Читать книгу Tod in der Champagne - Martin Roos - Страница 11
5
ОглавлениеMadame Lacomblets dicke Oberarme schwappten bei jedem Messerstoß auf und nieder. Die scharfe Klinge schlug wie ein Fallbeil millimetergenau in die Zwiebel, dann auf den Knoblauch, die Pfefferschote und schließlich quer durch die Petersilie. Kleinste Stücke spritzten links und rechts zur Seite. Mit einer schnellen, eleganten Bewegung schob sie das zerkleinerte Gemüse mit dem Messer zusammen, nahm es und ließ es durch die Hände in die kleinen Schüsseln vor ihr gleiten. Sie lächelte. Ihre weißen Zähne leuchteten hell in dem dunklen, sympathischen Gesicht. Dann griff sie nach den geschälten Kartoffeln und schnitt sie in Sekundenschnelle in kleine Würfel, dass es nur so klackte. Schließlich nahm sie die Auberginen, wusch sie, trennte den Stielansatz ab und zerteilte sie nach der Paysanne-Methode, nicht in runde, sondern in viereckige, zwei Millimeter dicke Scheiben. Die Paysanne, die bäuerliche Technik, hatte sie schon als kleines Kind bei ihrer Mutter im Senegal gelernt.
Bendix, der vor der offenen Küche seiner Wohnung am Esstisch saß, blickte durch die offenen Fenster nach draußen auf die Rue Porte Lucas. Er wohnte nun schon einige Jahre in diesem geräumigen Vier-Zimmer-Appartement mitten in Épernay. Für ihn war es die schönste Wohnung, die er zwischen der Montagne de Reims, dem Marne-Tal, der Côte des Blancs und der Côte des Bar finden konnte. Von draußen strömte eine warme Brise in diesem wieder einmal heißen Sommer durch die beiden hohen Sprossenfenster herein, leicht angereichert mit dem Duft der Chocolaterie im Erdgeschoss. Er war ein musischer Mensch und genoss die Sanftheit des Augenblicks. Im Hintergrund spielte leise die Musik des französischen DJs Bob Sinclair.
»Monsieur Bendix, was ist los? Sind Sie wieder einmal unglücklich verliebt?«, fragte Madame Lacomblet und musste lachen, denn sie wusste um Bendix’ Schwachpunkt. Seit zwei Jahren war sie seine Haushälterin, seine femme de ménage. Erst sollte sie nur die Wohnung reinigen. Doch schnell hatte sie zu Bendix ein mütterliches Verhältnis entwickelt und vorgeschlagen, ihm nach Bedarf auch ein Mittag- oder Abendessen zu bereiten. Bendix liebte gutes Essen und natürlich Champagner. Das war der einzige Luxus, den er sich leistete. Und Madame Lacomblet. Dass er sie bezahlen und sich überhaupt einen gewissen Lebensstandard leisten konnte, lag nur daran, dass er von einem verstorbenen Onkel Geld geerbt hatte. Madame Lacomblet stammte aus einem kleinen Dorf in der Nähe von Dakar. Als eine der ersten Einheimischen traute sie sich, am Strand von Yoff auf alten, ausrangierten Surfbrettern über die Wellen des Atlantiks reiten. Sie war damals eine der Besten – auch wenn man es ihr heute nicht mehr ansah. Sie hatte einige Pfunde zugelegt und wirkte durchaus korpulent. Vor dreißig Jahren war sie als Teenager aus ihrem Geburtsland, dem Senegal, nach Frankreich gekommen. Nur noch selten ging sie surfen. Heute gehörte Thieboudienne, das Nationalgericht ihrer Heimat, eine Fisch-Reis-Pfanne, zu ihren Spezialitäten.
Bendix schaute gequält und zog es vor, ihr nicht zuzuhören. Ihr Messer sauste nun in das Fischfilet, und in Sekundenschnelle schnitt sie mundgerechte Stücke. Modefine, die schwarze Katze, die ihm seine letzte Freundin als Beweis ihrer unzertrennlichen Liebe geschenkt hatte, streichelte Madame Lacomblet schnurrend um die dicken Waden. Früher oder später würde ein Stück Fisch zu ihr herabfallen.
»Oder haben Sie gestern wieder zu viel mit Monsieur Eitan getrunken?« Sie lachte.
Eitan Eisenberg, sein Etagennachbar, ein Fotograf, war ein eigenwilliger Typ und mehr als gewöhnungsbedürftig. Aber Bendix mochte ihn. Denn Eitan war der Einzige, mit dem man vollkommen grundlos zu jeder Tages- und Nachtzeit Champagner trinken konnte. »Nein«, sagte er, »ich war wieder auf Tour und bin müde.« Er lächelte bemüht.
Madame Lacomblet wusste Bescheid. Bendix’ Zweitjob als Gemüsedesigner verlangte von ihm frühes Aufstehen. Heute Morgen hatte es ein wenig gedauert, bis er die zwei großformatigen Stillleben in Öl in den Supermärkten von Damery und Bouzy richtig platziert und aufgehängt hatte – das eine mit Früchten neben Weinglas und Karaffe, das andere neben Kaninchen und Meerschweinchen. Er wechselte diese Bilder je nach Saison. Am liebsten ergänzte er echtes und gemaltes Gemüse. Über eine Formation von Spargelbünden hängte er eine hügelige Landschaft grüner und blauer Trauben, zu einem aufeinandergestapelten Haufen Kohlrabi kombinierte er gemalten Brokkoli und Blumenkohl, über Melonen und Trauben brachte er ein Stillleben mit Seekrabbe und gefülltem Weinglas an. Er kaufte die Bilder auf Antikbörsen und Flohmärkten. Er liebte die Porträtkollagen von Giuseppe Arcimboldo, Gesichter aus Blumen, Früchten und Gemüse. Manche malte er auch selbst, allerdings eher einfach, großformatige, farbenfrohe Bilder mit riesigen Orangen, Trauben oder Zitronen. Viele dieser Werke hatten sich mittlerweile in seiner Wohnung angesammelt. Sie zierten die Wände und stapelten sich im Keller.
Madame Lacomblet bohrte ein Loch in die Mitte der Filetstücke und füllte es mit einer Zwiebel-Kräuter-Mischung. »Oui, Monsieur«, sagte sie nur, wobei sich das »Oui« wie ein Zischen anhörte. »Ich bin gleich fertig, Monsieur Bendix. Soll ich Ihnen ein Glas Champagner eingießen?«
Er lehnte dankend ab. Für Alkohol war es selbst ihm noch zu früh. Da klingelte es an der Tür.
Bendix war überrascht. Er hatte niemanden erwartet. Er öffnete, und eine große, schlanke Frau trat in die Wohnung. Ihre dunklen, dichten Haare fielen ihr offen links über die Schulter. Zu den hochhackigen schwarzen Schuhen trug sie einen grauen, eleganten Hosenanzug, auf Taille geschnitten. Unter dem Blazer mit langem Revers, Ein-Knopf-Verschluss, paspelierten Pattentaschen und geknöpften Manschetten leuchtete eine weiße Bluse, geöffnet bis zum dritten Knopf. Auf ihrer Haut glänzte vom grazilen Hals bis zum Brustbein herabhängend eine Roségoldkette, an der ein schwarzblauer Stein baumelte, ein Saphir, handgeschliffen und poliert in Form einer Weintraube. Sie drehte sich zu Bendix um und lächelte. Es war Charline Armand, die älteste Tochter von Henri Armand.
»Bonjour, Charline«, begrüßte Bendix sie freudig.
»Haben Sie einen Moment Zeit?«, fragte sie ihn.
Sie sah umwerfend aus.
Einen Moment? Bendix wollte lachen. Eine Ewigkeit hätte er für sie Zeit. »Natürlich!«, antwortete er. Seine Stimme sprang leicht in die Höhe. »Schön, Sie zu sehen. Setzen Sie sich doch.«
Charline nahm auf dem Sofa Platz, stellte ihre Tasche auf den Boden, schlug die Beine übereinander und betrachtete mit einem gewissen Amüsement die vielen Obstbilder in seiner Wohnung. Bei einem Stillleben mit einem golden-silbrig glänzenden Wein blieb sie hängen. »Was ist das? Ein Montrachet Grand Cru?« Sie lachte. Natürlich kannte sie sich mit Weinen aus – und schon gar mit den teuersten.
Bereits beim Trauergespräch hatte Bendix ihre Art, sich zu bewegen und zu erzählen, gefallen. In ihrer Ausstrahlung schien sie ihrem Vater Henri am ähnlichsten zu sein. Sie hatte ihm mit einer gewissen Begeisterung erzählt, dass sie Henri als einzige der drei Geschwister bereits mit zehn Jahren auf seine Geschäftsreisen begleiten durfte. Sie sah Keller und Rebberge und nahm an Empfängen mit internationalen Geschäftsleuten teil. Sie war privilegiert, hatte Bendix sofort gedacht. Doch es gab auch Brüche in ihrem Leben, die ihm sympathisch waren. Nach der Schule wollte sie nicht mehr eine junge Frau in der Welt älterer Männer sein und studierte Literatur und Kunstgeschichte. Sie begann sich für Art déco zu interessieren und für einen der berühmtesten Vertreter dieser Kunstepoche, René Lalique. Bendix war kein großer Fan des Glasartisten, aber er stammte wie er aus der Champagne, aus Ay, und hatte Reims zu einer Hauptstadt des französischen Art déco gemacht. Auch hatte Charline ihm bei ihrer ersten Begegnung erzählt, dass sie nun seit einigen Jahren Geschäftsführerin ihres Familienunternehmens Armand & Cie war und ihr diese Arbeit bisher kaum Zeit für eine private Partnerschaft gelassen hatte. Ihre Offenheit war für ein Trauergespräch nicht ungewöhnlich. Dennoch hatte sich Bendix die Bemerkung über ihren Beziehungsstatus genau gemerkt.
Er setzte sich in einen der Sessel. Sie wirkte auf ihn viel jünger als ihre neununddreißig Jahre. Und ihm wurde nun klar, dass ihr Charme auf ihn so betörend wirkte, dass er aufpassen musste, sich nicht Hals über Kopf in sie zu verlieben. Vielleicht war es auch schon zu spät.
»Es tut mir leid, was Ihnen bei der Trauerfeier passiert ist«, antwortete sie. »Ich möchte mich für meine Schwester entschuldigen. Sie ist einfach sehr temperamentvoll.«
»Kein Problem.« Bendix winkte ab. »Die paar Kratzer.« Er wischte sich lässig ein paar Fussel von den Ärmeln. Sein Auge schimmerte immer noch purpurn.
»Und danke, dass Sie sich für mich eingesetzt haben.«
Bendix versuchte ihr gewinnend zuzulächeln. Wie dämlich musste er ausgesehen haben, als er vor ihr zu Boden gesunken war. Wie ein halb nackter Tarzan in einem Boxring auf der Kirmes, der schon nach zehn Sekunden der ersten Runde auf der Matte lag. Er musste das Gespräch schnell in eine andere Richtung lenken. »Warum ist Ihre Schwester überhaupt so wütend geworden?«
»Sie wissen sicher, dass dieser Reschenhauer den Ruf hat, nicht ganz saubere Geschäfte zu machen«, erwiderte Charline. »Das fing schon in den vierziger Jahren mit den Deutschen an. Da war er noch ein junger Mann. Meine Schwester gehört zu den Leuten, die ihm das immer noch übel nehmen.«
Modefine kam auf sie zu und stieß mit ihrem Kopf gegen ihre Beine, bis Charline sich über sie beugte und sie kraulte.
»Und was ist mit Ihnen? Stört Sie das nicht?«
Sie schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte sie, »wir sind heute eines der größten Champagnerhäuser überhaupt und können sehr zufrieden sein.« Charlines Finger glitten durch Modefines Fell. Die Katze schnurrte. »Wenn Sie wollen, können Sie gerne mal mit meinem Bruder sprechen. Der interessiert sich mehr für die Vergangenheit als ich.«
Bendix konnte sich eigentlich nicht vorstellen, dass sich jemand in ihrer Position nicht für die Vergangenheit interessierte. Ihr Unternehmen war zu traditionsreich und mittlerweile auch zu bedeutend, um dieses Kapitel zu ignorieren. Und gerade als er nachhaken wollte, sagte sie: »Ich bin noch aus einem weiteren Grund zu Ihnen gekommen. Ich habe Ihnen etwas mitgebracht.« Sie griff nach ihrer Tasche, holte ein Kuvert heraus und reichte es ihm.
Da rief Madame Lacomblet aus der Küche: »Wollen Sie etwas mit uns essen, Mademoiselle?« Sie hatte bereits das geschnittene Gemüse zum Köcheln gebracht, den restlichen Zwiebel-Kräuter-Mix mit Tomatenmark und die Fischfilets in Öl angebraten. »Das müssen Sie probieren. Unser Nationalgericht!« Und noch bevor Charline etwas sagen konnte, hatte Madame Lacomblet beiden einen Teller auf den Wohnzimmertisch gestellt. »Es ist heute besonders gut. Monsieur Bendix hat frisches Gemüse vom Markt mitgebracht. Probieren Sie!«
Charline nahm einen Löffel von der Fisch-Reis-Pfanne. »Oh, c’est bon«, rief sie bewundernd.
Madame Lacomblet freute sich und ermahnte Bendix scherzhaft, sich ein Stück von der Begeisterung seines Gastes abzuschneiden.
Doch Bendix hatte gar nicht zugehört. Er saß aufrecht und regungslos in seinem Sessel. Entgeistert schaute er auf die Rechnungsbelege, die er aus dem Kuvert genommen hatte. Es waren Zahlungen von Henri Armand über mehrere tausend Franc an Bendix’ Bruder André. Sie stammten aus den Monaten kurz vor Andrés Tod 1992. In der Betreffzeile standen die Worte: »Recherche Reschenhauer«.
»Wie kommen Sie an diese Belege?«, fragte er fassungslos. Sein Herz klopfte vor Aufregung, und das Klopfen wurde immer heftiger. Es fühlte sich an wie ein Messer, das ihn stakkatoartig mit der Spitze in die linke Brust stach. Es schmerzte, und es überkam ihn eine Traurigkeit, die stumm war, und doch wollte er schreien. Seit diesem Tag, als sein Bruder starb, war ihm etwas abhandengekommen, das er bis dahin für so selbstverständlich gehalten hatte wie Haarwuchs oder Kuhmilch. Sein Bruder war sein Vorbild, sein Idol. Und dieser Verlust schmerzte ihn nun wieder. Bendix schloss die Augen und versuchte, das Gefühl zu unterdrücken.
»Woher kannte Ihr Vater meinen Bruder?«
Charline strich mit der Hand über das Polster des Sofas. Sie wirkte unschlüssig. »Ich bin dabei, den Nachlass unseres Vaters zu sortieren«, sagte sie, »und da fielen mir diese Belege in die Hand. Und ich dachte, ich sollte Ihnen doch Bescheid geben.«
André Kaldevin, Bendix’ älterer Bruder, war Anfang der achtziger Jahre Mitglied der linksradikalen Gruppierung Action directe und wurde nach einem Überfall auf eine Bankfiliale 1982 verhaftet. Da war er zwanzig Jahre alt. Nach vier Jahren Gefängnis kam er wegen guter Führung vorzeitig frei. Er löste sich von seiner radikalen Gesinnung und arbeitete anschließend als freier Journalist für die Tageszeitung »Libération«.
»Davon wusste ich nichts«, sagte Bendix schließlich. Er war erschüttert und erzürnt zugleich. Wie hatte ihm sein Bruder diese Recherche verschweigen können? Sie hatten großes Vertrauen zueinander gehabt. Hatte er Bendix damals für zu jung gehalten? Bendix hatte gerade wegen Andrés rebellischer Art zum ihm hochgeschaut. War dieser Job, den er für Henri Armand übernommen hatte, so geheimnisvoll gewesen, dass er nicht darüber reden konnte? Oder durfte?
Bendix wurde schwummrig. Die Zahlungen stellten den Tod seines Bruders in ein neues Licht. Er hatte nie daran geglaubt, dass sein Bruder Selbstmord begangen hatte. André war zum Zeitpunkt seines Todes achtundzwanzig Jahre alt und in blendender körperlicher und auch seelischer Verfassung gewesen. Zudem war er ein guter Schwimmer und hätte die Marne zwei, drei Mal durchqueren können.
Bendix’ Augenbrauen hatten sich zusammengezogen, sodass auf seiner Stirn eine steile Falte entstanden war, die wie ein Ausrufezeichen seine Verärgerung, aber auch seinen Schock signalisierte. »Was ist das mit diesem Reschenhauer? Was wollte Ihr Vater über ihn wissen?«
Er sah in Charlines erschrecktes Gesicht. Sie hatte offenbar nicht erwartet, dass ihn diese Nachricht so aufwühlen würde. Sie schaute etwas verlegen auf ihren Teller und nahm minutiöse Veränderungen am Arrangement ihres Bestecks vor. »Es tut mir wirklich leid«, sagte sie, »ich wollte Sie nicht verärgern. Ich dachte, diese Belege könnten Ihnen in irgendeiner Form weiterhelfen.«
Bendix starrte wieder auf die Zettel. Kaum sichtbar öffnete und schloss sich sein Mund. Dieser Reschenhauer hatte etwas mit dem Tod seines Bruders zu tun. Das spürte er genau. Und wenn dieser Rechnungsbeleg ihm etwas sagen wollte, dann war es das: Ganz egal, wie groß Andrés Fußstapfen für ihn auch waren, es lag jetzt an ihm, herauszufinden, an was für einer Sache sein Bruder damals dran war – und was oder wer ihn umgebracht hatte.