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Das Haus von Madame Kahnweiler auf der Rue Dr. Rousseau in Épernay war ein elegantes vierstöckiges Gebäude, modern und mit einer großen Toreinfahrt, durch die die Leichenwagen mühelos in den Innenhof hinein- und wieder herausfahren konnten. Manche Leute in Épernay beschwerten sich bei ihr, dass sich ihr Beerdigungsinstitut ausgerechnet schräg gegenüber der Église Notre-Dame befand. Sie hielten es für geschmacklos. Ihre bisherigen Kunden jedoch fanden es praktisch, und auch diejenigen, die eines Tages ihre Kunden werden wollten, freuten sich schon jetzt über die geringen Kosten, die ihnen durch den kurzen Transport in die Kirche entstehen würden.

Bendix klingelte an der Tür. Sie öffnete sich automatisch. Sogleich trottete Bouchon, der braune Neufundländer, der fast immer im Flur lag, auf ihn zu und leckte ihm die Hände ab. Er war so etwas wie das Herz des Hauses und gehörte Madame Kahnweiler, die seit dem Tod ihres Mannes vor zehn Jahren das Beerdigungsinstitut allein führte. Sie hatte nur kaum Zeit für ihn. Maude, ihre junge Nichte, die ebenfalls im Institut arbeitete, hatte sie nach dem Tod von Monsieur Kahnweiler auf die Idee gebracht, einen Hund anzuschaffen. Für das allgemeine Seelenheil, wie Maude damals sagte. Madame Kahnweilers Stellvertreter Bart hatte keine Ahnung von Hunden. Zudem war er mit seiner eigenen Familie zu beschäftigt, um sich um Bouchon kümmern zu können. Allerdings war auch Maude viel zu chaotisch, um die Verantwortung für ein so großes Tier zu übernehmen. So blieb nur Monsieur Billiot, der alte Junggeselle, übrig, der im Keller in der Technik arbeitete, wo die Toten gewaschen, gepflegt und eingebettet wurden.

»Ah, hast du es doch überlebt«, begrüßte ihn Bart, als er im Erdgeschoss sein Büro betrat. »Wir hatten uns schon Sorgen gemacht und überlegt, ob wir dir hier im Keller im Einbettungsraum ein Plätzchen reservieren sollten.«

»Ein bisschen Leichenkosmetik würde sicher helfen«, antwortete Bendix und schielte ihn mit seinem gelb-purpurnen und immer noch leicht geschwollenen Auge an. Er wusste nicht mehr genau, was nach dem Schlag passiert war. Er konnte sich an den stämmigen Mann erinnern, der neben Reschenhauer gestanden hatte. Nachdem Bendix zu Boden gegangen war, hatte Bart ihn wegen des schlechten Wetters mit zwei Sargträgern in den Leichenwagen getragen, wo er sich erholen sollte. Die Polizei war gekommen und hatte für Ruhe gesorgt. Die Rede war allerdings ausgefallen. Als der alte Armand dann sehr zügig in die Grube gelassen wurde, hatte der Regen endlich aufgehört.

»Du kannst dir ja gleich bei Maude in der Technik ein wenig Farbe und Puder ausleihen«, erklärte Bart.

»Ach was«, sagte Bendix, »gib mir ein Glas Champagner, und meine Wangen werden von selbst rosig.« Schon als Jugendliche hatten die beiden so viel Champagner getrunken, dass sie manchmal in der Schule während des Unterrichts eingeschlafen waren. Champagner ging immer. Er war Lust, Lebensfreude und Lebenssaft. Und der Zustand, den sie mit ihm erreichen konnten, war wesentlich intensiver und schärfer als mit Koks. »Na los, mach schon«, sagte Bendix ungeduldig.

Bart zögerte. Er wusste, dass Madame Kahnweiler sie sprechen wollte, und da würde es keinen guten Eindruck machen, wenn sie angesäuselt waren. »Wir müssen erst zur Chefin.«

Bendix ließ seine Augen gen Himmel wandern. Bart war für ihn immer schon die vernünftigere, vielleicht auch gewissenhaftere Version seiner selbst gewesen. »Was bist du wieder so korrekt«, stöhnte er.

Bart nahm die Bemerkung gelassen hin. Mit seiner schmächtigen Figur, dem Kurzhaarschnitt, dem Seitenscheitel und dem quadratischen Schädel sah er unauffällig aus – und war längst nicht so extrovertiert wie der viel kräftigere Bendix. Doch steckte in dieser vermeintlichen Unsichtbarkeit und Kleinheit ein Mann mit einer festen Vorstellung vom Leben und dem unerschütterlichen Willen, die Aufgaben, die es ihm stellte, zu meistern. Bart hatte geheiratet, eine Familie gegründet und war mittlerweile der wichtigste Mitarbeiter im renommierten Haus Kahnweiler. Bendix hingegen hatte sich nach seinem Studium nicht nur in verschiedenen Jobs, sondern auch in seinem Privatleben verheddert. Eine Frau zu finden, mit der er das Leben teilen konnte, war ihm bisher nicht gelungen.

Bart nahm ihn am Arm, als ob er ihn verhaften wollte, und führte ihn zurück in den Flur. »Wir gehen jetzt erst einmal zu Madame Kahnweiler. Sie hat einen neuen Auftrag für dich.«

»Und warum ist das jetzt auf einmal so dringend?«

»Nicht dringend. Aber es ist ein Fall, der Madame Kahnweiler am Herzen liegt. Sie sagt, sie braucht dich.«

Sie gingen die schlichte Marmortreppe hinauf in das Büro der Chefin. Lily Kahnweiler saß hinter ihrem Schreibtisch und blätterte in der aktuellen »Éternité«, einem Thanatologie-Magazin. Sie war zwar schon eine ältere Dame, doch als sie die beiden sah, sprang sie federleicht auf und tippelte mit schnellen Schritten auf sie zu.

»Bendix, mein Lieber«, sagte sie, schlug die Hände zusammen und schaute ihn durch ihre schwarze Hornnickelbrille mitleidig an. »Wie sehen Sie aus?« Ihre Perlohrringe, die ihr rundes Gesicht umrahmten, vibrierten wie der Kamm, den sie wie ein Krönchen auf den hochgesteckten weißen Haaren trug, und die Brosche, die ihr himmelblaues Gewand um den kleinen runden Körper zusammenhielt. »Es tut mir ja so leid, was passiert ist. Das konnte keiner ahnen. Haben Sie noch Schmerzen?«

Bendix nickte ihr freundlich zu. »Kein Problem, Madame. Das ist doch schon einige Tage her. Ein Handgemenge, eine Balgerei, ein kleiner Schlag. Kein Problem!« Es war ihm peinlich, dass er vor allen Leuten derart zu Boden gegangen war.

Madame Kahnweiler tätschelte ihm die Hand und schaute strahlend zu ihm hinauf. »Das freut mich zu hören«, sagte sie. Sie hörte ihm gerne zu. Sie mochte seine Stimme, sie war weder zu hoch noch zu tief und besaß ein markantes Timbre, das so melodisch war, dass man es immer wieder hören wollte. »Ich hoffe, Sie lassen sich davon nicht abschrecken.« Sie lächelte. »Der Tod braucht nämlich Leute wie Sie, Leute mit Herz.«

Madame Kahnweiler hatte das Geschäft von der Pike auf gelernt. Ihr Großvater, Oskar Kahnweiler, war Ende des 19. Jahrhunderts von Stuttgart in die Champagne übergesiedelt und hatte in Épernay die Firma gegründet. Es war zunächst ein Fuhrunternehmen und transportierte in Kutschen Fahrgäste, Möbel, Kohlen, Bier – und dann auch Tote. Wenn jemand gestorben war, gingen die Angehörigen zum Schreiner und bestellten den Sarg, den der alte Kahnweiler mit seiner Pferdekutsche zum Friedhof brachte. Als er sich später ein eigenes Sarglager und schließlich sogar ein Automobil anschaffen konnte, war es ihm möglich, aus einer Hand zu liefern. Sein Weg zum kompletten Beerdigungsinstitut war nicht mehr weit – und das in einer Region, in der der Massentod während der Kriege gleichsam »florierte«. Auch die Familie Kahnweiler bekam das zu spüren. Zwei Onkel von Lily Kahnweiler starben im Zweiten Weltkrieg, der eine siebzehn, der andere neunzehn Jahre alt. Als junge Frau stieg Madame Kahnweiler in den siebziger Jahren in den Familienbetrieb, den ihr Vater mittlerweile führte, ein. Sie besuchte eine Fachschule für wissenschaftliche Leichenpräparation. Sie lernte einzubalsamieren, das Blut aus dem Körper zu ziehen und durch Balsamierungsflüssigkeit zu ersetzen. Ende der achtziger Jahre übernahm sie schließlich das Geschäft. Eines Tages würde ihre Nichte Maude alles erben. Kinder hatte sie keine.

»Also gut«, sagte Bendix und strich sich das Hemd glatt, »so eine Prügelei während einer Beerdigung war für mich schon neu.«

»Man erlebt in dieser Branche so einiges«, antwortete Madame Kahnweiler und schaute ihn bedeutungsvoll aus großen Augen an. Sie wusste, auf Beerdigungen konnte es gelegentlich recht bissig zugehen, denn für viele gab es kein größeres Vergnügen, als hinter den Särgen ihrer Todfeinde herzulaufen. Manche ihrer Kunden luden deswegen per Traueranzeige bestimmte Personen und Familienmitglieder von vornherein zu ihrer Beerdigung aus. »Aber«, sprach sie und tätschelte ihm wieder die Hand, »solche Spektakel sind eine Ausnahme. Da können Sie beruhigt sein, Bendix. Schlägereien am Grab könnte ich mir auch auf Dauer gar nicht leisten.« Sie hatte einen Ruf zu verteidigen. Natürlich ging es darum, die Toten anständig unter die Erde zu bringen. Ihr Erfolgsgeheimnis lag aber vor allem darin, Würde zu verkaufen.

»Dass die Familien Armand und Reschenhauer nicht die besten Freunde waren, hat sich ja bereits herumgesprochen«, sagte Bendix. »Aber können Sie mir diesen plötzlichen Ausbruch erklären?«

»In emotionalen Situationen kann so etwas passieren«, sagte Madame Kahnweiler. »Trauer ist der stärkste Stress, den Menschen überhaupt erleben können. Da geht schon mal etwas schief.« Sie drehte sich um, ging tippelnd zurück zum Schreibtisch und setzte sich.

Bendix schaute sich fragend zu Bart um, der ihm aber schnell zu verstehen gab, dass er der Sache besser nicht weiter nachgehen sollte.

»Wir haben hier einen neuen Auftrag für Sie, mein Lieber«, erklärte Madame Kahnweiler. Sie flötete regelrecht und kramte in einem Stapel Papier, der auf ihrem Schreibtisch lag. »Haben Sie Interesse, Bendix?« Sie schielte über die kleine Hornbrille zu ihm hinüber. »Wir brauchen für diesen Fall Ihre Intelligenz.«

Tod in der Champagne

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