Читать книгу Tod in der Champagne - Martin Roos - Страница 9
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ОглавлениеElisabeth Stauder stürzte. Mit jedem Meter, den sie hinabfiel, rauschte auch die Zeit ihres Lebens blitzschnell an ihr vorbei – die ersten Jahre ihrer Kindheit in Reims, in denen sie so krank war. Sie dachte an die Mutter, die früh starb, und den Vater, der sie streng aufzog und dem sie dennoch loyal ergeben war. Sie besaß kein außergewöhnliches Talent, das die Faszination, die sie auf viele im Laufe ihres Lebens ausübte, hätte erklären können. Man fragte sich stets, was sie eigentlich so anziehend machte, dass sich die unterschiedlichsten Personen aus den elitären Kreisen um sie scharten. Hatte sie dieses Leben nur ihrem Vater zu verdanken? Lebte sie sein Leben weiter? Sie konnte sich jeder Situation leicht anpassen. Ihre Ausstrahlung wirkte nicht nur auf Männer unwiderstehlich. Sie war auf nichts festgelegt. Alles schien möglich. Vielleicht war sie deswegen die ideale Projektionsfläche für alle diejenigen, die sie begehrten.
Sie stürzte die zehn Stockwerke des Luxushochhauses hinab. Es war früh am Morgen. Helles Blau breitete sich über dem Himmel der Côte d’Azur aus. Sie würde sterben. Sie wusste es. Sie war jetzt fünfundsechzig Jahre alt. Sie hatte immer geahnt, dass sie vor ihrer Zeit sterben würde. Sie lebte auf Kosten anderer. Und sie wusste, dass die Vergangenheit, die sie stets ausgeblendet hatte, auch sie eines Tages einholen würde.
Die Fenster und Etagen mit den eleganten Appartements rasten an ihr vorbei. Gleich würde sie aufschlagen, und ihr Leben wäre beendet. Was für ein langweiliger Gedanke, darüber zu sinnieren, gleich tot zu sein, dachte sie. Hätte ihr in diesem Augenblick nichts Besseres einfallen können? Mit einem peitschenden Knall schlug sie auf, ihre Schulter hatte beim Aufprall aufs Wasser des Swimmingpools wohl noch den Beckenrand erwischt. Doch den Schmerz spürte sie kaum. Es ging alles viel zu schnell. In einigen Appartements des Hochhauses gingen klappernd die Fensterläden hoch. Sonst war es ruhig. Elisabeths zerborstener Körper tauchte vom Grund des Pools wieder auf. Das Blut mischte sich mit dem Wasser und bildete tentakelartige Formen, die sich wie ein Tintenfisch um die Tote zu schlingen schienen. Erst als das Wasser ganz zur Ruhe gekommen war, tauchte tatsächlich ein Tier an der Oberfläche auf und krallte sich um den Hals der Toten. Es war ein Tintenfisch.