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Ein Held wird geboren

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Wer und wie wird Ihr Held oder Ihre Heldin sein? Zu Beginn Ihrer Geschichte, Ihrer Idee für ein Buch, haben Sie vermutlich nicht die geringste Ahnung. Es ist schon immer wieder ein innerliches Kribbeln, wenn wir uns vor Augen führen, dass mit dem Erschaffen einer Figur eine lebensechte, menschliche Person zur Welt kommt - und das rein aus der Schöpfungskraft unserer Fantasie.

Dieser Prozess ist immer wieder ein wahrhaft beeindruckender Vorgang. Die wirklich interessanten Figuren sind, wie ich vorher schon beschrieben habe, ›Sondertypen‹.

Wie kann so ein Schöpfungsprozess nun praktisch ablaufen? Sagen wir, wir erschaffen einen Mörder für einen Thriller. Sie sollten von einem Helden stets wissen, warum er ist, wie er ist. Zu diesem Zweck ist es dienlich, eine Biografie über die Figur zu verfassen. Nicht zu lange, aber die wesentlichen, einschneidenden und prägenden Meilensteine im Leben der Figur erfassend. Dadurch versteht der Leser, warum eine Figur handelt, wie sie handelt. Verarbeiten Sie in der Biografie des Helden demnach seine äußere, die körperliche Erscheinung (Kleidung, Narben, Sprachmuster, Gebrechen und so weiter), den soziologischen Rahmen (Herkunft, Erziehung, Beruf, Eltern, Familie, Religion und so fort) und die seelischen, also psychologischen Umstände (die emotionale Verfassung).

So könnte Ihr Held zum Beispiel klein und dicklich sein (Körperlichkeit), aufwachsend in einer von Liebe behüteten Familie (Soziologie), aufgrund seiner Statur wird er in der Schule jedoch gemobbt (Soziologie). Infolgedessen entwickelt er sich zu einem Egoisten, distanziert und in sich verschlossen (Psychologie).

Körperlichkeit, Gesellschaft und Seele sind die drei Dimensionen einer Figur (dreidimensionale Figuren).

Der Schurke für unseren Thriller ist natürlich eine extrem böse Person. Bösewichte handeln immer aus Ichsucht, er wird daher selbstsüchtig und eigennützig sein. Weiters wird unser Bösewicht ›ganz normal‹ aussehen, damit ihn der Held optisch nicht gleich als Böser entlarven kann. Wir verbergen also die Hinterhältigkeit des Schurken bewusst - es könnte jeder sein, der Kreis der Verdächtigen ist groß. Zudem wirken normal erscheinende Bösewichte wesentlich stärker auf Leser, sie machen bedeutend mehr Angst. Idealerweise ist der Bösewicht der nette Onkel von nebenan.

Unser Schurke wir natürlich clever und listenreich sein. Nur so hat es der Held schwer, ihn zu überführen.

Unser Schuft ist irgendwann in seinem bisherigen Leben tief verletzt worden. Jemand könnte seine Familie ermordet haben, er könnte zu unrecht verurteilt worden sein und vieles mehr. Aus diesem psychischen Schaden erwächst seine Motivation Böses zu tun wie Rache zu nehmen. Und unser Bösewicht wird Angst haben, erwischt zu werden.

Diese Überlegungen sind unser Ausgangspunkt, um einen lebendigen, dreidimensionalen Antagonisten zu erschaffen.

Wir beginnen am besten mit der Biografie unseres Schurken. Also mit seinem Leben von der Geburt bis zu jenem Zeitpunkt, an dem unsere Geschichte beginnt (Empfehlung: ichSCHREIBE, Martin Selle, eBook, Schreibpraxis in 100 Schreibregeln abgefasst; darin finden Sie Arbeitsblätter und schrittweise Checklisten unter anderem zum Figurenerschaffen).

Wir müssen für uns selbst, um unsere Figur gut kennen lernen zu können, erfahren, was in ihrer Vergangenheit geschehen ist (Vorgeschichte). Nur so können wir ein echtes menschliches Wesen erschaffen, eine Person, die aus eigenem Antrieb heraus handelt, eigennützig motiviert, um ein bestimmtes Ziel ganz sicher zu erreichen. Dieser Schurke wird clever und listig sein, eine dominante Leidenschaft besitzen, die ihn zum Handeln treibt und in seinem Leben seelisch tief verletzt worden sein - aber wir werden seine Boshaftigkeit geschickt vor dem Leser verbergen.

Namen sind nicht Schall und Rauch. Beginnen wir deshalb damit, unserem Schuft einen Namen zu geben. Sagen wir, er heißt Murdoch. Gut so. Der Name klingt düster, genau richtig für einen zu allem entschlossenen Bösewicht. Machen wir weiter mit seinem Vornamen: Simon. Passt, finde ich. Der Name ist soeben rein aus meiner Fantasie entsprungen. Keine Ahnung warum? Ich habe einen derartigen Namen noch niemals zuvor gehört. Aber so ist das beim Schreiben - fließende, unergründliche kreative Prozesse. Einigen wir uns also auf Simon Murdoch.

Wir wissen noch nicht, wo Simon lebt. Noch ist Simon ein bloßer Name auf dem Papier. Und das ist das Wunderbare am Schreiben, es beginnt ein spannender, fantastischer Prozess, von dem wir nicht wissen, wo er enden wird. Sind wir gespannt, wie sich Simon entwickelt. Wie auch immer, wir können jederzeit eingreifen und ändern.

Sehen wir uns nun Simons körperliche Erscheinung an. Lassen wir uns etwas dazu einfallen. Sagen wir so: Simon Murdoch ist ein sportlicher, kraftvoller Mann. Er ist sehnig zäh, einsachtundsiebzig groß und achtzig Kilo schwer. Er liebt den Boxsport, trainierte und fightete seit dem College. Seit einem unfairen Kampf, bei dem ihm sein Gegner einen Kopfstoß verpasste, ist seine Sehkraft auf dem linken Auge eingeschränkt. Seine blonden Haare sind stets kurz geschnitten, zu einer Stoppelfrisur. Seine braunen Augen liegen in tiefen Höhlen, er lächelt immer freundlich wie der nette Kellner im Restaurant. Er glaubt fest daran, früher schon einmal gelebt zu haben - als furchtloser Soldat im amerikanischen Bürgerkrieg.

Entscheiden wir, zu Beginn der Geschichte ist Simon achtunddreißig Jahre alt.

Seit diesem unsäglichen Boxkampf trägt er eine Brille, hat Probleme, Distanzen abzuschätzen. Sein Gang wirkt deshalb immer etwas unbeholfen, vorsichtig. Im Gesicht ist er entstellt, hat eine Narbe, die an der linken Nasenwurzel entlang Richtung Oberlippe läuft - sie rührt ebenfalls vom Kampf her, bei dem er in weiterer Folge schlimme Hiebe einstecken musste. Der Kampf fand während der Collegemeisterschaften statt.

So weit, so gut. Damit können wir uns Simon körperlich schon mal näher vorstellen.

Sehen wir uns nun an, wie er in die Gesellschaft eingebettet ist, seine Herkunft.

Wo ist Simon aufgewachsen? Entscheiden wir, er ist in einem Vorort von Philadelphia geboren und hat dort Kindheit und Jugend verbracht. Seine Mutter arbeitete in einem Friseursalon, sein Vater war LKW-Fahrer. Er hatte keine Geschwister. Seine Eltern stritten ständig miteinander, hatten die Köpfe nicht zusammen. Seine Mutter nahm Drogen, und sein Vater hatte eine ganze Menge Liebschaften, die er auf seinen Transportfahrten kennen lernte und in den Kneipen, in denen er mit seinen Baseballkumpeln rumhing. Er war immer ein Don Juan und er brauchte es für sein Selbstvertrauen, reihenweise Frauen zu verführen. Eines Tages geriet er an die Tänzerin einer Bar und brannte mit ihr durch. Simon war damals zwölf. Das verletzte ihn zutiefst. Er hatte einen Vater, der ein Versager war und der sich in keiner Weise um ihn scherte. Eine Situation, in der sich seine Mitschüler die Mäuler über ihn zerrissen - gnadenlos.

Simon hasste seinen Vater, weil er viele Frauen hatte und sich nicht um die Familie kümmerte. Und er hasste seine Mutter, weil sie nicht um ihre Familie kämpfte, schwach war und allem Elend zusah, sich stattdessen vollkiffte. Damals schwor Simon sich, niemals so erbärmlich zu sein, wenn er erwachsen ist.

Von Natur aus war Simon ein gutmütiger, sensibler Kerl, trotzdem schlummerte ein jähzorniges Temperament in ihm, das immer dann, wenn er ungerecht verletzt wurde, auf schrecklich brutale Weise mit ihm durchging. Bei einem Boxkampf, in dem ihm sein Gegner mit dem Ellbogen einen verbotenen Stoß gegen die kurze Rippe versetzte, geriet er daraufhin so in Rage, dass er den Gegner fast totschlug.

Zu dieser Zeit war Simons Welt noch in Ordnung. Sein Vater versuchte, für ihn da zu sein. Er förderte das Boxinteresse seines Sohnes, ermöglichte ihm eine Ausbildung in einem zweitklassigen Fightclub, brachte ihn zum Training und zu den Kämpfen, sah sich diese an und brachte ihn wieder nach Hause. In Simon steckte ein willensstarker Kämpfer, er trainierte übermäßig hart und erschuf sich so schnell einen Namen in der Kämpferszene. Seine Kameraden im Boxclub nannten ihn ›Ironfist‹ - die eiserne Faust. Später, als ihm sein Auge die Karriere vermasselte, empfand er es als eine Fügung des Schicksals.

Zur Zeit seiner Boxerfolge standen natürlich die Mädchen auf Simon. Er bildete sich nicht allzu viel ein darauf, genoss es aber, im Mittelpunkt zu stehen. Damals fühlte er sich dadurch nicht nutzlos. Zu einer ernsthaften Beziehung kam es nie. Wie auch, das immer mehr zerrüttete Verhältnis zwischen seinen Eltern färbte in Sachen Partnerschaft nicht positiv auf ihn ab.

So, nun wissen wir einiges über Simons gesellschaftlichen Status. Kommen wir nun zu seiner seelischen Dimension. Dass er Vater und Mutter hasst, wissen wir bereits.

Simon zog sich in eine innere Scheinwelt zurück, baute sich Luftschlösser.

Er war in der Schule Mittelmaß, interessierte sich vorwiegend für Naturwissenschaften. In dieser Zeit reifte sein Ziel, eines Tages ein weltberühmter Archäologe zu sein. Dieser Wunsch wird sein innerer, treibender Feuereifer. Oft lag er wach im Bett und malte sich im Geiste aus, wie er in Ägypten und Mexiko Funde von historischer Bedeutung machte, Funde, die unsere gewohnten Bilder über alte Kulturen in ein völlig neues Licht rücken. Dann würde er allen, die ihn jemals auf irgendeine Art und Weise unterschätzt und belächelt hatten, zeigen, dass er es nach ganz oben geschafft hatte.

Im Beruf des Archäologen sah er auch die Chance, all den Umständen zu entfliehen, die ihm Angst machten. Während der gesamten Collegezeit plagte ihn der Gedanke, den Abschluss nicht zu schaffen, zu scheitern. Was würde dann aus ihm werden? In der Boxmannschaft war er hoch angesehen, doch er wollte sich nicht ein Leben lang den Verstand aus dem Kopf prügeln lassen. Und in den höheren Kampfklassen nahmen die Kerle keine Rücksicht auf die Gegner im Ring, da hieß es überleben oder untergehen.

Die Alternative wäre gewesen, sich den Strebertypen anzuschließen. Aber im Kreise dieser intellektuellen Spießer fühlte er sich am wenigsten wohl. Er wusste nicht genau, warum, aber er war ›keiner von ihnen‹, das spürte er instinktiv.

Und dann passierte der Kampf, der ihm beinahe das Augenlicht kostete. Er war zwar der Ansicht, er könne weiterhin in den Ring steigen, aber sein Trainer riet ihm nachdrücklich davon ab. Einen rechten Haken würde er in Zukunft viel zu spät kommen sehen, das könnte ihn am linken Auge eines Tages völlig blind machen. Diesen Umstand nutzte er, um seine Zeit und Kräfte auf die Archäologie richten zu können.

Simon hatte sich schon immer geschickt angestellt mit Betrügereien. Schon als Jugendlicher gelang es ihm, Teens, die in den Boxsport wollten, Grundkurse anzudrehen, für die sie bezahlen mussten. Einige vermittelte er an Fightclubs, wofür er Provision nahm.

An einem Samstagabend saß er vor dem Fernseher und sah das Portrait eines Selfmade-Millionärs, der nach seinem Highschool-Abschluss nach New York gegangen und es dort geschafft hatte. Von da an arbeitete Simon hart auf seinen Abschluss hin. Was er danach tun würde, wusste er jetzt.

Nach und nach empfinden wir Simon als eine dreidimensionale, lebensechte Figur. Er ist vielleicht nicht Ihr Liebling, aber er ist unter uns, ein Mensch, keine flache Karikatur ohne Vergangenheit und Leben.

Lebensechte Figuren zu erschaffen ist viel Arbeit. Aber es ist enorm wichtig, dass Sie wissen, wie Figuren ticken, was sie denken, fühlen, tun. Das Leben von der Geburt bis zum Beginn der Geschichte formt den Charakter der Figur, Ihre Geschichte enthüllt ihn, zeigt ihn dem Leser. Eine Figur tut, was sie tut, weil sie so ist, wie sie ist.

Was könnte mit Simon nun in New York geschehen?

Sagen wir, er hat sich in einer drittklassigen kleinen Wohnung in Hells Kitschen eingemietet und ein paar schlecht bezahlte Jobs angenommen. Er hat für ein Restaurant den Müll rausgetragen, hat Straßen gefegt und in einem Diner Teller gespült. In seiner spärlichen Freizeit besuchte er von den ersparten Dollars Ausstellungen und kaufte sich Bücher über Archäologie. Er studierte Epochen, alte Königreiche und las viel über berühmte Ausgrabungen.

An einem Märzfreitag besuchte er eine ägyptische Ausstellung im New York State Museum, lernte dort Chester Burns kennen, der rund um den Globus schon einige Ausgrabungen geleitet hatte. Simon erfuhr, dass Burns dringend Leute brauchte, eine Expedition in die Anden sollte auf die Beine gestellt werden. Simon, noch immer beseelt vom Entdeckerdrang, geblendet vom Ruhm großer Namen wie Howard Carter, musste ganz einfach im Team dabei sein.

Wenige Wochen später kämpfte sich Simon mit der Machete durch den chilenischen Wald. Es galt, einen Fund vorweisen zu können, der die Sponsoren bewegen würde, ein ganzes Expeditionsteam auszustatten und vor Ort zu schicken.

Große Entdeckungen blieben aus. Lediglich ein paar alte Steine mit Symbolen wurden gefunden. Zudem war Burns nicht gerade das, was man einen gerechten Expeditionspartner nannte. Die Kommunikation mit der Presse und den Sponsoren führte ausschließlich Burns durch. Es schien, als hätte er Angst, Simon könnte sich in den Vordergrund spielen.

Trotzdem verließ Simon Chile nicht. Fast einen ganzen Monat wühlten sie sich auf der Suche nach einer legendären Inkastadt durch die Wildnis. Stets in der Hoffnung, den großen Fund zu landen. Dann würde Burns ein Grabungsteam leiten und Simon die Hälfte des Ruhms und des Gewinns erhalten. Dann würde er für immer ausgesorgt haben und in den Geschichtsbüchern stehen.

An einem Sonntag, kurz vor Mittag, entdeckten sie unter dichten Lianen und Baumwurzeln mehrere sorgfältig aufgeschlichtete Steinblöcke. Anzeichen einer Stadtmauer? Simon begann zu fürchten, Burns würde alles daran setzen, um den Ruhm für sich alleine einzuheimsen. Wenn er Burns über das Satellitentelefon sprechen sah, um den Fortschritt der Grabungen an die Sponsoren weiterzugeben, dann glaubte Simon, er würde neue Konditionen aushandeln. Chester Burns würde ihn aufs Kreuz legen, wenn nötig sogar umbringen.

In diesen Tagen reifte in Simon selbst der Gedanke an Mord. Ihn trieb die Angst.

Simon wusste, Burns besaß eine Pistole. Als er über all die Möglichkeiten nachdachte, wie leicht Burns ihn hier im Dickicht verschwinden lassen konnte - es gab eine Menge wilder Tiere und tiefe Schluchten - war er sicher, er würde dieses Land nicht wieder lebend verlassen.

Simons Angst nährte sich aus Ruhmsucht, Profitgier und Ungewissheit.

Eines Nachts lag Simon wach in seinem Feldbett im Zelt und beschloss, Burns zuvorzukommen. Chester Burns schlief in seinem Zelt, als Simon sich an ihn heranschlich. Er zog den Revolver aus Burns' Holster und erschoss ihn, ohne mit der Wimper zu zucken.

Simon warf die Leiche in eine Felsspalte, nahm die Steinfunde mit den Symbolen an sich und fuhr Richtung Stadt. Den Jeep versenkte er in einem Fluss. Anschließend versteckte er sich drei Wochen in einem abgelegenen Andendorf, wartete, bis ihm ein Vollbart gewachsen war und seine Haare länger waren. Nach diesen Tagen machte er sich auf den Weg nach Quito, wo er die Funde und eine von ihm angefertigte Skizze über die Lage der entdeckten Inkastadt, für eine Menge Geld auf dem Schwarzmarkt verkaufte.

Zurück in New York, beschloss Simon, das Geld in ein Geschäft zu stecken. Er kaufte einer Frau namens Sarah Delaney deren Irish Pub, das ›Golden Dublin‹ ab. Sarah steckte in Geldschwierigkeiten und war Simon dankbar dafür, dass er ihr aus der Patsche geholfen hatte. Er stellte Sarah als Geschäftsführerin ein. Bald verliebten sich die beiden ineinander. Die Jahre zogen ins Land. Die beiden heirateten und bekamen einen Sohn, Justin und eine Tochter, Betty.

Das ›Golden Dublin‹ lief nach einigen Veränderungen prächtig und bald eröffneten Simon und Sarah drei weitere Filialen. In Reiseführern gelten die Pubs mittlerweile als ein Muss für Touristen.

Simon ist jetzt neununddreißig Jahre alt, der Zeitpunkt, an dem unsere Geschichte beginnt. Simon hat sich geändert im Laufe der Zeit. Er ist nicht mehr der wild drauf losschlagende Kämpfer im Boxring. Auch sein Traum vom berühmten Archäologen hat sich als Märchenschloss entpuppt. Simon ist bemüht, ein fürsorglicher Familienvater zu sein. Er führt seine Familie mit strenger, disziplinierter Hand. In den Pubs ist er in der letzten Zeit zweimal an einen Kunden geraten, der den Service kritisierte. Simon hat ihn kurzerhand aus dem Lokal geworfen. Sarah bekommt allmählich Angst vor ihm. Diese brutale Seite an ihm kannte sie bisher nicht, aber sie spürt, dass in ihrem Mann eine bisher eher verborgen gebliebene, eine gewalttätige Seite schlummert.

Somit wissen wir also, was sich in Simons Leben im Groben getan hat bis heute, zu jenem Tag, an dem unsere Story einsetzt, sich der Vorhang für das Theaterpublikum hebt und es sieht, teilnimmt, wie es weitergeht.

Chester Burns wurde nie gefunden in der tiefen Schlucht. Simons Mord bleibt für immer ein Geheimnis. All diese Ereignisse spielten sich zwischen Simons Geburt und dem Beginn unserer Geschichte ab - der Vorgeschichte von Simon. Zugegeben, ich habe Simon Biografie drastisch gekürzt. Ich wollte Ihnen nur demonstrieren, wie Figuren Gestalt annehmen. Je detaillierter Sie die Vorgeschichte ausarbeiten, umso besser, desto genauer werden Sie Ihre Figuren kennen lernen.

Jetzt gilt es, sich in Simon hineinzuversetzen, ihn reden zu lassen, damit er noch lebendiger wird und um zu erfahren, was und wie Simon denkt. Eine bewährte Technik dazu ist es, Simon zu interviewen, führen Sie als Autor ein Gespräch mit ihm. Das könnte so aussehen:

»Nun gut, du bist eben mein geistiger Vater, mein Erfinder, hab ich recht?«, fragt Simon.

»Ja.«

»Meinetwegen. Ich bin bereit, dich an meiner Gedankenwelt teilhaben zu lassen. Aber nur unter einer Voraussetzung -«

»Und die wäre?«

»Jedes Wort bleibt unter uns - jedes! Nur dann sage ich die Wahrheit.«

»Abgemacht.«

»Und erwarte keine Entschuldigung von mir, für das, was ich getan und nicht getan habe.«

»Kein Problem.«

»Meine Erinnerung setzt ein, als ich fünf oder so war. Fishtown Philly. Kein nobles Viertel. Mein Alter war so gut wie nie Zuhause, immer mit dem scheiß LKW auf der Rolle und mit fremden Weibern rumgemacht. Meine Alte kiffte, anstatt ihm die Leviten zu lesen. Ich weiß, so geht es hinter vielen verschlossenen Wohnungstüren zu. Aber wer spricht schon gerne darüber? Ich hoffte immer, die kriegen das auf die Reihe, aber dazu haben sie sich wohl zu wenig geliebt. Oder sie waren einfach zu schwach dazu. Egal auch. Ich glaube, Fishtown hat ihnen den Nerv gezogen. Da stehen die Chancen nicht gerade gut, auf der Karriereleiter nach oben zu klettern.«

»Verstehe.«

»Na ja, Dad hat mir wenigstens beim Boxen geholfen. Der Mistkerl hat es wenigstens versucht, so etwas wie ein Vater zu sein, ehe ihm diese dämliche Tänzerin den Kopf verdreht hat, aber davon habe ich nichts. Er war trotzdem ein Scheißkerl. Er war lieber hinter diesen Straßenweibern her, anstatt sich um uns zu kümmern. Ich habe ihn keine Sekunde vermisst, als ich nach New York gegangen bin. Job ist eben Job, hat er immer gesagt - was für ein Megascheiß! Meiner Alten hab ich immer vorhergesagt, sie würde nicht alt werden, bei dem Kraut, das sie dauernd kifft. So war es dann auch. Sie war keine vierzig, als sie ins Gras biss.«

»Deine Boxverletzung hat dich aus der Bahn geworfen, stimmt'?«

»Stimmt nicht. Ich hatte nie vor, mit als Profi ein Leben lang die Visage polieren zu lassen. Aber ein paar gute Kämpfe hätten wenigstens das Geld gebracht, um studieren zu können - Archäologie oder so. Okay, die Mädels liefen mir nach, als ich im Ring erfolgreich war. Nicht gerade was Schlechtes. Aber auch nicht mehr. Ich glaube, die meisten wollten nur mit ins Rampenlicht. Frauen interessieren doch sowieso nur zwei Dinge, Kinder und Kohle. Zuerst mimen sie deine Partnerin, ziehen mit dir durch das Leben, dann verwandeln sie sich in mütterliche Glucken, hocken genervt und unverwirklicht daheim und verlangen vor dir dasselbe. Für wie dämlich halten die uns eigentlich? Die können mich alle mal! Da bleib ich lieber allein und mach mir ein schönes Leben, frei und ohne Weiberlaunen.

»Was ist mit Burns?«

»Aha, du willst was über meinen Plan in die Archäologie einzusteigen hören. Na schön. Ich nehm mir kein Blatt vor den Mund. Ich habe diesem Mistkerl anfangs wirklich getraut, gehofft, dass wir groß rauskommen in Chile. Ich wäre mit dem mir versprochenen Anteil wirklich zufrieden gewesen. Aber was macht der Schweinehund? Er spricht hinter meinem Rücken mit den Auftraggebern und Sponsoren. Ich meine, wenn er belangloses Zeug mit denen gequatscht hätte, dann hätte er mich das doch wissen lassen können. Okay, ich hab ihn erschossen. Aber nicht, weil ich vielleicht den Ruhm für mich alleine haben wollte, wie das mancher annehmen könnte. Nein! Ich hab einfach mein Leben geschützt. Ich bin ihm zuvor gekommen. Der Hurensohn hätte mich garantiert über die Klinge springen lassen, nachdem wir die Stadtmauer entdeckt hatten. Er soll in der Hölle schmoren, der Scheißkerl!

»Wieso hast du Sarah geheiratet und eine Familie gegründet? Passt nicht gerade zu dem, was du vorhin gesagt hast.«

»Schon gut, schon gut. Jedem Menschen steht es frei, sich ändern, klar. Ich habe mich geändert. War nicht leicht. Aber Sarah und ich verstehen uns. Ich sah nicht, dass wir ineinander verknallt sind wie zwei Teenager - ich halte wirklich nichts von dem Liebe-für's-Leben-Mist. Aber wir ergänzen uns eben. Anders ist das bei Justin und Betty. Die beiden sind alles für mich. Wehe, denen krümmt einer auch nur ein Haar, dann folgt er Burns in die ewigen Jagdgründe! Die beiden lieben mich wirklich - und zwar aufrichtig. Ihnen ein ehrlicher Vater zu sein, das gibt mir was. Ich werde sicher nicht so ein Arsch wie mein Alter sein.«

»Kindheit prägt.«

»So ist es. Dank der Pubs kann ich meine Kinder auf Privatschulen schicken. Sie werden studieren und es zu was bringen, dafür sorg ich. Blicke ich heute so zurück, kann ich ganz zufrieden damit sein, wie sich mein Leben entwickelt hat. Ich bin zwar nie als Archäologe berühmt geworden oder in die Geschichtsbücher eingegangen, aber wir sind nicht arm. Ich habe das Geld, das mir Burns' Steine gebracht haben, bedacht investiert und was draus gemacht. Ich bin zufrieden mit dem, was ist. Nur diese dämlichen Touristen, die glauben, sie müssten jede Kleinigkeit beanstanden, die lassen mir den Hut hochgehen. Wenn mein Temperament mit mir durchgeht, dann hat eben mal einer Pech und kriegt was ordentlich auf die Kappe. Meine Kunden sind für mich König. Ist wirklich so. Läuft mein Laden, läuft alles gut. Und wehe einer versucht, mir das wegzunehmen! Dann blüht ihm ein Schicksal, wogegen das von Chester Burns so gut wie nichts war. Und das sag ich nicht einfach so daher. Das meine ich ernst - verdammt ernst!

So oder so ähnlich könnte das aussehen, wenn wir uns mit einer Figur vertraut machen. Sie werden schnell Ihren eigenen Weg finden, um das ›Personal‹ Ihrer Geschichte kennenzulernen. Geben und nehmen Sie sich Zeit dafür, Figuren sind das Herz Ihrer Story.

Praxisteil 1

WIE SIE IHR ERSTES BUCH SCHREIBEN

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