Читать книгу WIE SIE IHR ERSTES BUCH SCHREIBEN - Martin Selle - Страница 6
Spezialtechniken zur Figurenerschaffung
ОглавлениеFiguren müssen Sie so anlegen, dass sie beim Leser eine Gefühlsreaktion hervorrufen. Verwenden Sie dazu die nachstehenden Techniken der Figurenbeschreibung, vertiefen Sie diese durch Details, und es entsteht nach und nach ein Held, den wir am Ende in- und auswendig kennen wie unseren Bruder, unsere Schwester oder unseren besten Freund. Sie kreieren einen ›Extremtypus‹. Figuren mit extrem ausgeprägten Eigenschaften sind die wirklich interessanten Helden.
Meister-Technik 1: Motivation – Ziel, Wunsch, Absicht
Alles, was eine Figur im Verlauf Ihrer Geschichte tut, dient nur einem einzigen, ganz bestimmten Zweck: ein festgelegtes Ziel zu erreichen. Jeder Held einer Geschichte ist von einer grundlegenden Absicht angetrieben. Er will sich einen sehnlichen Wunsch aus einem ganz bestimmten Grund heraus (= Motivation) um jeden Preis erfüllen. Er muss das Ziel, den Zweck seines Handelns, den Sie ihm als Autor in die Wiege gelegt haben, unter allen Umständen erreichen. Es ist die Motivation, die Ihre Figuren zum Handeln treibt. Sorgen Sie dafür, dass Ihr Held einen starken Antrieb hat, dass ihn ein einschneidendes Ereignis dazu zwingt, ein starkes Ziel um alles in der Welt erreichen zu müssen.
Derek Foster muss unter allen Umständen dafür sorgen, dass das Versuchsprotokoll ›Biomat 79‹ nicht in die Hände von Ken Kowalski fällt, sonst ist Derek tot und die uns vertraute Weltordnung könnte schnell Geschichte sein.
Ihr Held kann eine unglaubliche Vielzahl von Zielen verfolgen: Er möchte einen Menschen ermorden. Er will einen Raubüberfall aufklären und den Täter hinter Gitter bringen. Er möchte die Liebe einer beeindruckenden Frau gewinnen. Er möchte die Sklaverei beenden. Er will eine Zeitreise machen. Er will Weltmeister im Box-Schwergewicht werden. Er muss ein Attentat auf den Präsidenten verhindern. Er soll ein Gegenmittel für ein tödliches Virus finden. Es gilt, einen Schatz zu finden.
Als Schriftsteller müssen Sie die Fähigkeit entwickeln, die ›reale‹ Welt hinter sich zu lassen. Scheuen Sie sich nicht davor, Ziele zu entwickeln, die Sie selbst innerlich verabscheuen. Vielleicht will ein Priester nichts sehnlicher als kleine Mädchen vergewaltigen, sie zerstückeln und am Friedhof vergraben. Möglicherweise verdient sich ein Kinderarzt seine Villen und Segeljachten damit, dass er Kindern bei Operationen Nieren entnimmt und die Organe der Mafia verkauft.
Wenn es um das Erfinden von Zielen geht, sind Ihrer Fantasie wirklich keine Grenzen gesetzt. Wichtig in diesem Zusammenhang ist, dass Ihre Helden die Ziele aus einem starken, bestimmten Grund heraus, einer glaubwürdigen Motivation folgend, erreichen müssen. Der vorhin genannte Kinderarzt erscheint uns als Psychopath, als jemand, dem sofort das schmutzige Handwerk gelegt werden muss. Natürlich werden wir nicht zu seinem Freund, aber wenn wir wissen, dass er die Organe deshalb verkauft, weil seine eigene Tochter im Alter von fünf Jahren mangels einer Spenderniere verstorben ist, dann verändert dieses Motiv doch unseren Blickwinkel für die Figur. Ziele und Motive sind sehr eng miteinander verknüpft.
Das Ziel charakterisiert eine Person auf einen Schlag: der Mörder, der gute Cop, der Psychopath, der liebende Vater, der tollkühne Draufgänger, der listige Anwalt, der schrullige Detektiv, der ungeschickte Tölpel. Indem Sie Ihrer Figur ein Ziel geben, das sie aus einer starken Motivation heraus erreichen muss, erwecken Sie eine Romanfigur zum Leben.
Ich schlage Ihnen eine hilfreiche Übung vor: Fragen Sie Menschen im Gespräch immer dann, wenn sie Ihnen von einem Vorhaben, ihrem Wunsch, einem Ziel oder einer Absicht berichten, warum sie das tun wollen. Auf diese Weise entwickeln Sie ein feines Gespür für die Zusammenhänge von Zielen und Motiven, und Sie werden erkennen, wie stark ein Motiv sein muss, um einen Menschen zum Handeln anzutreiben. Achten Sie darauf, wo die Toleranzschwelle liegt, ab der eine Person sagt: ›Jetzt reicht es!‹, ›Ab hier reagiere ich.‹, ›Das lass ich nicht länger auf mir sitzen.‹, ›Das geht zu weit.‹ Zu Beginn Ihrer Geschichte sollte irgendetwas Ihren Helden motivieren, sein Ziel zu verfolgen. Jede Figur besitzt einen sogenannten Handlungsbogen:
1: Der Held erhält einen Beweggrund, ein Motiv, sein Ziel zu formulieren (der Familienvater schwört dem Mörder seiner Frau und Kinder Rache).
2: Der Held definiert aufgrund seines Motivs sein Ziel (Chester hat im Kasino Millionen verloren, er überfällt eine Bank, um nicht am Hungertuch nagen zu müssen).
3: Der Held handelt, um sein Ziel zu erreichen (Rocky Balboa trainiert wie besessen, um nach fünfzehn Runden im Ring noch auf den Beinen zu stehen).
4: Durch sein Handeln kommt es zum Konflikt mit dem Gegenspieler (der Mord ruft den Detektiv auf den Plan, um das Verbrechen aufzuklären).
Achten Sie darauf, dass keines dieser Kettenglieder fehlt, ansonsten ist sich der Leser unklar darüber, mit wem er sich verbünden soll und ob sich das überhaupt lohnt. Das Handeln verliert dann die Zielrichtung. Wenn der Leser nicht eindeutig weiß, warum Ihr Held tut, was er tut, dann verliert er schnell das Interesse an der Geschichte. Motivation ist das Dynamit, das Ihre Geschichte zu Beginn durch eine ›Explosion‹ in Fahrt bringt, den Held zum Handeln zwingt.
Sie können Motivation körperlich zum Ausdruck bringen (der Mord zwingt den Detektiv zur Aufklärung), im Dialog (eine Beleidigung oder die Mitteilung, dass jemand ermordet wurde) oder durch eine Situation zeigen (jemand liest die Stellenangebote in der Zeitung, während ihm der Postbote die nächste offene Rechnung ins Haus bringt).
Sehen wir uns ein Beispiel an:
Heute ist die Jacht explodiert.
Zum Glück waren wir gerade an Land und haben ein Picknick gemacht, sonst wären wir wohl alle mit in die Luft geflogen. So hat es nur Prinz Wesley erwischt.
Eigentlich war er überhaupt kein Prinz, sondern ein Riesenarschloch. Entschuldigung, ich weiß ja, dass man über Tote nichts Schlechtes sagen soll, aber er ist mir nun mal fürchterlich auf den Sack gegangen. …
… Ach ja: Ich habe vor, alles, was nach unserem Schiffbruch passiert, genauestens aufzuschreiben und es später als Basis für einen ›wahren‹ Abenteuerroman zu verwenden. So betrachtet wäre es natürlich von Vorteil, wenn wir nicht allzu schnell gerettet würden. Nur wenn wir länger hier auf der Insel bleiben, besteht die Hoffnung, dass sich ein paar dramatische Szenen abspielen. Eigentlich habe ich mein Notizbuch ja nur deshalb mit an Land gebracht, um an einer Kurzgeschichte zu arbeiten. Ich will nämlich gerne den Schreibwettbewerb auf dem College gewinnen. Daran sieht man, was für ein Optimist ich doch bin! Wer weiß, ob wir jemals wieder von dieser Insel kommen. …
Insider-Tipp: Sie sollten Motivation immer zeigen, nie erklären oder nur plump mitteilen und aussprechen. Am besten eignen sich körperliche Handlungen, um einen Helden zum Handeln zu zwingen. Eine Flucht zwingt zur Verfolgung, eine Schandtat zwingt zur Rache. Verzichten Sie hingegen auf Rückblenden, um die Motivation zu zeigen, das stoppt in den meisten Fällen die Handlung, weil der Leser dann das Motiv, den Handlungsgrund, nicht in der Gegenwart sucht, sondern in der Vergangenheit. Die Motivation Ihres Helden sollte nach Möglichkeit dem Jetzt entspringen. Wie machen Sie das? Ganz einfach: Bringen Sie Ihren Helden zu Beginn der Geschichte gleich in eine bedrängende Notlage, in eine üble Krisensituation. In solchen Momenten sind Menschen besonders offen und bereit, Dinge zu tun, die sie sonst vielleicht niemals tun würden. Und schon nimmt die Geschichte ihren Lauf.
Auch dafür ein Beispiel:
… Der muskelbepackte Gorilla schob die .38er über den Tisch. »Das Ding reißt ganz schöne Löcher in einen Brustkorb.«
Simon Cody saß David Lakota am Tisch gegenüber und betrachtete schweigend die Pistole. Er roch das frische Öl des Mechanismus und einen Hauch von schwefeligen Rückständen im Lauf.
»Wie hast du die Fingerabdrücke beseitigt, Simon? Einfach weggewischt? Handschuhe? Klingt doch alles zu einfach, oder?«
»Ihr habt den Falschen geschnappt, Dave.«
»Ja, klar. Wir Idioten von Security 1 schnappen immer die Falschen.«
»Diesmal …« Weiter kam Simon nicht mehr.
Lakota zog seine Beretta und drückte einfach ab.
Simon schrie auf. Die Kugel durchschlug seinen linken Oberschenkel, Blut spritzte, als er zu Boden fiel und sich krümmte. Er hörte, wie Lakota den Hahn erneut spannte.
»Spuck es einfach aus, Simon. Dann haben wir es endlich hinter uns. So oder so: Du verlässt diesen Raum in einem Leichensack.«
»Verdammtes Arschloch«, krächzte Simon. Das hätte Lakota nicht tun dürfen, nicht das.
(Student eines Tatort Schreibtisch-Autorenseminars von Martin Selle)
Natürlich muss das Ziel, das Sie Ihrer Figur mit auf den Weg geben, zur Handlung und zum Geschehen Ihrer Geschichte passen. Die Art und Weise, wie Ihre Figur das grundlegende Ziel, das Hauptziel erreichen will, ist ja die Story, die Sie erzählen. Wenn Ihr Held also die Gunst einer Frau gewinnen möchte, dann konzentriert sich all sein Handeln, das Sie beschreiben und veranschaulichen, darauf und nicht etwa auf sein Hobby, das Sammeln von Briefmarken. Das klingt logisch, stellt jedoch oft eine Fehlerquelle dar. Nur allzu leicht driftet man von der eigentlichen Geschichte ab in Nebensächlichkeiten.
Auch darauf sollten Sie achten: Lassen Sie Ihren Leser nicht einfach wissen, dass eine Figur ein Ziel erreichen wird, sagen wir, einen Mord begehen wird. Diese plumpe Mitteilung des Zieles durch fantasieloses Behaupten nimmt dem Leser die Chance, kreativ mitzudenken, sich Ziele selbst auszumalen. Besser ist es, Sie zeigen die Figur etwa dabei, wie sie eine Pistole – vermutlich die Tatwaffe – akribisch reinigt und auf perfekte Funktion kontrolliert. Sorgen Sie dafür, dass der Leser über das Ziel Ihres Helden spekulieren kann, ehe Sie ihm die Absicht knallhart vor Augen führen. Die Profis unter den Schriftstellern lassen das Ziel meistens anhand von kleineren Aktionen erahnen. Sie beschreiben das Wesen einer Figur somit Stück für Stück. So könnte zum Beispiel, während unser Mörder die Einzelteile seiner Waffe reinigt, ein Zeitungsbericht mit folgender Schlagzeile auf dem Tisch liegen: ›Serienmörder weiter auf freiem Fuß!‹ Auf diese Weise regen Sie den Leser zum aktiven Mitdenken an, ziehen ihn so in die Geschichte hinein.
Eine passable Möglichkeit, das wahre Ziel einer Person zu vermitteln, sind deren geheime Gedanken. Haben Sie sich nicht schon selbst einmal dabei ertappt, dass Sie etwas ganz anderes tun oder nach außen hin sagen als das, was Sie sich innerlich tatsächlich denken? Vielleicht in dieser Situation: Sie sitzen im Restaurant und bezahlen. Der Kellner fragt höflich, ob es gemundet hat. Sie bejahen, obwohl Sie sich in Wahrheit denken, dass die Suppe zu kalt, der Salat zu salzig und der Braten nur lauwarm war – und das alles zu einem überzogenen Preis! Hier kommen Sie sicher nie wieder her. Indem Sie die wahren Gedanken einer Figur mitteilen, können Sie dem Leser zeigen, wer diese Person tatsächlich ist, was sie wirklich denkt und worin ihre vorrangige Absicht besteht – welches Ziel sie in Wahrheit verfolgt.
Merken wir uns:
Statten Sie Ihren Helden und den Gegenspieler mit starken, deutlich unterschiedlichen, gegensätzlichen Zielen aus. Das Ziel charakterisiert Figuren enorm nachhaltig, macht sie einzigartig und leicht unterscheidbar.
Meister-Technik 2: Emotionen, Gefühle, Beständigkeit
Statten Sie Ihren Helden mit einer beständigen (ständig vorhandenen) Grundemotion aus. Emotionen verstärken die Menschlichkeit einer Figur. Unter Emotion verstehen wir einen seelisch-körperlichen Prozess, indem wir durch Gefühle unsere Reaktion auf Situationen und Wahrnehmungen zum Ausdruck bringen (lat. ex ›heraus‹ und motio ›Erregung, Bewegung‹).
Emotionen sind: Angst, Verzweiflung, Wut, Ärger, Freude, Trauer, Enttäuschung, Mitleid, Sympathie, Neid, Stolz, Verliebtheit.
Gefühle sind Emotionen, die verbinden: Liebe, Freundschaft, Mitgefühl, Verbundenheit, Gemeinschaftsgefühl.
Affekte sind Emotionen, die trennen: Hass, Neid, Geiz, Eifersucht, Schuldgefühl, Minderwertigkeit.
In Experimenten des mimischen Ausdrucks wurde festgestellt, dass fast alle Emotionen, nämlich Freude, Trauer, Furcht, Ärger, Ekel und Überraschung, über die unterschiedlichsten Kulturen hinweg mit jeweils der gleichen Mimik (Gesichtsausdruck) dargestellt werden. Der Ausdruck von Emotionen gehört zum gemeinsamen Erbe aller Menschen. Und diesen Umstand nutzen wir als Schriftsteller, um Figuren zu charakterisieren.
Sie können das auf folgende Weise tun: Verpassen Sie Ihren Figuren eine Hauptemotion, die sie kennzeichnet und von anderen Figuren in Ihrer Geschichte unterscheidet, eine grundlegende Emotion, die für Ihren Helden typisch ist und die ständig auftaucht. Eine solche Kernpersönlichkeit definiert, wer Ihre Figur ist, und sie weckt im Leser die Erwartung darüber, wie sie sich verhält. Weichen Figuren von dieser Kernemotion ab, wirken sie eher unglaubwürdig. Eine beständige, gleich bleibende Grundemotion ist wichtig, denn der Leser möchte nicht, dass Freunde zum Beispiel jedes Mal, wenn man mit ihnen spricht, sich anders geben. Behalten Sie die grundlegende Emotion nach Möglichkeit bei, das gibt Ihren Figuren Beständigkeit und macht sie in sich stimmig. Es wäre unwahrscheinlich, dass eine Person, die ständig Angst hat, plötzlich und ohne verständliche Motivation auf die Idee kommt, einen Fallschirmsprung zu machen – das wäre nicht stimmig und würde den Leser eher verwirren.
In Filmen und Romanen treffen Sie immer wieder auf den hasserfüllten Neider, den sicheren Freund, den sympathischen Romantiker (der vielleicht nur vorgibt, romantisch zu sein), den ängstlichen Waschlappen oder den immer fröhlichen Träumer.
Beachten Sie andererseits, wenn Sie Ihre Figuren mit einer grundlegenden Emotion ausstatten, dass die Figur nicht ausschließlich nach dieser Emotion handelt. Das wäre unwirklich. Selbst der Angsthase hat seine mutigen Momente, und auch der geizige Neider kann durchaus einmal großzügig handeln, was ihn nur menschlicher und stärker werden lässt, wenn ihn das eine Überwindung seiner grundlegenden Emotion kostet.
Figuren ›leben‹, sie sollten emotional so gestrickt sein, dass der Leser sich mit ihnen auch gefühlsmäßig identifizieren kann. Beobachten Sie das emotionale Verhalten von Menschen und lassen Sie Ihre Figuren menschlich sein – auch in Bezug auf Emotionen. Emotionen machen Ihre Figuren ein echtes Stück lebendiger.
Auch hierzu ein Beispiel:
… Wieder schaute er auf die Uhr. Viertel nach neun. Er hätte sie vor einer Dreiviertelstunde in Tunbrige Wells abholen sollen, das auch ohne Stau noch zwanzig Minuten entfernt war.
Terry Miller, ein frisch geschiedener Detective Inspector aus seiner Abteilung, hatte ständig mit seinen Internet-Eroberungen geprahlt und Grace gedrängt, sich ebenfalls auf der Seite registrieren zu lassen. Roy hatte sich geweigert, doch als er plötzlich zweideutige E-Mails bekam, stellte er wutentbrannt fest, dass Terry Miller ihn ohne sein Wissen auf einer Seite namens U-Date angemeldet hatte.
Er konnte sich noch immer nicht erklären, warum er auf eine Mail tatsächlich geantwortet hatte. Einsamkeit? Neugier? Trieb? Er wusste es selbst nicht genau. In den vergangenen acht Jahren hatte er ruhig von Tag zu Tag gelebt. Manchmal versuchte er zu vergessen, dann wieder fühlte er sich schuldig, weil er nicht an sie dachte.
Sandy.
Und nun hatte er plötzlich Gewissensbisse wegen der Verabredung. Sie sah toll aus – jedenfalls auf dem Foto. Ihr Name gefiel ihm auch: Claudine. Klang französisch, irgendwie exotisch. ...
… Rote Rosen, ziemlich kitschig, aber er war nun mal ein unverbesserlicher Romantiker. Die Leute hatten recht, er musste irgendwie weiterleben. Die Verabredungen, die er in den letzten acht Jahren gehabt hatte, konnte er an den Fingern einer Hand abzählen. Er wollte einfach nicht glauben, dass es noch einmal die Richtige für ihn geben, dass eine Frau es je mit Sandy aufnehmen könnte.
Vielleicht würde sich das heute Abend ändern. …
(Peter James, Stirb ewig)
Meister-Technik 3: Merkmale des Körpers
Körperliche Eigenschaften eignen sich ebenfalls, um Figuren zu charakterisieren. Verfallen Sie dabei aber nicht in Klischees! Klischees wären zum Beispiel: die abstehenden Ohren, die Plattnase, das Hinkebein, breite Schultern, knackiger Po. Hierbei handelt es sich um plumpe, oberflächliche Beschreibungen, die jedermann aus dem täglichen Leben kennt und die keinen vom Hocker reißen.
Hüten Sie sich auch vor Verallgemeinerungen und vor banalen Vergleichen. ›Sie lächelte wie ein Filmstar‹ oder ›Terry war eine schlanke, sportliche Frau‹ oder ›Terry tanzte federleicht‹. Das informiert den Leser zwar über die Figur, ruft bei ihm jedoch keine emotionale Reaktion hervor – genau das sollte aber passieren.
Vielleicht so, als veranschaulichendes Beispiel:
Wenn man mit Terry tanzte, hatte man das Gefühl, mit einem feenhaften Wesen über das Parkett zu schweben.
Mit dieser Formulierung weiß der Leser sofort, dass Terry eine schlanke, leichtfüßig sportliche Person ist. Und Sie zeigen das anhand einer Handlung, des Tanzens; das charakterisiert zusätzlich und ist viel wirksamer als eine bloße Beschreibung. Aber zu diesem Thema später noch mehr.
Insider-Tipp: Geben Sie Ihren Figuren körperliche Merkmale, die einen Bezug zur Geschichte haben, die Sie erzählen. Fragen Sie sich immer, welche körperlichen Eigenschaften in Bezug auf Ihre Geschichte die wichtigsten sind. Dann zeichnen Sie diese entsprechend. Charakterisieren Sie einen Detektiv, wird sein Geist wesentlich sein, schildern Sie eine erotische Frau, wird ihr Haar eine wichtige Rolle spielen, und bei einem Gladiator werden Sie seine Statur darstellen spielen müssen. Wie erkennen Sie die körperlich wichtigen Merkmale? Ganz einfach: Stellen Sie sich Ihren Helden in einer typischen Situation vor, die zur Geschichte passt. Zum Beispiel der Gladiator, der sich in der Arena mehreren Löwen gegenübersieht. Und nun stellen Sie sich vor, der Gladiator wäre 1,56 Meter groß und würde gerade mal 65 Kilogramm wiegen. Würde er so für den Leser noch einen tapferen, kräftigen Helden abgeben? Sie sehen, die Körperlichkeit des Gladiators ist in Bezug auf die Geschichte wichtig, demnach von Ihnen zu charakterisieren.
Das könnte zum Beispiel so funktionieren:
Als der Gladiator in die Arena geführt wurde, verstummte das Volk. Die Soldaten an seiner Seite reichten ihm gerade mal bis unter die Arme, den Zenturio hinter ihm sah man praktisch kaum.
Diesem Gladiator trauen wir einen Sieg gegen die wilden Löwen zu.
Bemühen Sie sich ständig, Formulierungen zu finden, die das, was Sie sagen wollen, treffend beschreiben, und die dabei auch der Geschichte zugutekommen. Charakterisieren Sie, wann immer das geht, indem Sie mit möglichst treffenden Bildern beschreiben. ›Gehen‹ ist nicht gleich flitzen, schleichen, hasten oder schlendern.
Körperliche Merkmale bieten Ihnen ein nahezu unendliches Gebiet, um eine Figur unterscheidbar, einzigartig und für den Leser merkfähig zu machen. Vor allem das Gesicht bietet Ihnen eine Vielzahl von Möglichkeiten: die stechenden Adleraugen, die kreuzförmige Wangennarbe etwa. Der Mensch besteht aus unendlich vielen Einzelheiten. Jeder Teil eignet sich, um ihm ein einzigartiges Merkmal zu geben.
Sehen Sie selbst, hier entsteht ein Bild vor unseren Augen:
… Und das Bild war wirklich heiß! Bernsteinfarbenes Haar; ernstes, glattes Gesicht; enge Bluse, und Brüste, für die man einen Waffenschein gebraucht hätte. Sie saß im Minirock auf einer Bettkante und ließ erahnen, dass sie spitzenbesetzte Strümpfe und womöglich kein Höschen trug. …
Durch die Beschreibung der äußeren Erscheinung macht sich der Leser eine bildliche Vorstellung von der Figur, und er bekommt ein erstes Gefühl für sie.
Weiters können Sie als Autor durch die äußeren Erscheinungen der Figur auch innere Gesichtspunkte und Aspekte der Figur darstellen. Zum Beispiel kann das seelische Gebrochensein einer Figur äußerlich durch eine Verunstaltung im Gesicht veranschaulicht werden. Indem Sie die äußere Erscheinung der Figur schildern, stellt sich der Leser weitere Details Ihres Helden vor. Lassen Sie Ihrer Fantasie freien Lauf. Beobachten Sie Menschen genau und verwenden Sie besondere Details für Ihre Arbeit als Schriftsteller.
Übung: Stellen Sie sich Ihre Bekannten vor. Durch welche körperlichen Merkmale unterscheiden sie sich voneinander? Merken Sie sich diese Details und prüfen Sie, ob Sie diese für Ihre Arbeit verwenden können.
Auch die Körperhaltung kann eine Person charakterisieren:
Er trat vor das Publikum wie ein Konzernchef, der es gewohnt war, große Reden zu halten.
Nutzen Sie die körpereigenen Haltungen von Menschen, um unverwechselbare Charaktere zu zeichnen. Eine Kleinigkeit reicht, und der Leser erkennt die Figur sofort. Nutzen Sie Ihre Fantasie und das endlos weite Spektrum der menschlichen Erscheinung.
Meister-Technik 4: Fähigkeiten des Geistes, Talente
Menschen bestehen nicht nur aus körperlichen Besonderheiten, sondern verfügen auch über geistige (seelische, mentale) Merkmale. Vielleicht verfügt Ihr Held über einen messerscharfen Verstand wie Agatha Christies Detektiv Hercule Poirot. Oder Ihr Held kann Spuren besonders gut lesen, oder er ist ein guter Profiler, er könnte aus einem Skelett Rückschlüsse auf die Todesart eines Menschen ziehen oder er könnte mit Pferden flüstern können. Wie auch immer, egal, was Sie sich an Besonderheiten in mentaler, geistiger Hinsicht einfallen lassen, es charakterisiert Ihre Figur, macht sie einzigartig.
Auch komödiante Fähigkeiten kennzeichnen Figuren sofort: Begriffsstutzigkeit, Dummheit, Unbedarftheit etwa. Denken Sie an Pierre Richard in ›Der große Blonde mit dem schwarzen Schuh‹: Die Figur, die Pierre Richard verkörpert, trägt zwei verschiedene Schuhe und läuft mit dem Kopf gegen Glaswände. In fernöstlichen Kulturen finden wir oft Menschen, die andere durch Handauflegen heilen. Das alles sind tolle Möglichkeiten, eine Person unterscheidbar und einzigartig zu machen. Denken Sie nach, seien Sie erfinderisch.
Meister-Technik 5: Gedanken
Sie können eine Figur auch dadurch charakterisieren, dass sich andere Personen über den Helden oder der Held über sich selbst Gedanken macht. Diese Gedanken können positiv oder negativ sein, Sympathie oder Ablehnung weckend, vorteilhaft oder nachteilig sein. So könnte ein Gastgeber zum Beispiel zur Heldin sagen:
»Wie wunderschön, Sie hier zu sehen, Gräfin.«
In Wirklichkeit denkt er sich aber und flüstert einem Freund auf der Party zu:
»Wer hat denn diese alte verknitterte Schlampe eingeladen?«
Ebenso könnten Partygäste den Gastgeber dabei beobachten, wie er seine Gäste schmeichelhaft begrüßt und über alle Maßen lobt. Ein Gast könnte sich sagen:
»Dieser Schleimscheißer. Vorne herum tut er scheinheilig, und wenn er die Verträge erst einmal unter Dach und F ach hat, denn dreht er ihnen den Gashahn ab.«
Unser Gastgeber könnte auch zu sich selbst sagen:
»Das ist deine letzte Party bei mir, Frau Gräfin. Diese Unterschrift ist auch dein Todesurteil.«
Indem Personen entgegenkommende oder unfreundliche Gedanken mitteilen, charakterisieren Sie Ihre Figuren für den Leser.
Meister-Technik 6: Erkennungszeichen der Sprache
Eine passable Technik, Figuren unterscheidbar und merkbar zu machen, besteht darin, Personen typische Redensweisen zu geben und sie so gegeneinander deutlich abzugrenzen. Die besten Mittel zur Unterscheidung der Figuren durch Sprache sind verschiedene Ausdrucksweisen und sprachliche Erkennungszeichen und Redesignale, die der Leser ganz leicht erkennen kann. Hier ein paar Beispiele für diese Technik:
Wortgewandtheit, Sprachgewalt (Wortschatz), typische Redensarten (»Wenn ich mich nicht irre«, sagt Sam Hawkins in Winnetou ständig.), knappe Formulierungen (kurz angebunden sein), ausschweifende Erklärungen, Grammatikfehler (falsche Artikel), Akzent, Vermischung von Sprachen (»Eine blendende Idee, my love!«, spöttische Äußerungen (»Die spinnen, die Römer!« - Asterix und Obelix), Wörter auslassen, schlampige Aussprache, Fremdwörter verwenden (richtig und falsch), Fachjargon verwenden (hier ist Vorsicht geboten, denn der Fachjargon wirkt schnell aufgeblasen − eher vermeiden).
Achten Sie aber darauf, dass die gewählte Sprache zu Ihrer Figur passt. Ein Automechaniker wird kaum in ausschweifenden hochtrabenden Formulierungen sprechen, in denen es vor Fremdwörtern nur so wimmelt. Eine derartige Sprache ordnet der Leser eher einem Professor zu, es sei denn, Ihr Mechaniker macht nebenbei ein Studium, weil er sich beruflich umorientiert.
Sie könnten eine Figur dadurch sprachlich charakterisieren, dass Sie einen Helden erschaffen, der in jedem zweiten Satz ›oder nicht‹ und ›wissen Sie‹ sagt. Ihr Held könnte laut oder leise sprechen, mit Akzent, immer ein und dasselbe Wort falsch aussprechen, permanent falsche Artikel verwenden, stottern, einen Dialekt sprechen oder Fremdwörter grundsätzlich falsch einsetzen. Ärzte sprechen anders als Landstreicher, Jugendliche aus der Gosse anders als Jugendliche aus gebildeten Häusern. Es gibt Mundartworte, landschaftlich und zeitlich gebundene Spracheigentümlichkeiten, eine Vulgärsprache, Mischsprachen, Slang, Bildungssprache etc. Auch Modewörter existieren. Ein Mensch kann ständig Hochdeutsch sprechen oder Zitate einbauen. Die Möglichkeiten sind schier unendlich. Hören Sie den Menschen genau ›auf den Mund‹ und Sie werden eine Vielzahl an Möglichkeiten entdecken, um Ihre Figuren durch sprachliche Erkennungszeichen zu charakterisieren.
Denken Sie nur daran, wie spannend es sein kann, wenn ein Agent von einem Stotterer die entscheidende Information erhält, die Uhr tickt, der Stotternde aber kein Wort herausbringt. Gauner verwenden eine eigene Sprache, Soldaten, ebenso Rechtsanwälte oder Poeten.
Sprache prägt eine Person sehr deutlich, schnell und unverwechselbar. Verwenden Sie viel Zeit für die sprachliche Gestaltung Ihrer Figuren, denn in einem Roman kommt gerade in der szenischen Darstellung dem Dialog eine bedeutende Rolle zu. Auch dazu später alle Details.
Ein abschließendes Beispiel, dieselbe Feststellung zweier völlig unterschiedlicher Personen:
»Lady Holmesby, würden Sie die Annahme mit mir teilen, das Bild, welches sich uns hier bietet, lässt nur einen Schluss zu – nämlich Mord?«
»Verdammte Scheiße, Nancy. Die haben den Typen umgenietet, was?«
Meister-Technik 7: Mimik, Gestik, Bewegungen
Typische Bewegungen, ständige Gestiken und immer wiederkehrende Gesichtsausdrücke (Mimik) sind eine fabelhafte Möglichkeit, Figuren zu charakterisieren.
Ihre Figur kann fies grinsen, ständig überrascht eine Augenbraue hochziehen, sich nachdenklich die Nase reiben, die Augen misstrauisch zusammenkneifen oder ununterbrochen sich die Haare hinter das linke Ohr streifen.
Die Kunst heißt: Beobachten.
Analysieren Sie andere Menschen, deren Bewegungen und Gesichtsausdrücke. Lernen Sie daraus, merken Sie sich Besonderheiten in der Gestik und verwenden Sie diese Charakteristika. Sie können diese sogar übertreiben, um sie deutlicher zum Ausdruck zu bringen. Wie geht eine Person? Dreht sich ein Mann ständig nach Frauen um? Kaut jemand die ganze Zeit auf einem Kaugummi herum? Eine Person, die morgens aufsteht und als Erstes mit akribischer Sorgfalt und weißen Handschuhen den Tresor öffnet, um nachzusehen, ob noch alle Goldbarren vorhanden sind, ist sofort charakterisiert. Ebenso eine Figur, die ununterbrochen auf die Uhr blickt und dann ihre Arbeit an der Wall Street beginnt. Beobachten Sie einen Solisten, der das Trompetenkonzert von Haydn spielt, einen Sprinter, wie er sich auf die 100 Meter vorbereitet, einen Redner, wie er seine Worte mit Gesten und Mimik untermauert. Beobachten Sie, lesen Sie die Körpersprache von Menschen.
Insider-Tipp: Kaufen Sie sich fundierte Bücher über die Körpersprache, das ist eine wirklich gute Hilfe für Schriftsteller, um ein Gefühl für Bewegungen und deren Inhalte zu bekommen. Bringen Sie in Erfahrung, welche Gefühle hinter den einzelnen Reaktionen stehen. Der Körper kann nicht lügen, Worte schon! Wie äußert es sich, wenn jemand angestrengt nachdenkt, sich ärgert, kurz vor dem Explodieren steht oder überrascht ist?
Wir Menschen verwenden nicht nur Sprache, sondern sprechen auch mit dem Körper. Passen Worte und Haltung einer Person zusammen? Stehen einer Figur Schweißperlen auf der Stirn, wenn sie spricht? Fühlt sie sich unwohl? Wird sie gezwungen, Worte zu sagen, die nicht ihre wahren sind? Hat jemand, während er etwas sagt, einen roten Kopf? Jemand der zornig schreit, wird nicht mit schlapp herabhängenden Armen dastehen. Die Augen verraten eine Menge über eine Person. Wirken sie gehetzt, starr, ängstlich um sich blickend? Bestimmte Zeichen und Körperhaltungen können Signale oder vereinbarte Mitteilungen sein. Wie gibt Ihnen jemand die Hand? Ein kräftiger Händedruck sagt etwas anderes über eine Person aus als ein weicher, schlaffer Druck. Überlegen Sie, ob Sie Ihren Figuren einzigartige Bewegungen geben möchten, um sie unterscheidbarer zu machen. Eine einzige mimische Eigenheit genügt hier, und schon haben Sie einen eigenständigen Charakter ein gutes Stück herausgearbeitet. Ihre Figur ist wieder um eine Facette reicher und individueller geworden.
Eines der berühmtesten Beispiele der Filmgeschichte:
»Faszinierend‹« sagte Mr Spock und zog seine rechte Augenbraue hoch.
Meister-Technik 8: PANEV
Persönliche Angewohnheiten, Neigungen, Eigenheiten und Vorlieben
Darunter verstehen wir nicht die Art, sich zu kleiden, zu sprechen oder individuelle Bewegungen. Unter die ›PANEV‹ fallen Eigenheiten wie:
Ein Bombenspezialist raucht nur die schwarzen John Player Special.
Der Held bevorzugt asiatische Frauen.
Reist der Held per Flugzeug, kommt nur ein Platz gleich neben dem Notausstieg infrage.
Ihre Hauptfigur züchtet Orchideen.
Der Held kommt immer exakt um fünf Minuten zu spät.
Ihr Held trinkt nur Martini – geschüttelt, nicht gerührt.
Ohne die tägliche Fitnessstunde am Morgen, exakt von sieben bis acht Uhr, verlässt der Held das Haus nicht.
Ihr Held liebt es, Spinnen die Beine einzeln auszureißen.
Die Hauptfigur züchtet im Keller Giftschlangen.
Um seinem Frust Luft zu machen, streift der Held jeden Tag vor dem Zubettgehen durch die Straßen und schlitzt bei mindestens vier Autos die Reifen auf. Nur dann kann er beruhigt einschlafen.
Die Kategorie ›PANEV‹ bietet Ihnen endlose Möglichkeiten, eine Figur zu charakterisieren. Brechen Sie jedes Tabu! Haben Sie keine Hemmung davor, sich Abscheulichkeiten, die abstrusesten Abnormitäten und die kreativsten Eigenheiten auszudenken. Es gibt Dinge unter der Sonne, von denen Sie nicht einmal zu träumen wagen! Mal sehen, ob ich Sie schocken, Ihnen ein ›Igitt!‹ entlocken kann: Denken Sie nur an die Mörder, die ihre Opfer umbringen und dann die Eingeweide komplett verspeisen. Natürlich das Gehirn in feine Scheiben geschnitten und geröstet. Geht Ihnen Anthony Hopkins da unter die Haut?
Religion, Sex, Tiere, Geld, Kinder, Rassen – die Beziehung einer Figur zu solchen Dingen prägen einen Charakter ebenfalls enorm; besonders, wenn die von Ihnen erdachten ›PANEV‹ unüblich sind.
Meister-Technik 9: Kleidung
Konzentrieren Sie sich bei der Charakterisierung einer Figur durch die Kleidung auf ein Merkmal, ein Detail, das sich im Gedächtnis des Lesers schnell und tief einprägt. Zum Beispiel könnte der Held immer einen weißen und einen schwarzen Schuh tragen; in meinen Jugendkrimis von ›Codename SAM‹ trägt Sandra Wolf in jedem Schuh zwei Bänder zwecks besseren Passens. Eine Frau könnte ständig goldene angeklebte Fingernägel tragen, der Held trägt ausschließlich schwarze Kleidungsstücke, die Anwältin nur Designerklamotten.
Ein reiches Gebiet in Bezug auf die Kleidung ist die Modewelt. Beobachten Sie die Laufstege in Paris, Mailand, New York. Blättern Sie in Katalogen und suchen Sie nach brauchbaren Elementen der Kleidung. Aber seien Sie dabei ›offen‹. Ihr persönlicher Modegeschmack spielt keine Rolle! Entscheidendes Kriterium ist, was für Ihre Charakterisierung funktioniert und was nicht. Sie schauen mit den Augen eines Schriftstellers, nicht mit jenen des Alltags. Wo Ihre Freunde sagen ›Das würde ich nicht einmal im Fasching anziehen oder geschenkt‹, da werden Sie erst richtig neugierig und hellhörig. Sie interessiert der Typ, der giftgrüne Kontaktlinsen trägt, eine tätowierte Glatze hat und in hautengen Ledersachen herumläuft.
Kleidung definiert einen Menschen sehr rasch. Beobachten Sie im Fernsehen, was Menschen aus den verschiedenen sozialen Schichten tragen. Wie kleiden sich Banker, Adelige, Sportler, Junkies, Gossenjugendliche, Sektenangehörige, Prostituierte, Soldaten, Wissenschaftler? Denken Sie auch darüber nach, welchen Zweck die Kleidung eines Menschen erfüllen kann. Kleider können verführerisch sein, typisch oder untypisch, geeignet oder fehl am Platz. Eine Figur, die ihr Hemd bis oben hin zugeknöpft trägt, signalisiert uns etwas anderes als eine Person, die lässig die drei obersten Knöpfe offen trägt unter dem Jackett.
›Kleider machen Leute‹, heißt es. Und das trifft zu. Bestimmte Typen von Menschen kleiden sich auf eine ganz bestimmte Art und Weise. Gehen Sie mit offenen Augen durch die Stadt und Sie werden schnell einen Blick für Typen und Kleidungsgewohnheiten entwickeln.
Wie oft sagen Leute in Bezug auf ihre Kleidung: ›Das ist mein Stil.‹ Die Art, wie sich Personen kleiden, definiert nicht nur die äußere Erscheinung der Figur, sie gewährt auch Einsicht in die Haltung, die Seele, die Emotionen eines Individuums. Der Mann im Prada-Anzug mit der korrekt sitzenden Seidenkrawatte und dem Designerschuh, der dem bettelnden Straßenmusiker kein Almosen gibt, sondern den Hut weg kickt, ist ein anderer Typ als der Kerl im Trainingsanzug, der stehen bleibt und nach einem Dollar kramt. Nutzen Sie die Wirklichkeit, beobachten Sie die Menschen und ihre Kleidung. Sie werden Tausende Möglichkeiten entdecken, um ihre Figur unverwechselbar zu gestalten.
Lesen wir hier ein gelungenes Beispiel:
... Das galt auch für den etwas über dreißigjährigen Mann, der neben dem Kiosk auf seinen Bentley wartete. Seine Erscheinung - grau melierter Haarschnitt, sonnengebräunte Haut, dunkles Seidenpolohemd und gebügelte Kakihose zu den weißen Golfschuhen – ließ auf einen dicken Geldbeutel schließen.
Meister-Technik 10: treffende Namen
Nomen est omen, heißt es. Richtig. Namen sind für Sie als Schriftsteller wesentlich mehr als eben nur ›Namen‹. Namen sind Bedeutungsträger, sie müssen zu einer Figur ›passen‹, inhaltlich wie auch in Bezug auf Klang und Rederhythmus. Oder lesen Sie vielleicht gerne Romane, in denen es vor Zungenbrechernamen nur so wimmelt?
Namen charakterisieren eine Figur. Nehmen wir nur das adelige ›von‹. Wenn jemand ›Adele von Wittelsbach‹ heißt, denkt der Leser sofort an jemanden von adeliger Herkunft. Heißt Ihre Figur ›Lucio‹, steht sie kaum im Verdacht, ein Deutscher zu sein.
Viele Schriftsteller schlagen im Telefonbuch nach, um Namen zu finden. Das ist eine gute Idee. Achten Sie aber darauf, dass Sie dabei nicht nach dem Zufallsprinzip aussuchen.
Schauen wir uns weitere Beispiele an:
In ›Star Wars‹ gibt es die Figur von Luke Skywalker. Sky bedeutet Himmel, im weiteren assoziierten Sinne: Weltraum. Walker heißt zu Deutsch Wanderer, Geher, Reisender. Wir haben also einen Namen, der so viel aussagt wie: Weltraumreisender. Und dieser Name ist mehr als treffend und passt exakt zu dem, was Luke tut – im Weltraum von einem Planeten zum anderen zu flitzen und die dunkle Seite der Macht zu bekämpfen. Stellen Sie sich nun vor, Luke würde Hans-Dieter Hildesheimer heißen? – Unmöglich. Sie verstehen, was ich meine.
Oder Stephen Kings ›Misery Chastain‹. Dieser Name setzt sich zusammen aus Misery (Elend) und Chase (jagen, verfolgen).
Oder meine Heldin aus ›Der magische Federkiel‹ July Finn: July wurde im Juli geboren, ein Monat, der in der Geschichte von Bedeutung ist. Finn hat etwas Nautisches an sich, ebenfalls ein Zusammenhang zur Geschichte und zu Julys Fähigkeiten, zwischen Welten hin und her navigieren zu können.
Die Technik besteht also darin, klangvolle Namen zu finden, die einen Bezug zur Geschichte darstellen und somit die Figur charakterisieren. Peter James nennt seinen Helden Grace. Denken Sie da nicht auch an Grace Kelly? Und Roy hat doch etwas Königliches. Roy Grace ist auch ein wahrhaft königlicher Detective.
Wie bei allem gilt aber auch hier: Allzu viel wirkt aufgesetzt. Geben Sie acht, dass die von Ihnen ausgewählten Namen nicht zu ›sprechend‹ sind.
Koseformen von Namen (Rosi, Steffi, Timmy …) suggerieren, dass es sich bei der Figur eher um eine junge Person handelt. Endungen auf ›i‹ oder ›y‹ wirken verniedlichend, machen eine Figur kleiner.
Bedenken Sie bei der Namensgebung auch immer regionale und soziale Zuordnungen. Arbeiterkinder heißen anders als adelige Nachkommen.
Ebenso engen Anlehnungen an bekannte Namen deren Bedeutung ein: Napoleon Singer, Gerry Roosevelt, Elena Lenin.
Wechseln Sie vom Vornamen zum Nachnamen, dann wechselt damit auch die Distanz des Erzählers – ein Nachname wirkt unpersönlicher, weiter weg, weniger freundschaftlich. Und natürlich umgekehrt.
Unsympathische Figuren sollten Sie nicht mit vertraulichen, freundschaftlichen Abkürzungen benennen. Der Bösewicht wird kaum Billy heißen – eher Bill Thronton.
›Dunkle‹ Vokale und Laute (o, u …) eignen sich gut, um den Bösewicht zu bezeichnen. Auch langsame und schwere Sprachrhythmen suggerieren ›Dunkles‹: Rufus Roderich, Darth Vader, Fürst Diabolo (Der magische Federkiel).
Vorsicht ist auch geboten, wenn Sie einen Namen durch einen ›Stellvertreter‹ ersetzen wie eine Berufsbezeichnung oder einen Titel. Das verwirrt den Leser, auch wenn dieser den Beruf oder den Titel kennt. Führen Sie Ihre Heldin ein als July Finn, dann nennen Sie July nicht plötzlich ›die Studentin‹ oder ›das Mädchen‹.
Insider-Tipp: Um ein Gefühl für Namen zu entwickeln, schreiben Sie bekannte, bezeichnende Namen aus Romanen und Filmen auf und stellen Sie sich jeweils den Charakter und die Geschichte der Figuren vor. Suchen Sie nach Verbindungen zwischen Namen, Geschichte und Eigenheiten. Sprechen Sie sich dabei die Namen laut vor. So hören Sie Klang und Sprachrhythmus exakt heraus.
Meister-Technik 11: Schwächen, Unzulänglichkeit
Dies ist eine der überhaupt wichtigsten Techniken, um Figuren zu erschaffen, die den Leser erreichen. Warum ist das so? Die Beziehung des Lesers zum Helden und zu Figuren im Allgemeinen sollte sich von anfänglichem Interesse über Sympathie in ›wirkliche Liebe‹ wandeln. Das ist eine Angelegenheit der Gefühle, die der Leser für Ihre Figur empfindet. Damit der Leser für eine Figur starke und intensive Gefühle entwickeln kann, ist es unumgänglich, die Schattenseiten einer Figur zu zeigen. Ein lebensnaher, menschengerechter Charakter muss Schwächen und Unzulänglichkeiten besitzen. Ist das nicht der Fall, besitzt der Held keine Tiefe, er bleibt nur ein oberflächliches, lebloses Abziehbild, flach, unecht, eine schemenhafte Zeichnung, ein Schatten ohne Gesicht.
Gerade wenn Sie dem Leser jene Seiten Ihres Helden zeigen, die er normalerweise vor anderen versteckt, dann bekommt der Leser das Gefühl, die Wahrheit über diese Figur zu erfahren. Lassen Sie den Leser immer im Glauben, dass er noch weitere Einblicke in das Seelenleben des Helden bekommt – bis zum Schluss der Geschichte. Auf diese Weise halten Sie den Leser in der Story.
Insider-Tipp: Achten Sie darauf, die negativen Eigenschaften des Helden nicht zu früh zu enthüllen, sonst kann sich der Leser ebenfalls nicht mit ihm identifizieren! Es ist wie im echten Leben: Der erste Eindruck entscheidet meistens über Sympathie oder Antipathie.
Lehnt der Leser Ihren Helden aufgrund der ersten Begegnung ab, können Sie diesen Sympathieverlust kaum noch aufholen. Zeigen Sie Ihren Helden daher beim ersten Auftritt in einer Szene, die ihn sympathisch macht: Der Held könnte in Gefahr sein (auf der Flucht vor jemandem), er erleidet unverschuldet ein Unglück (er weicht einem Betrunkenen aus und fährt sein neues Auto zu Schrott), er ist von negativen Kräften umgeben (Alex wurde gekidnappt), er befindet sich in einer verzweifelten Lage (zahle eine Million Dollar, oder du siehst deine Tochter nie wieder).
In ›Rocky‹ erleidet Rocky gleich zu Beginn im Boxkampf einen unfairen Kopfstoß. Der Leser ist sofort auf Rockys Seite, verbündet sich mit ihm. Wäre Rocky ein Gott ohne Schwächen, könnte ihm nie jemand einen derartigen Kopfstoß verpassen, er würde unwirklich wirken.
Sie könnten eine Szene schreiben, in der Helen ihren Ehemann Gerry, während dieser liebevoll ihre vierjährige Tochter Mary vom Kindergarten abholt, mit ihrem Chef betrügt. Sofort empfinden wir Helen und ihren Chef als unsympathisch, und Gerry ist unser Favorit.
Was den Leser und eine Figur unzertrennlich verbindet, ist das Hin und Her, das Auf und Ab der wechselnden Gefühle. Indem der Leser durch das, was dem Helden passiert, Gefühle erinnert, die er selbst kennt, verwischt sich die Grenze zwischen ihm und der Figur, zwischen Realität und fiktiver Geschichte – Leser und Figur verschmelzen miteinander.
Statten Sie Ihre Figuren demnach mit menschlichen Unzulänglichkeiten und Schwächen aus. Das erlaubt es dem Leser, Anteil zu nehmen am Schicksal der Figur. Er wird mit ihr leiden, weinen, lachen und kämpfen bis zum Schluss der Geschichte. Und genau das wollen Sie als Autor erreichen.