Читать книгу Tod in der Champagne - Martin Roos - Страница 12
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ОглавлениеEine Rede auf einen Menschen zu halten, den man nicht kannte, ist eine Kunst. Und dann auch noch auf einen Toten. Bendix schaute gedankenvoll zur Decke des Lesesaals mit der Glasmalerei aus dem Art déco hinauf. Er saß hier immer, wenn er recherchieren und schreiben musste. Er liebte diese alte Bibliothek in Reims, die der Stahlmagnat Andrew Carnegie der Stadt geschenkt hatte. Am liebsten nahm er in der Mitte des Saals Platz, auf den bequemen Holzstühlen an den langen Lesetischen mit den schlichten Tischlampen mit ihren milchigen Glasschirmen. Einige Bücher, Zeitungsartikel, zwei Stifte, einige Notizzettel und ein Laptop lagen verstreut auf der grünen Schreibmatte vor ihm. Ab und an kamen Besucher auf dem knarrenden Parkettboden angeschlendert und setzten sich an einen der langen Arbeitstische am Ende des Saals ganz nah an die drei großen Rundbogenfenster, durch die das Tageslicht hell hereinflutete. Oder sie gingen hinter ihm an den Bücherwänden aus Mahagoni durch eine der zwei Türen in den kleineren Lesesaal – oder hinauf zur Galerie, deren meterlange, zehn Regale hohe Bücherwand bis auf den letzten Platz mit Nachschlagewerken gefüllt war.
Bendix hatte seinen Laptop eingestöpselt und betrachtete grübelnd den blinkenden Cursor auf dem leeren Bildschirm. Tausend Gedanken kreisten in seinem Kopf. Er war unzufrieden mit dem, was er bisher über Elisabeth Stauder erfahren hatte. Die Hausangestellte in ihrer Villa in Reims hatte ihm ein Porträt von ihr gezeigt und ein paar belanglose Geschichten über ihren Alltag erzählt. Elisabeth Stauder schien eine sympathische Person gewesen zu sein, die viele Bekannte, aber wohl nur wenige Freunde hatte. Sie war vermögend und verbrachte viele Monate im Jahr in ihrem Luxusappartement in einem Hochhaus an der Côte d’Azur, wo man sie nun tot aufgefunden hatte. In ihrem Weinkeller in Reims sammelte sie historische Champagner.
Die Haushälterin hatte ihn durch die langen Gänge im Keller der Villa geführt. Selbst Flaschen aus den vierziger Jahren hatte Bendix gefunden, versehen mit Aufdrucken wie »Wehrmachts-Marketenderware Verkauf im Freien Handel verboten« oder »Réservé à la Wehrmacht«, die den Deutschen im Zweiten Weltkrieg geliefert wurden. Es war wohl eine Sammlung, die bereits ihr Vater angelegt hatte. Ihre wirkliche Leidenschaft war, Champagner zu trinken.
Bendix hatte die Hausangestellte auch auf die Tätowierung angesprochen. Doch sie wusste davon nichts. Auch ob das Tattoo möglicherweise das Mitgliedszeichen eines Vereins, einer Gruppe oder eines geheimen Zirkels war, konnte sie ihm nicht sagen. Bendix hatte daraufhin über Soldaten im Zweiten Weltkrieg recherchiert und war schließlich auf militärische Einheiten des deutschen Heeres gestoßen, die sich tatsächlich auf der Innenseite des linken Oberarmes ihre Blutgruppe in die Haut eingestochen hatten. Es handelte sich um die Waffen-SS, schwarze Armee und brutale Mördertruppe, die darauf gedrillt war, für Nazi-Deutschland zu siegen. Für die Wehrmacht kämpften sie an vorderster Front und schossen alles nieder, was sich ihnen in den Weg stellte. Und sie bildeten die Totenkopfeinheiten, die mit Stahlruten und kläffenden Schäferhunden Millionen von Gefangenen in die Konzentrations- und Vernichtungslager geschickt hatten. Bendix schockierte, dass sich viele der SS sogar freiwillig angeschlossen hatten – und zwar nicht nur Deutsche, sondern Männer aus ganz Europa. Und je länger der Krieg dauerte, desto mehr wuchs diese Truppe skrupelloser Mörder zu einem Heer von vielen Hunderttausenden heran. Dass auch Franzosen der Waffen-SS angehörten, war nicht ungewöhnlich. Die deutsch-französische Waffenbrüderschaft hatte nicht nur aus der faschistischen Parti populaire français Zulauf, sondern aus allen mit den Deutschen kollaborierenden französischen Parteien. Und zu seinem Erstaunen las Bendix, dass es genau auch solche Franzosen waren, die zu den Ewigtreuen gehörten, die am Ende des Krieges 1945 mit den Deutschen zusammen das Machtzentrum der Nazis in Berlin verteidigten.
Bendix dachte über Victor Stauders vernarbtes Tattoo nach. Er hatte gelesen, dass sich viele Mitglieder der Waffen-SS nach dem Krieg genau an der Stelle der Tätowierung in den Arm geschossen hatten, um die Stelle auszumerzen und es gleichzeitig wie eine Kriegsverletzung aussehen zu lassen. Hatte sich Victor Stauder absichtlich in den Arm geschossen? War er Mitglied der Waffen-SS gewesen? Und warum trug seine Tochter diese Tätowierung?
Bendix hatte sich aus dem Archiv der Bibliothek einige Ausgaben der Lokalzeitung geben lassen. Porträts der Winzerfamilien und Interviews gehörten seit jeher zum Standard der Berichterstattung. Dem Schlagwortregister konnte er entnehmen, dass die Stauders vor allem in den siebziger Jahren ein Thema waren. Es gab Fotos mit Victor Stauder bei offiziellen Anlässen, bei Empfängen und Jahresfeiern oder auf seinem Weingut, im Keller oder bei der Verkostung, dazu einige Interviews mit ihm über die Lagerung von Wein in Holz- und Stahlfässern, über neue Anbaumethoden, über gute und schlechte Jahrgänge. Er hatte damals anscheinend ein florierendes Champagnerhaus, die Familie besaß Weinstöcke in einigen sehr guten Lagen, die hervorragenden Champagner möglich machten. Das Weingut existierte erst seit 1940. Es war das Jahr, in dem die Nationalsozialisten in Frankreich das ihnen ergebene Vichy-Regime unter Marschall Pétain installierten, der alles dafür tat, den Nazis das Leben möglichst leicht zu machen.
Bendix blätterte weiter, bis ihm eine Notiz aus dem Frühjahr 1973 auffiel. Dort hieß es, dass sich die Familie Stauder nun auch in Kalifornien im Schaumwein engagieren würde. Bendix wusste genau, wie solche Geschäfte funktionierten. Sein Vater war Winzer, hatte aber nie die finanziellen Möglichkeiten gehabt, um eine eigene Marke zu lancieren, geschweige denn, um im Ausland zu expandieren, und verkaufte deswegen die meisten Trauben an andere Produzenten der Champagne. Um zu wachsen, brauchte man Eigenkapital, viel Eigenkapital. Und das hatten meistens nur die großen Champagnerhäuser wie Moët, Mumm oder Veuve Clicquot. Doch die Stauders? Sie hatten keinen großen Namen. Weder in der Branche noch beim Konsumenten. Woher besaßen sie das Kapital? Und mit wem hatten sie in Kalifornien kooperiert?
Er grübelte und schaute beiläufig noch einmal auf die Fotos. Es fiel ihm auf, dass es nur ganz wenige gab, auf denen die ganze Familie abgebildet war. Für einen Winzerbetrieb unüblich, dachte Bendix, denn die Familie war nicht nur der Rückhalt, sondern auch der Stolz eines Weinguts. Auf einem der älteren Fotos sah er den alten Stauder mit seiner Tochter Elisabeth. Sie war etwa achtzehn Jahre alt. Es war eine Benefizveranstaltung. Es ging um Kinder, die an Poliomyelitis erkrankt waren. Kinderlähmung, schoss es Bendix durch den Kopf. Noch bis Ende der fünfziger Jahre erkrankten in Europa viele Kinder an den hoch ansteckenden Viren. Bei vielen führte die Krankheit nur zu Grippesymptomen, bei anderen jedoch zu lebenslangen Lähmungen und auch zum Tod. Anfang der fünfziger Jahre war die Impfung gegen alle drei Poliostämme noch nicht verpflichtend. Vor allem kleine Kinder erkrankten an der Seuche. Bendix schaute nun genauer auf das Foto und sah, dass Elisabeth eine Art Gestell an Fuß und Bein trug, eine Orthese. Er las den Artikel. Nur drei Jahre nach ihrer Geburt war Elisabeth an Kinderlähmung erkrankt. Von einem auf den anderen Moment konnte sie Teile ihres Körpers nicht mehr bewegen. Vor allem ihr rechtes Bein lahmte. Nur mühsam erlernte sie wieder das Laufen. In der Pubertät wuchsen schließlich ihr rechter Fuß und ihr rechtes Bein nicht mehr richtig. Sie waren zu wenig durchblutet, die Polioviren hatten die Nerven abgetötet, das Nervensystem war irreversibel beeinträchtigt.
Monsieur Billiot!, durchfuhr es Bendix, und er musste darüber schmunzeln, dass der schweigsame Jacques die Verkürzung des Beins sofort erkannt hatte. Mit einer solchen Gehbehinderung waren große sportliche Aktivitäten natürlich überhaupt nicht möglich, dachte Bendix, weder Laufsportarten noch Springen oder gar Klettern. Und auch über eine Brüstung zu steigen war sicher mehr als schwierig. Wie sollte sie mit einem lahmen Bein über die doch recht hohe Brüstung eines Balkons im zehnten Stock eines Hochhauses geklettert sein? Und dann auch noch betrunken? Vielleicht mit einem Stuhl? Einer Leiter?
Irgendetwas stimmte nicht, dachte Bendix. Er blickte hinauf an die Decke des Lesesaals und sah die schöne Art-déco-Glasmalerei. Sie zeigte ein aufgeschlagenes Buch vor dem Wappen von Reims. Er brauchte mehr Klarheit. Er würde das Kommissariat in Reims anrufen. Er stützte sich mit den Ellenbogen auf den Tisch, massierte mit den Fingerspitzen seine Schläfen und versuchte, sich zu konzentrieren.
Da vibrierte sein Handy. Er sah die Nummer von Leo Reschenhauer auf dem Display. Im Lesesaal zu telefonieren war verboten. Doch dieser Anruf war ihm zu wichtig. Er hatte Leo Reschenhauer heute Morgen angerufen, doch ihn nicht erreicht. Unter dem Vorwand, mehr über Elisabeth Stauder erfahren zu wollen, beabsichtigte er, den Mann kennenzulernen. Er stand auf, ging eilig in den Nebenraum des Lesesaals, hielt beide Hände um sein Smartphone und nahm ab.
»Kommen Sie zum Jardin Henri Deneux«, hörte er Reschenhauer sagen. Die grußlose Art des Alten nahm Bendix erstaunt wahr.
»Wann?«, fragte er im gleichen nüchternen Ton.
»Sofort.«
Bendix packte seine Sachen zusammen, verließ den Lesesaal der Carnegie-Bibliothek, eilte durch die Eingangshalle unter dem kolossalen Art-déco-Kronleuchter hinaus zum monumentalen Portal, lief die Stufen hinunter, knallte fast gegen die Büste Andrew Carnegies, die auf einem Steinsockel vor dem Eingangsbereich thronte, fing sich wieder und rannte weiter. Die Mittagssonne schien.
Der Jardin Henri Deneux, die kleine Parkanlage, die direkt hinter der Kathedrale von Reims lag, war nur wenige Minuten entfernt. Er lief das Stück über den Cours Anatole France, gleich neben dem Palais du Tau, dem alten Palast, in dem die Könige von Frankreich die letzte Nacht verbrachten, bevor sie in der Kathedrale gekrönt wurden, und erreichte gleich am Square Henri Deneux den Park.
Die Grünanlage war ein streng geschnittenes Ensemble mit Blumenrabatten, kleinen ornamentalen Rasenflächen und gestutzten Hecken, symmetrisch angelegt, in dessen Mitte ein großes, etwas verwittertes Bassin mit seinem Beckenrand zum Verweilen einlud. Es war ein ruhiger und übersichtlicher Ort, und so fiel es Bendix nicht schwer, den alten Mann auf einer der steinernen Bänke weiter hinten zu entdecken. Er trug ein leuchtend blaues Jackett und war in Begleitung des Mannes gekommen, der ihm bereits auf Henri Armands Beerdigung zur Seite gestanden und ihn gegen Laras Ausbrüche verteidigt hatte.
Bendix schaute ihn skeptisch an. Dann reichte er Reschenhauer die Hand.
»Bonjour, Monsieur«, sagte er zu dem Alten.
Reschenhauers Hand war kalt und trocken.
»Das ist Monsieur Morel«, erwiderte Reschenhauer, ohne eine Miene zu verziehen, und zeigte auf seine Begleitung.
Je länger Bendix Morel ansah, desto überzeugter war er, dass genau dieser Mann es war, der ihm eine verpasst hatte. Doch da sich wohl weder Reschenhauer noch Morel an die erste Begegnung vor einigen Tagen erinnern wollten, tat auch Bendix so, als ob nichts geschehen wäre. Er reichte Morel schweigend die Hand. Der Mann nickte kurz. Er hatte einen starken Händedruck. Bendix überlegte, in welchem Verhältnis die beiden standen. Die klobigen Hände quetschten aus Morels Manschetten genauso heraus wie sein Hals aus dem Kragen. Überhaupt wirkte er in seinem dunklen Anzug wie zu eng verpackt. Ein Schlägertyp mit Schleife, dachte Bendix. Wahrscheinlich eine Art Leibwächter.
Reschenhauer gab Morel ein Zeichen, sie allein zu lassen. Der nickte nur und ging.
Bendix setzte sich auf die Bank.
Reschenhauer musterte ihn genau, während er mit den Händen an dem Knauf seines Gehstocks, den er zwischen den Beinen platziert hatte, drehte. Dann sagte er: »Sie werden also morgen wieder die Trauerrede halten?«
»Sie meinen, für Elisabeth Stauder?«
Der Alte nickte.
Bendix hatte mittlerweile so viele Fragen an Reschenhauer, dass er nicht wusste, womit er anfangen sollte. Sollte er ihn direkt auf seinen Bruder André ansprechen? Oder ihn über sein Verhältnis zu Henri Armand befragen? Er hätte auch gerne erfahren, warum Lara ihn als Verräter beschimpft hatte. In welcher Beziehung stand er zur Familie Stauder, und was wusste er über die Tochter Elisabeth?
»Und Sie?«, fragte er schließlich, »wird man Sie morgen wieder beschimpfen?«
Reschenhauer hörte abrupt auf, am Knauf seines Gehstocks zu drehen. Er blickte ihn düster an.
Erst jetzt fiel Bendix auf, wie alt dieser Mann aussah und wie verhärmt. Er musste weit über neunzig Jahre alt sein. Eine wahre Greisenerscheinung. Vielleicht lag es an den kalten blaugrauen Augen oder an der spitzen, aufdringlichen Nase, vor der man, je näher man ihr kam, desto stärker zurückschreckte.
»Junger Mann, von Dingen, von denen Sie keine Ahnung haben, sollten Sie lieber schweigen«, fuhr Reschenhauer ihn jäh an. Der Ton des Alten war ebenso scharf wie herablassend.
Bendix überhörte den Verweis geflissentlich und versuchte es mit gespielter Höflichkeit. »Danke erst mal, dass Sie gekommen sind. Ich habe einige Fragen an Sie. Ich bräuchte Informationen über Elisabeth Stauder. Was könnten Sie mir über sie erzählen?«
Reschenhauers strenger Blick wich einer sorgenvollen Miene. Er schien tatsächlich betrübt über ihren Tod zu sein. »Ihr Vater und ich waren gut befreundet. Sie war ein gutes Mädchen, sehr loyal.« Reschenhauer hatte keine Kinder, und deswegen war für ihn Elisabeth wie eine eigene Tochter. Sie war die Einzige, die ihn Onkel Leo nannte. Aus den Geschäften, die er mit ihrem Vater machte, hatte sie sich meistens herausgehalten. Sie hatte kein Interesse. Dennoch suchte sie nach dem Tod ihrer Eltern oft seinen Rat.
Bendix war überrascht, wie offen der Alte mit ihm sprach. Es passte nicht zu seiner autoritären Erscheinung. Doch diesen Anflug von Weichheit wollte Bendix nutzen. »Können Sie mir sagen, warum sich Elisabeth ihre Blutgruppe in den linken Oberarm hat tätowieren lassen?«
Reschenhauer schloss die Augen, holte tief Luft und sagte mit gepresster Stimme: »Ich verstehe nicht, was Sie meinen.«
»Wir haben bei ihr an der gleichen Stelle ein Buchstaben-Tattoo gefunden wie bei ihrem Vater.«
Reschenhauer fixierte Bendix scharf wie der Offizier seinen Rekruten. Dann biss er sich auf die Oberlippe, als ob er sich die Worte verbieten wollte. Doch seine Augen funkelten. Schließlich sagte er: »Davon weiß ich nichts.«
Es war für Bendix offensichtlich, dass er log. Sein Herz schlug schneller als sonst. Die Neugier wuchs, und er warf jegliche Diskretion über Bord. Er versuchte, sich möglichst unbeeindruckt zu zeigen, und setzte noch einmal an: »Wenn Sie so gut mit Victor Stauder befreundet waren, dann wissen Sie doch sicherlich auch, ob er Mitglied der Waffen-SS war?«
Wenn es das Haupt der Medusa als Sinnbild für den tödlichen Blick nicht gegeben hätte, wäre Bendix nun zu der Überzeugung gelangt, dass Reschenhauer der Bruder der mythischen Gorgonen war, dem nichts lieber gewesen wäre, als ihn für immer in schweigenden Stein zu verwandeln.
»Sie wissen nichts«, zischte Reschenhauer ihn an.
Bendix war bewusst, dass niemand in Frankreich gern über die Kollaboration sprach. Denunziation und Opportunismus waren während der deutschen Besatzung genauso à la mode gewesen wie der Mangel an Zivilcourage. Die »Judengesetzgebung« hatte die Vichy-Regierung ohne großes Zögern und viel zupackender umgesetzt, als von den Deutschen verlangt worden war. Für viele waren die Grenzen zwischen Gut und Böse, zwischen Treue und Verrat allerdings fließend – aus der Not heraus. Die Weinproduzenten der Champagne mussten mit den Deutschen zusammenarbeiten. Sie hatten keine andere Wahl. Manche Winzer gingen allerdings über das Notwendige hinaus, schlugen aus der Besatzung Kapital und wurden reicher als zuvor.
»Es ging immer um den Champagner«, raunzte Reschenhauer ihn wieder an, »alle mussten sich arrangieren. Niemand konnte damals unschuldig bleiben.« Für einen Moment starrte er Bendix regungslos an. »Selbst die Résistance nicht.«
Gerade wollte Bendix ihm erklären, dass es einen großen Unterschied ausmachte, auf welcher Seite man im Krieg seine Unschuld verlor, da schrie Reschenhauer ihn an: »Viele Champagnerhäuser waren von den Deutschen doch so begeistert, dass sie die SS-Offiziere in ihre Repräsentanzen einluden! Das weißt du wohl nicht, hé?«
Dass dieser Mann mehr als nur unfaire oder gar schmutzige Geschäfte auf dem Kerbholz hatte, konnte sich Bendix nur allzu lebhaft vorstellen. Ihn jedoch weiter zu provozieren hatte wohl wenig Sinn, zumal Reschenhauer Anstalten machte, zu gehen.
Bendix musste ihn aufhalten. »Dass Elisabeth gehbehindert war, wussten Sie aber, oder?«, fragte er ihn schnell.
Reschenhauer drückte sich mit dem Stock in die Höhe, bis er sein Gleichgewicht fand. Er hatte sich wohl mittlerweile etwas beruhigt. Nach einer Weile sagte er schließlich: »Natürlich, ihr ganzes Leben lang.« Dann gab er Morel ein Zeichen. »Ich muss gehen.«
Bendix sprang auf. »Glauben Sie, dass sich Madame Stauder das Leben genommen hat?«
Reschenhauer schaute ihn kopfschüttelnd an. »Wie kommen Sie darauf? Sie hat sich nicht umgebracht. Mit dem lahmen Bein konnte sie noch nicht mal auf einen Stuhl steigen. Wie sollte sie da über einen Balkon geklettert sein? Sie ist runtergeworfen worden. Jemand hat sie getötet«, sagte er und schlug mit dem Gehstock auf den Boden. »Die Polizei wird es schon noch herausfinden.«
»Warum sind Sie so sicher, dass es Mord war?«
»Warum?«, wiederholte Reschenhauer. Wie in Zeitlupe verwandelte sich sein bisher strenges Gesicht in ein höhnisches Grinsen. »Weil das die Rache des Tintenfischs ist.«
»Was für eine Rache? Was für ein Tintenfisch?« Bendix war nun vollends irritiert.
»Finden Sie es selbst heraus«, sagte Reschenhauer. Dann griff er nach dem Arm von Morel: »Aber ich warne Sie – seien Sie schnell. Denn wir alle werden das hier nicht überleben.« Dann ging er davon. Er schien sein Schicksal schon seit Langem zu erwarten.