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Helden sind die Story
ОглавлениеFigur-Typen und deren Bedeutung
Wir beginnen nicht mit dem Thema?, werden Sie verwundert fragen. Nicht damit, woher ein Schriftsteller seine Ideen bekommt? Und auch nicht damit, wie ein Autor mit seinen Ideen umgeht, diese weiter entwickelt? Dazu kommen wir später. Zuerst müssen Sie verstehen, dass eine Geschichte aus den Figuren besteht. Sie sind es, die handeln und somit die Story entstehen lassen. Diese Erkenntnis ist ungemein wichtig. Nur durch sie können Sie Ihren Ideen Leben einhauchen. Denken Sie an einen Ihrer Lieblingsfilme, an einen Ihrer Lieblingsromane, an eines Ihrer Lieblingstheaterstücke. Immer werden es die Personen, die darin vorkommen sein, an die Sie sich erinnern. Das liegt daran, dass Ereignisse bedeutsamer werden, wenn wir die Menschen kennen, die von ihnen betroffen sind. Stellen Sie sich bloß folgende Zeitungsmeldung vor:
Der Schüler erlag noch an der Unfallstelle seinen inneren Verletzungen.
Das ist wirklich tragisch, berührt Sie aber nur am Rande. Sie kennen den Schüler ja nicht näher. Nun stellen Sie sich vor, die Meldung erreicht Sie per Telefon:
Der Schüler erlag noch an der Unfallstelle seinen inneren Verletzungen. Es ist Ihr Sohn Jan.
Gut werden Sie sagen, ich habe (Gott sei Dank) keinen Sohn Jan. Aber Sie wissen, was ich meine. Je näher Sie eine Person kennen, desto tiefer berührt sie deren Schicksal, weil die Katastrophe ein menschliches Gesicht, ein Leben bekommt. Wenn Ihr Leser Tragödien auf menschliche Weise erlebt, weil er sie mit wirklichen, ihm vertrauten Personen verbindet, die die Katastrophe überlebt haben oder durch sie gestorben sind, prägen sich diese Ereignisse unauslöschlich in seinem Bewusstsein ein. Und genau darauf kommt es Ihnen als Schriftsteller an.
Wenn Sie beginnen, Ihr Buch zu schreiben, dann fangen Sie bei den Figuren an. Wenn es Ihnen gelingt, unsterbliche Helden zu erschaffen, die sich dem Leser unauslöschlich einprägen, dann wir er Ihren Roman nicht mehr aus der Hand legen – und ein Verleger und Lektor ebenso wenig. Sehen wir uns deshalb an, wie Sie es anstellen, derart lebendige Figuren zu erfinden.
Es gibt Meister-Techniken, mit deren Hilfe Sie vermeiden, unrealistische, fehlerlose Götter zu erschaffen. Es geht darum, echte Menschen mit all ihren Stärken und Schwächen zu kreieren, denn Menschen sind nicht perfekt. Und die Figuren in Ihrem Roman dürfen das auch nicht sein, sonst berühren Sie den Leser nicht tief in seinem Inneren. Eine Romanfigur, die in einem Bereich perfekt ist, sollte in einem anderen unvollkommen sein. So könnte der clevere Detektiv auf der anderen Seite spielsüchtig sein. Sehen wir uns nun an, wie Sie derartige Figuren erschaffen.
Die Bedeutung der Figur im Allgemeinen
Wie bereits erwähnt: Keinem anderen Teil Ihres Werkes kommt so viel Bedeutung zu wie dem Charakter, der Figur. Wenn es dem Schriftsteller nicht gelingt, einen lebendigen, lebensechten Charakter zu entwerfen, mit dem sich der Leser identifiziert, mit dem er lacht, weint, Angst hat und leidet, dann wird sein Roman kaum auf Platz 1 der Bestsellerlisten stehen. Kurz gesagt: Es muss Ihnen gelingen, eine Figur zu zeichnen, die den Leser restlos in ihren Bann zieht. Und das von der ersten Seite Ihres Werkes an.
Wie erschaffe ich unsterbliche Figuren? Was ist das Geheimnis unvergesslicher Helden? Es gibt Techniken, um Charaktere zu zeichnen, die der Leser in sein Herz schließt, die ihn regelrecht vereinnahmen? Autoren bedienen sich ganz bestimmter Arbeitstechniken, die einzigartige Figuren entstehen lassen. Wir reden von speziellen Insider-Methoden, die Sie umgehend in die Lage versetzen, Romanhelden zu erfinden, die der Leser ein Leben lang nicht mehr vergessen wird. Bevor wir uns dieses Know-how aneignen, machen wir jedoch ein interessantes Experiment. Und zwar mit Ihnen:
Denken Sie jetzt bitte an einen Roman, der Sie restlos fasziniert hat, an ein Buch, von dem Sie gewollt haben, es würde niemals enden. Und nun fragen Sie sich: Erinnere ich mich an eine Figur aus dieser Geschichte? Oder ist es die Handlung, die mir im Gedächtnis haften geblieben ist?
Machen Sie das Gleiche nun mit einem Film, der Sie stark aufgewühlt hat. Erinnern Sie sich an eine Person oder an die Handlung?
In beiden Fällen wird es die Figur sein, an die Sie sich vordergründig erinnern, der Held, der Protagonist. Uns bleiben fast immer die Personen stärker im Gedächtnis als die Handlung, die Geschichte, weil es die Figuren sind, welche durch ihr Handeln die Story machen. Figuren sind, was sie tun. Charakter drückt sich durch Aktion aus, nicht durch Behaupten. Wenn Sie Ihre Figuren mit Leben erfüllen, entsteht aus dem, was sie tun, die Handlung Ihrer Story. Halten wir also fest:
Der Leser interessiert sich zuerst für die Hauptpersonen. Sie sind es, woran er sich in erster Linie erinnert.
Sie erahnen also, wie wichtig es ist, großes Augenmerk auf die Figuren zu legen. So weit, so gut. Ehe wir uns nun den Erfolgs-Formeln der Weltbestseller-Autoren zuwenden und ich Ihnen zusätzlich ein paar geheime Profi-Tricks nenne, um unsterbliche Helden zu kreieren, müssen wir jedoch zum klaren Verständnis der Figurenmaterie ein paar Begriffe klären.
Figuren-Typen und deren spezifische Tragweite
Im wirklichen Leben werden wir alle von Selbstzweifeln geplagt. Deshalb wünschen wir uns auch in der Literatur Figuren, die sich irren, die Fehler begehen und sich ab und zu schwach fühlen. Wir hören immer wieder von Hauptfiguren und Nebenfiguren und dergleichen. Sind mit Figuren nur Menschen gemeint? Derartige Fragen sollten klar beantwortet werden, ehe Sie mit dem Erschaffen Ihrer Helden beginnen. Sehen wir uns deshalb die verschiedenen Typen von Figuren an, mit denen Sie als Schriftsteller arbeiten:
1. Die Figur als Oberbegriff
Mit Figur bezeichnen wir in erster Linie Personen in einem literarischen Werk, aber auch andere handelnde Helden wie Tiere und Gegenstände. Denken Sie nur an Kindergeschichten.
2. Die Hauptfigur (auch Held, Protagonist genannt)
Die Hauptfigur ist jene Figur, die entscheidet, was getan wird. Der Held hat das letzte Wort, er steht im Mittelpunkt des Geschehens, ist aktiv, er überrascht und ist glaubwürdig. Ihr Held darf niemals vorhersehbar reagieren, dann ist er für den Leser langweilig. Wir sind es gewöhnt, die Welt um uns herum aus einem ganz bestimmten Blickwinkel (unserem ›Ich‹) heraus zu betrachten. In einer Geschichte benötigen wir eine Figur, die uns mit der Welt der Story verbindet – die Hauptfigur. Die Hauptfigur unterscheidet sich von allen anderen Figuren in zwei wesentlichen Punkten:
1: Wir erzählen die Geschichte aus Sicht der Hauptfigur, sehen die Story durch ihre Augen.
2: Die Hauptfigur ist jene Figur, durch deren Tun die Handlung entsteht. Zum Beispiel ›Raumschiff Enterprise‹: Es gibt mehrere wichtige Figuren – Mr. Spock, den Ingenieur Scotty, den Arzt ›Pille‹ McCoy – aber die Hauptfigur ist eindeutig Captain James T. Kirk. Er entscheidet letztendlich, was getan wird. Oder betrachten wir die Personenstruktur im Thriller ›Die Wahrheit über Derek Foster‹: Dereks Freundin Saskia ist zweifellos eine präsente, eingenständig handelnde Figur. Ebenso Dereks Gegenspieler Kenneth Kowalski. Und doch ist es Derek, der die Handlung durch seine Entscheidungen vorantreibt. Er entscheidet aktiv, alle anderen reagieren auf seine Entscheidungen. Derek ist klar die Hauptfigur.
Der Held ist der Motor Ihrer Geschichte. Durch sein Handeln passiert, was passiert. Keine Figur hat stärkeren Einfluss auf die Geschichte als die Hauptfigur, der Held.
Der Held handelt. Er ist aktiv.
Achten Sie penibel darauf, dass Ihr Held immer agiert und nicht wie ein Spielball auf das Tun und Sagen der Nebenfiguren reagiert. Dann hätten Sie einen farblosen Helden, den der Leser als schwach empfindet und mit dem er sich nicht identifiziert.
Es kann mehrere ›wichtige‹ Figuren geben (siehe Beispiel ›Raumschiff Enterprise‹, ›Die Wahrheit über Derek Foster‹), aber nur eine Hauptfigur. Auf einen Begriff werden Sie beim Schreiben immer wieder stoßen: der Protagonist (griech. protagonistes = Wortführer, im altgriechischen Theater, erster Schauspieler). Der Protagonist ist schlicht Ihr Held, der aktiv handelt. Werden Sie sich klar darüber, wessen Geschichte Sie erzählen. Manchmal drängen sich mehrere Figuren auf, die sich als Held anbieten. Immer aber eignet sich nur eine ganz bestimmte Figur am besten als Held – jene, die im direkten Gegensatz, im Wettstreit zum Gegner steht.
Insider-Trick: Wenn Sie sich nicht sicher sind, welche Figur die Hauptfigur ist, dann schreiben Sie für jede infrage kommende Figur eine Zusammenfassung der Geschichte - nur zwei oder drei Seiten lang. Das hilft Ihnen zu erkennen, welche der Figuren im Vordergrund steht, wer sich als Hauptfigur am besten eignet. Es wird jene Figur sein, welche die Handlung am stärksten vorantreibt und beeinflusst.
Es ist äußerst wichtig, dass der Leser von Beginn an deutlich erkennt, wer der Held, die Schlüsselfigur, ist. Nur so ist eine klare Identifikation des Lesers mit dem Helden möglich, nur so kann sich der Leser auf die Seite des Helden schlagen, sich mit ihm emotional verbünden und an seiner Seite mitstreiten. Der Leser muss den Charakter, das einzigartige Wesen, des Helden möglichst genau kennenlernen, um an seinem Schicksal emotional Anteil zu nehmen. Dazu sind ein klares Ziel und eine starke Motivation nötig. Bestimmen und zeigen Sie dem Leser so früh wie möglich, wer die Hauptfigur ist. So ermöglichen Sie dem Leser schnelle Identifikation.
Wie machen Sie das?
Indem Sie die Geschichte vor allem zu Beginn vom Standpunkt des Helden aus schildern. Der Leser sieht, was der Held sieht, beide erhalten dieselben Informationen. Hat sich der Leser mit dem Helden identifiziert, kann er Dinge erfahren, von denen die Hauptfigur nichts weiß.
Insider-Tipp: Sie erleichtern dem Leser die Identifikation, indem Sie den Helden, wenn er zum ersten Mal auftritt, in einer Situation zeigen, die dazu einlädt, sich mit ihm zu verbünden. Zum Beispiel könnte der Held an einen Tatort zu Hilfe eilen und von der Polizei unverschuldet als verdächtiger Mörder festgenommen werden. Es ist das Wechselbad der Gefühle, das Leser und Helden zu einem unzertrennlichen ›Team‹ verschmelzen lässt. Sehen wir uns ein Beispiel an:
Ich beging meinen Geburtstag mit einer kleinen, sehr exklusiven, sehr festlichen und fröhlichen Party in der Fifth Street, genauso, wie ich es haben wollte.
Als besondere Überraschung war Damon aus dem Internat in Massachusetts nach Hause gekommen. Nana hatte die Verantwortung für die Feierlichkeiten übernommen und war allgegenwärtig, genau wie meine beiden Babys Jannie und Ali. Sampson und seine Familie waren da und natürlich auch Bree …
… Ich hielt sogar eine kleine Rede, die ich zum größten Teil sofort wieder vergessen habe, abgesehen von den einleitenden Worten. »Ich, Alex Cross«, fing ich an, …
… Das Telefon im Flur klingelte. Das war der Festnetzanschluss. Bei der Arbeit wussten alle, dass sie mich nur auf dem Handy anrufen sollten. Außerdem hatte ich noch einen Pager auf die Kommode gelegt, wo ich ihn auf jeden Fall hören konnte. Also konnte ich ohne allzu großes Risiko den Hörer abnehmen. Vielleicht war es ja sogar eine wohlmeinende Seele, die mir alles Gute zum Geburtstag wünschen wollte, oder im schlimmsten Fall irgendjemand, der mir eine Satellitenschüssel andrehen wollte.
Ob ich es jemals begreifen werde? In diesem Leben wahrscheinlich nicht mehr.
»Alex, hier Davies. Tut mir leid, dass ich Sie zu Hause belästigen muss.« Ramon Davies war Superintendant bei der Metropolitan Police und gleichzeitig mein Chef.
›Heute ist mein Geburtstag. Wer ist denn das Todesopfer?‹, sagte ich. Ich war verärgert, hauptsächlich über mich selbst, weil ich überhaupt ans Telefon gegangen war.
»Caroline Cross«, sagte er, und mir wäre beinahe das Herz stehen geblieben. …
Insider-Tipp: Schreiben Sie eine Geschichte, in welcher der Held am Ende verliert, sein Ziel nicht erreicht und am inneren und äußeren Konflikt zerbricht, dann haben Sie einen tragischen Helden erschaffen. Sorgen Sie in diesem Fall dafür, dass sich der Leser am Ende der Story vom Helden, mit dem er leiden musste, lösen kann. Das machen Sie, indem Sie gegen Ende der Geschichte langsam beginnen, das Geschehen aus der Sicht einer anderen Figur zu schildern. Auf diese Weise geben Sie Ihrem Leser die Möglichkeit, zum Helden auf Distanz zu gehen und nicht mit ihm untergehen zu müssen. Letzteres wirkt für den Leser unbefriedigend, denn er kann der ausweglosen Situation des Untergangs nicht entkommen.
3. Der Gegenspieler
Der Gegner wird auch Antagonist, Antiheld, Widersacher genannt. Der Gegner des Helden ist jene Figur, die dem Helden in die Quere kommt (griech. anti = gegen). Bei der gegnerischen Kraft muss es sich nicht immer um eine Person handeln. Auch eine Naturgewalt (Orkan, Tsunami, Erdbeben), politische Verhältnisse, gesellschaftliche Spannungen oder ein negativer Wesenszug des Helden können Kräfte sein, die dem Helden das Leben schwer machen. Sie bekommen Ihre Geschichte aber leichter in den Griff, wenn Sie den Gegenspieler personifizieren.
Stellen Sie Ihrem Helden mehrere Gegner gegenüber, dann müssen Sie von Beginn weg klar darstellen, wer der Hauptgegenspieler ist, ansonsten reagiert der Leser verwirrt. Der Hauptgegner sollte bis zum Schluss der Geschichte, bis zur großen Entscheidung, im Spiel bleiben. Fehlt der Gegner im entscheidenden ›Schlusskampf‹, ist der Leser unbefriedigt. Wir erwarten nichts mehr, als dass der Bösewicht am Ende auch seine verdiente Strafe erhält. Auch bei der Entwicklung des Gegenspielers müssen Sie sich als Schriftsteller fragen:
a) Wer ist der Gegner des Helden?
b) Welches Ziel verfolgt er (in der Regel ein gegenteiliges zum Helden)?
c) Was ist seine Motivation (emotional und materiell)?
Sowohl beim Helden als auch beim Gegenspieler sollte die Motivation, der Grund, weshalb sie ihre Ziele erreichen müssen, gefühlsmäßig begründet sein.
Machen Sie sich zudem bewusst, dass der Held nur so stark ist wie sein Gegenspieler. Diese beiden Figuren puschen sich gegenseitig zu Höchstleistungen auf. Schildern Sie beide Figuren immer als menschliche, lebendige Wesen. Zeigen Sie also auch deren Gefühle, Hoffnungen, Ängste und Verletzlichkeit. Tun Sie das nicht, erschaffen Sie unrealistische Engel und Teufel. - Personen, mit denen sich der Leser schwer identifizieren kann.
4. Der Charakter
Mit Charakter bezeichnen wir einen Menschen samt seinen einzigartigen Eigenschaften, die ihn unverwechselbar machen (griech. character, urspr. ›das Eingeprägte‹, dann ›Eigenart, Gepräge‹). Dies trifft natürlich auch auf Tiere und Gegenstände zu (zum Beispiel in der Fabel). Verstehen Sie Charakter als eine Einheit von Figur und deren Charakterzügen. Es ist die Gesamtheit von Körperlichkeit und Seele, die die Wesensart einer Figur ausmacht.
Der Leser beurteilt den Charakter einer Figur ausschließlich aufgrund ihrer Taten, Handlungen. Eine Figur ist, was sie tut, nicht, was sie sagt! Tut eine Figur etwas anderes, als sie sagt, dann hält sich der Leser immer an das, was getan wird. Zu Beginn Ihrer Geschichte sind die Figuren mehr oder weniger leblose Namen. Doch je besser wir sie kennenlernen im Verlauf der Geschichte - durch das, was sie tun -, desto mehr verwandeln Sie die bloßen Figuren für den Leser in einzigartige, unverwechselbare Originale.
Insider-Tipp: Fragen Sie sich immer: Habe ich meine Figur so einzigartig gezeichnet, dass der Leser sie in einer Gruppe von 20 Personen sofort eindeutig erkennen würde? So sollte es sein. Welche Techniken die Profis anwenden, um das zu erreichen, das zeige ich Ihnen gleich.
5. Die Nebenfigur
Die Nebenfiguren erfüllen bestimmte Eigenschaften:
Sie veranschaulichen die Rolle des Helden und seine Bedeutung.
Sie vermitteln das Thema der Geschichte.
Sie treiben die Geschichte voran, indem sie den Helden zum Handeln motivieren.
Haben Sie zum Beispiel eine Figur, die durch ihre Arbeit charakterisiert wird – angenommen, einen Kellner –, dann müssen Sie um diesen Kellner herum Figuren erfinden, die helfen, ihn als Kellner darzustellen. Das könnten Besucher in seinem Restaurant sein. Um eine liebende Mutter zu zeigen, müssen Sie die Mutterfigur mit Kindern umgeben. Ein berühmter Dirigent hat Musiker und ein Orchester um sich.
Aus: Martin Selle, DARK NIGHT, Thriller
»Warum muss es ausgerechnet die Dark Night sein?«, fragte Doreen Perry. »Am gewöhnlichen Camp teilzunehmen reicht doch auch.«
»Nein, Mam«, sagte Ron. »Ich hab es satt, im Internat der Feigling zu sein. Hab ich die Dark Night in der Tasche, ist das ein für alle Mal vorbei.«
»Also ich hab kein gutes Gefühl bei der ganzen Sache«, seufzte Doreen Perry. »Die Legende -«
»Ist doch nur eine erfundene Schauergeschichte«, unterbrach John sie. …
… »Ron«, sagte seine Mutter in besorgtem Flüsterton. »Ron hör mir zu.«
Er wandte sich ab und tat so, als band er seinen Rucksack wieder zu.
»Es ist noch nicht zu spät. Du kannst wieder ins Auto steigen und mit uns zurückfahren.«
»Nein, Mam, das kann ich nicht«, erwiderte er. »Dann haben sie ihren Hosenscheißer.«
Rons Mutter gab nicht auf. In dem ängstlichen Flüsterton, den er so hasste, redete sie weiter auf ihn ein. »Deine Freunde würden das verstehen, das weiß ich. Sie würden sicher –«
»Ich habe keine Freunde, Mam! Deshalb bin ich hier!« Ron sah, wie seine Mutter zusammenzuckte. »Du weißt doch, wie die sind.«
Doreen Perry seufzte. Ihr Unbehagen stieg. »Du änderst deine Meinung also nicht?«
Ron schwang sich den Rucksack auf den Rücken. …
In dieser Szene erleben wir Doreen Perry als besorgte Mutter, gleichzeitig drängt ihre Sorge Ron zum Handeln. Ihr Sohn, die Hauptfigur entscheidet letztlich. Doreen, die Nebenfigur, vermittelt das Thema der Geschichte. Es geht um Mut statt Feigheit, um Rons Drang nach Selbstvertrauen und Anerkennung. Ohne Doreen könnte das in dieser Szene nicht ausgedrückt werden.
Insider-Tipp: Um zu vermeiden, dass Sie der Geschichte Figuren hinzufügen, die Sie nicht benötigen, stellen Sie sich folgende Frage: Wen, außer meinem Helden und seinem Gegenspieler, benötige ich, um die Geschichte zu erzählen? Auf diese Weise vermeiden Sie es, Ihre Geschichte mit Personen zu überladen und so unübersichtlich zu machen. Die Geschichte entscheidet, wie viele Nebenfiguren Sie benötigen. Manche Nebenfiguren benötigen Sie jedoch, sonst wird der Charakter Ihres Helden nicht sichtbar. Diese Nebenfiguren tauchen meist im Alltag des Helden auf (der Kellner im Restaurant, der Automechaniker in der Werkstatt).
Nebenfiguren versetzen Sie als Autor in die Lage, das Thema darzulegen, ohne redselig zu wirken. Themen, die Nebenfiguren vermitteln könnten, sind: Angst, Ruhm, Liebe, Unterdrückung, Macht, Reichtum, Erfolg, Tyrannei. Es gibt unzählige Bedürfnisse, die Sie durch Nebenfiguren ausdrücken können. Zum Beispiel in einem Dialog. Nebenfiguren brauchen Erkennungszeichen, die es dem Leser ermöglichen, sich leicht an sie zu erinnern. Nebenfiguren tragen Namen und werden nur ›leicht‹ charakterisiert im Vergleich zu den Hauptfiguren. Da reicht eine körperliche Auffälligkeit, ein kleiner typischer Wesenszug (Doreens Ängstlichkeit als Mutter) oder ein auffälliges Kleidungsstück, eine Sprecheigentümlichkeit oder ein Tick wie Augenzwinkern. Seien Sie konkret, aber ziehen Sie nichts an den Haaren herbei.
6. Die Symbolfigur
Von einer Symbolfigur sprechen wir, wenn diese eine einzige Eigenschaft darstellt beziehungsweise verkörpert: zum Beispiel Liebe, Macht, Hass. Solche Figuren benötigen Sie in Fantasy-Geschichten und in Märchen mit Superhelden wie Batman. Symbolische Figuren werden durch einen einzigen Charakterzug definiert. Ein gutes Beispiel ist hier die Götterwelt der Römer und Griechen: Venus, Göttin der Liebe, Hades, Gott der Unterwelt. Mit ›Venus‹ ist alles definiert, was zu Liebe gehört – Sexualität, Erotik, Freude, Leichtigkeit, Sympathie, Zuneigung, Erregung. Eben alles, was mit Liebe zu tun hat.
7. Die nichtmenschlichen Figuren
Nichtmenschliche Figuren kommen nicht nur in Kindergeschichten vor (Lassie, Biene Maja, Bambi, Balu …). Diese Figuren sind einfach Tiere, Roboter, Monster mit menschlichen Eigenschaften. Sie sollen uns meist an Menschen erinnern. Stellen Sie beim Erschaffen von solchen Figuren zuerst die menschlichen Seiten in den Vordergrund (die Biene Maja ist neugierig und unverdorben wie ein Kind).
Im Vergleich zu menschlichen Figuren sind nichtmenschliche in Kategorien einzuordnen. Menschliche Figuren besitzen das Potenzial, sich zu verändern, nichtmenschliche Figuren besitzen unveränderliche Charakterzüge (die Biene Maja wird immer neugierig und unverdorben bleiben, egal, welch schlimme Erfahrungen sie auch macht).
Ihr Leser verbindet mit der nichtmenschlichen Figur ganz bestimmte Eigenschaften. Durch die gedankliche Verbindung von Biene Maja mit den Eigenschaften Neugier und Unverdorbenheit verstärkt sich das Gefühl der Gleichheit zwischen Leser und nichtmenschlicher Figur. Anders gesagt: Hält der Leser sich selbst für neugierig und unverdorben, dann identifiziert er sich mit der Biene Maja, er wird ein ›Fan‹ der Figur. Indem der Leser Eigenschaften gedanklich mit Figuren verbindet (assoziiert), erhalten diese nichtmenschlichen Figuren ihre Persönlichkeit. Die Figur verkörpert bestimmte Gefühle, die im Leser lebendig werden.
8. Die Fantasy-Figur
Zwerge, Zauberer, Riesen, Gnome, Kobolde, Wassermänner, Hexen bevölkern eine fremde, magische und sagenhafte Welt. Solche Figuren verfügen nur über eine begrenzte Anzahl von Eigenschaften. Sie charakterisieren sich meist durch die Technik der Übertreibung von körperlichen Merkmalen, werden so unterscheidbar gemacht. Entweder sind sie riesengroß, blitzschnell oder können zaubern. Andere sind außergewöhnlich stark, listig, böse. Über die meisten Fantasy-Figuren erfährt der Leser nur ein paar Dinge, das Unbekannte regt so seine Fantasie an (in einer Höhle lebt ein Drache, den alle Menschen im Tal fürchten; hoch über den Bergspitzen, in der Wolkenstadt, lebt ein den Menschen unbekanntes Volk - Martin Selle, Kinderbuch ›Der letzte Drachenkrieger‹ ISBN 978-3-7074-1341-0). Indem der Leser nicht alles über die Fantasy-Figur weiß, stellt er sich seine ganz persönliche Figur vor und nicht jene, die Sie ihm als Autor vorgeben. Sie aktivieren die Fantasie des Lesers.
Insider-Tipp: Belassen Sie Ihre Fantasy-Figuren immer in deren magischer Welt. Tauchen plötzlich reale Menschen darin auf, zerstört das die Stimmung dieser märchenhaften Traumwelt, weil reale Menschen den Leser daran erinnern, dass er sich in einer Fantasy-Welt befindet. Da der Leser weiß, dass er sich in der Welt der Sagen, Märchen und Mythen befindet, akzeptiert er Dinge, die er in unserer wirklichen Welt als übertrieben oder unrealistisch ablehnen würde.
Wenn wir also von Figur, Person, Charakter sprechen, so meinen wir damit immer jemanden, der durch sein Handeln die Geschichte vorwärtstreibt. Am stärksten geschieht das natürlich durch den Helden. Es ist keine Hexerei, solche Bestsellerhelden mittels Meister-Techniken der Bestseller-Autoren zu erschaffen.
Zuvor aber noch ein äußerst wichtiger Aspekt: Helden kommen in jeder Geschichte vor, egal ob Sie Ihre Story in Form eines Romans, eines Drehbuchs oder eines Theaterstücks erzählen. Das Entscheidende bei der Sache ist, dass Sie Ihre Figuren, vor allem den Helden und seinen Gegenspieler, so unverwechselbar und einzigartig gestalten, dass der Leser sie sich leicht einprägen kann.
Nun aber genug der trockenen aber nötigen Definitionen. Sehen wir uns an, mit welchen Mitteln Sie es praktisch bewerkstelligen, unsterbliche Figuren zu entwickeln, die der Leser für alle Zeiten in seinem Gedächtnis mit sich herumtragen wird.
Ich betone es noch mal, man kann nicht oft genug darauf hinweisen: Ohne einen Helden, der Ihre Leser vom Hocker haut, ohne eine unverwechselbare, lebendige Hauptfigur werden Sie als Schriftsteller Schiffbruch erleiden. Leser wünschen sich nichts sehnlicher, als so zu sein wie ›ihr‹ Held, dessen Geschichte sie soeben lesen und erleben. Der Leser möchte sich mit Figuren gefühlsmäßig verbünden, an ihrem Schicksal teilnehmen und wissen, was mit ihnen passiert. Das liegt in der Natur von uns Menschen begründet.
Wenn es Ihnen gelingt, einen Helden zu zeichnen, von dem sich der Leser sagt ›So möchte ich auch einmal sein‹, dann haben Sie gewonnen! Es ist wie mit der Liebe: Wir treffen eine uns fremde Person zum ersten Mal, begegnen einem Menschen, von dem wir nichts wissen. Dann erfahren wir mehr und mehr über diese einzigartige Person und – oft wissen wir nicht wirklich, warum – verlieben wir uns in sie. Wir denken Tag und Nacht an diesen Menschen, wollen wissen, was er gerade tut, wo er ist, vermissen ihn. Es ist eine Sache der Gefühle. Ihr Held muss das Herz Ihrer Leser berühren und gewinnen, dann verliebt sich der Leser in ihn und kann das Buch nicht mehr zur Seite legen, ehe er weiß, wie die Geschichte mit ihm ausgeht.
Merken wir uns:
Der Leser möchte am Leben einer Figur intensiv (gefühlsmäßig) teilhaben, sich in den Helden hineinversetzen.
Wie berühren wir als Schriftsteller nun die Gefühle unserer Leser? Die Zauberformel heißt:
Kennenlernen.
Nur wenn wir die handelnden Personen in unserer Geschichte kennen, mit ihnen vertraut sind, wissen, wer sie sind, dringt das Geschehen in einem Roman bis in unser Herz vor und spricht unsere Gefühle an. Das ist auch logisch. Warum sollte es Sie interessieren, wenn einer Person, die Sie überhaupt nicht kennen, etwas Schlimmes zustößt? Gut, ihr ist etwas Schlimmes passiert. Aber das war es dann auch schon. Die Zeitungen sind voll von solchen Geschehnissen. Ihre Gefühle berührt das nicht wirklich tief.
Nichts ist also derart wichtig, um einen Bestseller zu landen, wie ihr Held. Überprüfen wir diese Aussage anhand eines zweiten Experiments mit Ihnen. Lesen Sie sich den folgenden Satz bitte in Ruhe durch und lassen Sie ihn auf sich wirken:
Einer der Reisenden, Michael, kämpft seit dem Unfall ums Überleben.
Wie haben Sie auf den Satz reagiert? Vermutlich mit so etwas Ähnlichem wie ›Na und?‹. Ihre Anteilnahme an Michaels Schicksal hält sich in Grenzen, weil Sie Michael nicht kennen. Wie sieht es aber mit dem gleichen Sachverhalt aus, wenn der Satz so lautet:
Einer der Reisenden, Michael Jackson, kämpft seit dem Unfall ums Überleben.
Bitte verzeihen Sie mir, der King of Pop ist mittlerweile wirklich verstorben, dennoch lasse ich das Beispiel zu Übungszwecken im Text. Michael Jackson, egal, wie man zu seiner Musik und Person steht, war zweifelsfrei ein Mensch, der Millionen Herzen erreicht hat. Mit einem Schlag nehmen Sie an dem Ereignis intensiver Anteil, der Vorfall hat eine Bedeutung bekommen. Warum? Weil jeder, der Michael Jackson kennt, sich ein Bild von der Figur machen kann. Je näher uns eine Person steht, je besser wir sie kennen, umso tiefer nehmen wir an ihrem Schicksal Anteil! Den oben benannten Unfall gab es natürlich nie. Wir haben den Namen nur in unserer Vorstellung ausgeliehen, um zu veranschaulichen. Und zweifelsohne hat der Tod der Popikone in vielen Menschen tiefe Trauer ausgelöst – Anteil an diesem tragischen Schicksal.
Merken wir uns:
Je besser der Leser eine Figur kennt, umso intensiver nimmt er an ihrem Schicksal und somit am Romangeschehen teil.
Es sind immer die handelnden Figuren, die an erster Stelle stehen. Hier einige Beispiele:
Ohne James Bond würde es die Abenteuer von 007 nicht geben.
Stellen Sie sich Richard Wagners Lohengrin ohne die Figur des Gralsritters Lohengrin vor. Unmöglich!
Was wäre Herman Melvilles Moby Dick ohne Kapitän Ahab?
Gäbe es Karl Mays Winnetou ohne die Figur dieses Apachenhäuptlings?
Was wäre Shakespeares King Lear ohne King Lear? Undenkbar.
Manche Werke tragen sogar den Namen der Helden: Romeo und Julia, Goethes Faust.
Was bliebe von Pippi Langstrumpf übrig ohne Pippi?
Oder was wäre Die Wahrheit über Derek Foster ohne Derek?
Dark Night, undenkbar ohne Ron Perry
Ohne Miss Marple gäbe es eine Reihe von Agatha Christies Kriminalromanen nicht.
Das Geschehen in Ihrer Geschichte soll die Gefühle der Leser ansprechen. Das erreichen Sie, indem der Leser die Figuren kennt, indem Sie für ihn unvergessliche Helden erschaffen. Und für diesen Schaffensprozess stehen Ihnen als Schriftsteller eine Menge hervorragender und zugleich verblüffender Techniken zur Verfügung, mit denen wir uns gleich eingehend befassen werden.
Ich denke, die genannten Argumente reichen aus, um die Wichtigkeit lebensechter, dreidimensionaler Figuren herauszustreichen. Wie stellen Sie es nun an, Figuren zu entwickeln, die in der Oberliga der bekanntesten Helden mitspielen?