessmädels zu, »ich würde gerne noch ein wenig bleiben!«
»Du bist immer willkommen, Paul.«
»Ich komme gerne darauf zurück, bin heute aber noch nicht am Ende meiner kleinen Reise.«
In der nächsten Einstellung sah man, wie Kellermann im Hubschrauber sitzend sein derangiertes Hemd zurechtzupfte, während unter ihm John und seine Fitness-Crew zum Abschied winkten.
Kellermann setzte zum Reden an: »Sie fragen sich jetzt sicherlich, wie man mit einem Bett und einen Infotainment-Monitor Straftäter auf den Pfad der Tugend führen kann?! Dann begleiten Sie mich doch einfach zu meinem nächsten Ziel … Uuups!« Er musste sich am Haltegriff rechts über seinem Kopf festhalten, da der Hubschrauber plötzlich in einer steilen Spirale durch ein paar hübsche Quellwölkchen nach unten abtauchte und elegant auf eine Ansammlung verspiegelter Hi-Tech-Gebäude zuflog.
»Das ist der Sitz von Skyline Technologies, der beste und innovativste Pharma-Entwickler weltweit!«, sagte er, als der Hubschrauber in einer parkähnlichen Anlage inmitten der gläsernen Paläste landete. Die Rotoren liefen die letzten ruhigen Umdrehungen nach, als bereits ein weißer Golf-Caddy angefahren kam.
»Professor Marquez, ich freue mich, Sie zu sehen.«
»Gansz meinerseitsz, es ist mir immer eine grrossze Freude, Szie bei uns szu haben«, erwiderte der Angesprochene mit einem zischelnden spanischen Akzent, gerade so, als hätte er einen Fuszel auf szeiner Szunge. Er hatte ein scharf geschnittenes Gesicht, schwarz-grau melierte Haare und war von oben bis unten in Weiß gekleidet. Seine Statur und seine Art sich zu bewegen hatten mich stark an Christopher Lee in einem seiner Vampirfilme erinnert.
»Wir fahren am beszten hinüber zu meinem Privatlabor«, zischelte er, als er auf dem schmalen, verschlungenen Weg durch den Park fuhr und ihm freundlich lächelnde Weißkittel zuwinkten: »Herr Professor.« Er nickte den Leuten freundlich zu. Schließlich waren sie an einem Pavillon angekommen, der in den See hinein gebaut und nur über einen weißen Holzsteg erreichbar war.
Im Inneren angekommen, schritt der Professor durch das wohnliche aber minimalistische Ambiente, schob eine Wandvertäfelung zur Seite und machte sich an einem Safe zu schaffen. Er holte eine massive Schatulle aus poliertem Plexiglas hervor, in deren Innern sieben grün und sieben rot schimmernde Glaskolben von Spritzen den Blick magisch auf sich zogen. Er stellte sie auf einen brusthohen weißen Marmorblock.
»Ich habe etwasz für Szie!« Ein Sonnenstrahl, der durch das Fenster hereinfiel, brachte die Schatulle zum Glitzern und den grünen und roten Inhalt zum Leuchten.
»Professor Marquez, Sie haben es tatsächlich geschafft!«, sagte Kellermann und seine Augen glänzten hinter seiner Hornbrille. »Bitte erklären Sie mir, wie es funktioniert.«
»Wir werden unszere Patienten mit unserem roten Neuro-Szerum in einen aktiven Winterschlaf versetzen. Oder um es etwas wisszenschaftlicher zu szagen: Ein Grosszteil der Neurosynapsen auf der motorischen Ebene werden vorübergehend unterbrochen. Alle vegetativen Funktionen und der Geiszt des Patienten bleiben aber weiterhin aktiv, um szich voll auf das Lernprogramm von B-Sz-Sz konzentrieren zu können. Während der Szoszialszierungszphasze kümmert sich dann das physziotherapheutische Bett von John Mc Lay um die optimale Fitnessz desz Patienten. Nach vollendetem Szozialiszierungsprogramm, verabreichen wir dann dasz grüne Szerum, wodurch alle vorher getrennten Verbindungen zu den Neuroszynapsen wieder vollständig hergesztellt werden.«
Paul Kellermann nickte. »Uijui-jui, das war ja eine ganze Menge Informationen, Herr Professor. Aber habe ich Sie richtig verstanden?« Er schnipste mit dem Finger. »Sie meinen einfach nur ROT – aus«, wieder schnipste er mit dem Finger, »und GRÜN – an?«
Professor Marquez lächelte nachsichtig. »Ja wie bei einem Lichtschalter – Ausz und An! Oder wie bei einem Ampelmännchen, bei Rot sztehen – bei Grün gehen.«
»Das ist ja phantastisch, Sie und Ihre Leute von Skyline Technologies haben ja wahre Wunder vollbracht!« Dann beugte er sich verschwörerisch zu Professor Marquez hinüber: »Noch eine Frage, warum hat das Serum diese geheimnisvolle rote und grüne Farbe?«
Der Professor imitierte die Verschwörergeste und legte Kellermann vertraulich den Arm um die Schulter: »Offsziell szagen wir immer, esz wäre wegen der Unterscheidung. Aber unter unsz, alter Freund, wir fanden esz einfach nur hübscher!« Beide Männer fingen herzhaft an zu lachen und klopften sich gegenseitig auf die Schulter.
Als sie sich etwas beruhigt hatten, fragte Professor Marquez: »Jetzt haben wir allesz wasz wir brauchen. Wie geht esz jetzt weiter?!«
Kellermann schüttelte den Kopf. »Wir haben fast alles! Was uns jetzt noch fehlt, sind die ersten Teilnehmer für unser BSS-Pilotprojekt.« Dann zeigte er mit dem Finger auf den Betrachter. »Wenn Sie jemanden wissen, der sich für unser Projekt interessiert oder Sie selbst in den nächsten drei Monaten eine Haftstrafe zu verbüßen haben, dann melden Sie sich bei uns unter www.BSS-Eine-bessere-Welt-fuer-bessere-Menschen.com. Es stehen für unser Pilotprojekt nur sieben Plätze zur Verfügung! Wir suchen Teilnehmer aus einem möglichst breit gefächerten kulturellen und religiösen Umfeld. Da wir und das Ministerium für innere Sicherheit, das uns bei dieser Aktion unterstützt, vom Erfolg unseres Sozialisierungsprojektes voll und ganz überzeugt sind, wird unseren Teilnehmern die Hälfte ihrer Haftzeit erlassen.«
Das Schlussbild zeigte die beiden Männer, wie sie die erhobenen Daumen ins Bild hielten. Sie wirkten wie eine Klammer, in der folgende Worte eingerahmt waren:
– BSS –
Beschleunigter Strafvollzug mit Sozialisierungsprogramm