Читать книгу KÖRPER-HAFT - Martin Romey - Страница 33
Obi Wan
ОглавлениеZufrieden mit mir und der Welt schlief ich ein. Irgendwann fand ich mich in einem Traum wieder. Ich flog – irrsinnigerweise in Brustschwimmbewegungen – durch einen wunderschönen, blauen Himmel. Unter mir eine saftig grüne Wiese, die sich bis zum Horizont erstreckte. Das harmonische Bild wurde nur von einem hässlichen braunen Rechteck durchbrochen, das in einiger Entfernung mitten in dem gleichmäßigen Grün lag. Und was das für ein Grün war! Saftige und satte Wiesen. Wäre ich im Traum eine Kuh gewesen, dann hätte ich mich sicherlich am eigenen Speichel verschluckt. So aber blieb mir diese Erfahrung verwehrt, doch mein ästhetisches Empfingen störte sich so sehr an diesem braunen rechteckigen Schandfleck, dass ich mit einigen schnellen Schwimmbewegungen aus dem Himmel hinabtauchte, um zu sehen, was es mit dem hässlichen Fleck auf sich hatte.
Bei näherer Betrachtung handelte es sich um eine Art … Behausung … die unterhalb der Erdoberfläche lag. Genauer gesagt, es war ein rechteckiges Loch mit einem Sarg darin. Landläufig auch Grab genannt. Ungewöhnlich war zum einen, dass das Loch exakt rechtwinklig war, zum anderen gab es keinerlei Erdaushub rund um das Grab herum. Sogar das Gras stand am Rande des Loches ebenso hoch wie auf der restlichen Wiese. Es sah aus, als hätte jemand oder etwas einfach ein rechteckiges Stück aus der saftig grünen Wiese herausgebissen. Unwillkürlich schaute ich mich nach einer überdimensional großen Kuh mit rechteckigem Kiefer um. »Holy Cow«, dachte ich. Aber da war nichts!
Also schaute ich wieder in dieses hässliche, rechteckige braune Loch, das in der schönen Rasenfläche wie eine Narbe aussah. Unten im schweren feuchten Lehm lag der Sarg – »Sarg«, was für ein furchtbares Wort! Aus werblicher Sicht ein absolutes Desaster! So etwas würde man mit einer solchen Bezeichnung doch nie im Leben freiwillig kaufen! Gäbe es nicht die finale Notwendigkeit für diese Art der Schreinerkunst, wäre sie längst sang- und klanglos untergegangen. Oder man hätte einen Werbefuzzi mit der Aufgabe betraut, ein eleganteres Wort oder Wortgeflecht zu kreieren. Vermutlich wäre dabei so etwas wie subterranes Liegemöbel oder die ultimativ-finale Einzimmerwohnung herausgekommen.
Ich schaute also nach unten, in das lehmige Loch, und sah zu meinem Erstaunen mich selbst in dem subterranen Liegemöbel Probe liegen. Die Arme über der Brust gekreuzt, wie man das aus unzähligen Vampirfilmen kennt. Der Deckel lag daneben und an der unteren Seite des Loches lehnte die Schaufel an der senkrechten, lehmigen Wand.
Plötzlich hatte sich meine eigene Position geändert. Statt eines braunen, rechteckigen Lochs sah ich plötzlich einen kleinen, rechteckigen Flecken Himmel, der von braunem Lehm umrahmt war.
Verdammt, das war wieder dieser verdammte Traum, in dem ich mir mein eigenes Grab geschaufelt hatte! Und ich dachte, ich hätte mich von diesem Selbstmitleids-Blues befreit.
Doch dieses Mal stand ich nicht in diesem Loch, sondern lag bereits in einem subterranen Liegemöbel! Mein Unbehagen steigerte sich noch, als oben am Fußende eine schlanke Gestalt mit dunklem Umhang und Kapuze auftauchte, sich hinsetzte und die Beine in mein Grab baumeln ließ. Ein paar Erdkrumen fielen an der Stelle herunter, an der er saß.
Im Gegenlicht konnte ich weder sein Gesicht noch seine Hände erkennen. Ich sah lediglich ein Gänseblümchen, dem er offenbar genüsslich die Blütenblätter ausriss und sie wie kleine Schneeflocken zu mir hinunter trudeln ließ. »Sensenmann, Gevatter Tod und wie er noch heißen mag«, schoss es mir durch den Kopf. Dann schlug er seine Kapuze nach hinten und ich sah ein weiteres Gänseblümchen in seinem strahlend weißen Gebiss aufblitzen. Doch anstatt eines Totenschädels sah ich das gebräunte Gesicht von Obi Wan Kenobi aus Krieg der Sterne. Gleich darauf verwandelte er sich in meinen persönlichen Gott mit grauem Rauschebart und Latzhose. Er trug aber nach wie vor den Obi-Wan-Umhang und auch das Gänseblümchen hatte er noch immer im Mund. Dann grinste er mich breit an und sagte mit tiefer Stimme: »Die Macht ist mit Dir Luke!«
»Aber ich heiße doch gar nicht Luke«, antwortete ich, während ich mich fragte, warum ihn das Gänseblümchen beim Sprechen nicht behinderte.
»Ist doch völlig egal, wie Du heißt – die Macht ist mit Dir!« Sein Grinsen wurde noch breiter, dann löste er sich buchstäblich in Luft auf. Der Umhang fiel in sich zusammen und riss das Holzfällerhemd mit in die Tiefe, die Latzhose blieb oben am Grabesrand liegen, nur die leeren Hosenbeine baumelten noch ein bisschen nach. Das Gänseblümchen, das er gerade noch zwischen den Zähnen gehabt hatte, kam sich langsam um die eigene Achse drehend zu mir heruntergeschwebt und landete auf meiner Brust.
Ich brauchte einem Moment, um das Schlussbild vom fallenden Gänseblümchen vor meinem geistigen Auge nochmals in Zeitlupe zu wiederholen. Ich lachte aus vollem Herzen.
Dann hörte ich wieder seine Stimme mitten in meinem Kopf: »Luke!«
»Ja«, dachte ich.
»Lieg nicht so faul rum und tue was!«
Ich musste abermals schallend lachen, stand aber tatsächlich auf. Ich schaute mich in meinem Grab um und versuchte, wie bereits in meinem ersten Traum, an den Wänden hochzuspringen, um den Rand zu greifen und mich hochzuziehen. Doch die Wände waren zum einen zu glatt und zum anderen viel zu hoch, als dass dies irgendeinen Erfolg haben konnte.
Was unterschied den Menschen vom Tier? Der Mensch benutzte Werkzeuge und kreiert Techniken. Sogar der Affe konnte lernen, Werkzeuge zu benutzen. Wieso also versuchte ich mich an den Wänden eines viel zu breiten Schachts im Kaminklettern?
Ich stellte meine vergeblichen Bemühungen also ein und hielt stattdessen nach Werkzeugen Ausschau. Am Fußende des Sargs stand die lehmverschmierte Schaufel. Und dann war da natürlich noch das subterrane Liegemöbel, bestehend aus dem eigentlichen Behälter und einem Deckel.
Ganz der klassische Bürotäter wollte ich mir die Hände nicht schmutzig machen und ignorierte die dreckige Schaufel. Also versuchte ich es zuerst mit dem Unterteil des Sarges – was für ein grässliches Wort – und drehte ihn mit der Öffnung nach unten. Auf diese Art und Weise schaffte ich es eine Treppenstufe zu bauen, um dem blauen Himmel über mir etwas näher zu sein. Das Lied Stairways to Heaven von Led Zepplin schoss mir durch den Kopf; der perfekte Soundtrack zu meiner Unternehmung.
Mit dieser Stufe hatte ich gute 40 Zentimeter Höhe gewonnen und hopste im Rhythmus meines Soundtracks darauf herum, um den Rand meines Grabes mit den Händen erreichen zu können. Doch zum einen war der rettende Rand immer noch zu hoch – oder ich einfach zu klein! – und zum anderen brach unter meinem Gehopse auch noch der Boden meines subterranen Liegemöbels krachend ein.
Die gesamte gewonnene Höhe war jetzt plötzlich wieder dem Erdboden gleich. Enttäuscht schaute ich mich um und sah den Deckel am Boden liegen. Ich stellte ihn senkrecht auf das eingebrochene Unterteil und versuchte daran hinaufzuklettern. Aber das verdammte Ding war auf Hochglanz poliert und aalglatt. Ich kam immer gerade bis zur Kante des Grabes und jedes Mal, wenn ich umgreifen wollte, um mir einen Grasbüschel zu schnappen, rutsche ich ab. Das quietschende Geräusch, das der Hochglanzlack dabei unter meinen Fingern verursachte, klang wie ein höhnisches »Uioooohhhhh!«
Ich ballte die Fäuste. Vor mir stand nach wie vor die lehmverschmierte Schaufel. Oben, dort wo der blaue Himmel lockte, wartete noch immer geduldig die zusammengesackte Latzhose meines persönlichen Gottes auf mich. Und ich hatte eine Scheißwut im Bauch! Ich hatte mich hier eingegraben, aber konnte ich mich auch wieder ausgraben? Ausgegraben wird man eigentlich nur von Grabräubern und Archäologen, wobei das eigentlich aufs Gleiche herauskommt, nur dass sich Archäologen einen intellektuellen Anstrich geben und einen deutlich größeren Hang zum Exhibitionismus haben, was die Fundstücke betrifft. Aber war meine Situation schon so hoffnungslos, dass ich mich als Ausstellungsstück in einem Museum sehen sollte?
»Luke, die Macht ist mit Dir!«, hörte ich eine Stimme in mir. Oder eher … hinter mir? Ich drehte mich um und sah meinen persönlichen Gott in einer Feinrippunterhose auf einer Apfelsinenkiste sitzen. Er stellte eine eingefallene, nackte Brust zur Schau und zupfte an seinen selbst gestrickten etwas zu großen, beigen Wollsocken herum. Am Bund waren sie schon so ausgeleiert, dass die Ränder lappig herunterhingen. Er hatte schon wieder ein Gänseblümchen zwischen den Zähnen und grinste mich breit an.
»War ´n klasse Trick mit dem Verschwinden was?! Nur musste ich dabei die Hosen runterlassen, hihi. Aber ansonsten war’s einfach göttlich!«
Dann verschwand er wieder und das Gänseblümchen, das gerade noch zwischen seinen grinsenden Zähnen steckte, trudelte langsam durch die Luft, bevor es auf der Apfelsinenkiste liegen blieb. Zum Glück ließ er dieses Mal nicht auch noch seine Feinrippunterhose zurück. Was sollte der ganze Schwachsinn! Wenn man schon einen persönlichen Gott hat, dann könnte er einem doch bitte auch helfen!
»Hey Gott, wo bist Du, wenn ich Dich brauche!«, schrie ich aus meinem Grab heraus. Der Rand eines ausgefransten Strohhutes schob sich über seine Latzhose, die noch immer am Grabesrand hing. Sein braun gebranntes, von Lachfalten durchfurchtes Gesicht grinste zu mir herunter. Die Gänseblümchen zwischen seinen Zähnen schienen regelrecht nachzuwachsen … Er hatte zum Glück immer noch seine Feinrippunterhose und die selbst gestrickten Wollsocken an.
Inzwischen hatte er jedoch ein Banjo um den Hals hängen, dass teilweise von seinem langen, grauen Rauschebart verdeckt wurde. Er zupfte die Saiten des Banjos und fing an einen Country-Song zu spielen. Dazu sang er:
Where do you come from
where do you go?
Where do you come from
Cotton-Eye-Joe?
Hey!-hey!
Während er auf dem rechten Bein hüpfte, drosch er mit der linken Ferse so stark im Rhythmus auf den Boden ein, dass sich ein großer Brocken lehmiger Erde vom Grabesrand löste und einen Teil meiner Schaufel verschüttete. Ganz in seiner Darbietung versunken, bearbeitete er den Boden weiterhin mit der Ferse. Mehr und mehr Erde bröckelte ab und fiel in das Grab, bis nur noch der Schaufelgriff zu sehen war. Dann hüpfte mein persönlicher Gott singend und tanzend aus meinem Sichtfeld und ich hörte ihn nur noch von Weitem singen.
Where do you come from
where do you go?
Where do you come from
Cotton-Eye-Joe?
Was sollte das nun wieder? Fassungslos starrte ich auf den Erdhaufen, der die Schaufel fast verschlungen hatte. Ich musste hinaufsteigen, um sie überhaupt wieder herausziehen zu können. Als mir das unter zahlreichen nicht eben jugendfreien Flüchen gelungen war, verstand ich plötzlich. Gott hatte mir ein Zeichen gegeben! Ich stieß die Schaufel waagerecht vor mir in die feuchte Erde. Stück für Stück brach ich ganze Erdschollen heraus und ein Teil der darüber liegenden Erde brach herunter. Auf diese Art und Weise nagte ich mich in die Wand vor mir, während die herunterfallende Erde langsam eine Rampe unter mir bildete.
Stück für Stück kam ich dem Himmel näher! Schwitzend und ächzend grub ich mich weiter. Es tat gut, die aufgestauten Aggressionen so positiv umzusetzen. Noch ein paar Hiebe mit der Schaufel und ich konnte über den Grabesgrand blicken. Der Schweiß rann mir brennend in die Augen, als ich mich endlich nach oben drücken und über die zusammengesunkene Latzhose schieben konnte.
»Hey mach mir meinen Fummel nicht dreckig«, sagte Gott, der in seiner lappigen Feinrippunterhose auf einem umgestürzten Kreuz saß. Atemlos japsend ließ ich mich neben meinem Grab auf den Rücken fallen und schaute in den strahlend blauen Himmel. Dann schob sich das Gesicht mit dem Rauschebart meines persönlichen Gottes in mein Sichtfeld.
»Mensch Junge, wieso machst Du Dir's nur so schwer? Wieso bist Du nicht geflogen? Vorher ging’s doch auch! Sah übrigens witzig aus, wie Du mit Deinen Brustschwimmbewegungen am Himmel entlang herumgeflogen bist. Hat mir gefallen! Echt kreativ!«
Dann grinste er mich wieder an und flog, einen leuchtend gelb-weißem Schweif aus Gänseblümchen hinter sich her ziehend, gen Himmel bis er verschwand. Myriaden von Gänseblümchen regneten auf mich herunter und begruben mich unter einem Blumenhügel, an dessen Kopfende das umgestürzte Kreuz stand.
Plötzlich fiel mir ein: Pushing up the Daisys, also die Gänseblümchen hochdrücken, hatte im übertragenen Sinne die selbe Bedeutung wie die Radieschen von unten ansehen. Ich schüttelte im Traum die Gänseblümchen ab und grinste in den klaren blauen Himmel.