Читать книгу Losers' Ball - Martin Selm - Страница 6
Kapitel 3
ОглавлениеSie stand vor ihrer alten Vespa und verstaute die CDs in dem kleinen Handschuhfach. Sie hatte, nachdem sie den Motorradführerschein gemacht hatte, bald festgestellt, dass Motorräder grobe, schwer zu rangierende Klötze sind. Sicherlich hätte sie sich eine kleine 125er Maschine kaufen können, aber damit wäre sie sich wie ein 16 jähriger Teenager vorgekommen, der mit seinem ersten Anflug von Bart in der Gegend herum prollt.
Nach einigem Suchen hatte sie eine Vespa PX 200 erstanden. Ein Roller, mit der klassischen Vespa Form, komplett aus Metall, mit Kickstarter und viergang Handschaltung. Sie liebte das Teil innig und war innerhalb kürzester Zeit in der Lage nahezu alles daran zu reparieren. Simple Technik. Simpel, aber verlässlich. Die hässliche Originallackierung hatte sie eigenhändig in der Garage des neuen Freundes ihrer Mutter schwarz überlackiert, wobei sie Die Seitenbacken gelb gesprüht hatte. Nachdem sie mit ihren Lacken, ihrer Sprühpistole und ihrem Kompressor abgerückt war – und eine unfassbare Sauerei hinterlassen hatte, hatte sich der Kontakt zu ihrer Mutter auf das wesentlichste beschränkt. Dabei war es dann auch geblieben. Ihr war das nur recht, ihre Mutter zog es vor, mit Managertypen ins Bett zu gehen. Der Typ, dessen Garage sie verunstaltet hatte, war seit etwa drei Jahren der Aktuelle. Länger hatte es bisher keiner mit ihr ausgehalten. Mit Ausnahme ihres Vaters, aber der war ja schon lange Tot.
Ihre Mutter war das typische durchgestylte, durchtriebene, geldgeile Produkt aus oberflächlichen Dinner-parties, Brunches, Golfplätzen, Porschehändlern und all dem anderen Upper Class Mist. Ganz früher musste sie mal anders gewesen sein. In den letzten Jahren hatte sie sich jedoch in einen Menschen verwandelt, der ihr derart Fremd war, dass sie sich kaum über sie ärgern konnte, da sie ihr ohnehin bereits weit entrückt war. Das Einzige, was sie gemeinsam hatten, war ein hübsches Gesicht, in deren Zentrum zwei magische, grüne Augen thronten. Das war es auch, was ihre Mutter in solche Kreise geführt hatte. Sie war Mitte vierzig, hatte jung geheiratet, da sie mit 19 bereits schwanger war. Sie sah für ihr Alter immer noch äußerst gut aus, man würde sie wohl eher auf Mitte dreißig schätzen, wobei Marie keinesfalls entgangen war, dass sie sich mindestens ihre Brüste hatte machen lassen.
Marie war es egal, dass es ihre Mutter mit hirnlosen Managertypen trieb. Vielleicht war ihr derzeitiger Lebensgefährte ja sogar ein netter Mensch, sie war an ihm jedoch nicht im geringsten interessiert. Typen wie er hatten, gemeinsam mit ihrer Mutter, ihren Vater kaputt gemacht. Das wusste sie damals schon, obwohl sie gerade erst 12 gewesen war. Sie war nun mal alleine auf der Welt, aber das war für sie kein Problem. So sah sie es zumindest. Je weniger Menschen man ins Vertrauen zieht, desto weniger Enttäuschungen hat man anschließend zu verarbeiten.
Der Nachteil an alten Vespas ist der, dass man, verglichen mit modernen Rollern, kaum Stauraum zur Verfügung hat. Dementsprechend legte sie ihren Helm immer einfach auf das Fußtrittblech. Ein Fach für den Helm, unter der Sitzbank, wie es diese modernen Plastikbomber haben, hatte sie nicht. Das war sonst kaum ein Problem, doch der Helm war heruntergefallen und verkehrt herum liegen geblieben. Es war ein Jethelm, schwarz, mit gelben Sternen, passend zu der Farbe der Seitenbacken. Da es leicht geregnet hatte, war der Helm unangenehm feucht, als sie ihn aufsetzte. Er würde mit Sicherheit anfangen zu müffeln.
Nach dem zweiten Tritt sprang der Zweitakter an und sie raste davon. Natürlich hatte sie entsprechende Tuningmaßnahmen ergriffen, Beschleunigung war ein entscheidender Faktor, wenn sie wutentbrannten BMW Fahrern davonfahren musste, nachdem sie sie geschnitten hatte. Ihre Wohnung lag in einer Gegend, in der hauptsächlich ältere Menschen lebten. Sie war dort nahezu jedem, zumindest vom Sehen her, bekannt. Irgendwie mochte sie all die alten, obwohl viele von ihnen extrem verbohrte Spießer waren. Es war ihr lieber, jemand hatte sich sein Leben lang an Ruhezeiten gehalten, Moral und Anstand gepredigt und wenn er zu viel getrunken hatte, aus seiner latenten Ausländerfeindlichkeit keinen Hehl mehr gemacht, als wenn vierzig- oder fünfzigjährige Typen sich ständig den aktuellsten, hipsten Technologien und Trends hingaben. Ihr war das zuwider. Natürlich waren ihr die Spießer auch zuwider, aber die ließen sich wenigstens leicht einschätzen. Von ihnen wusste man immer, was man zu erwarten hatte. Man konnte sich Perfekt auf sie einstellen.
Was diese Alten von ihr dachten war ihr ziemlich egal, sie konnten jedoch keine allzu gute Meinung über sie haben. Als sie einmal einen schwarzen Typen mit genommen hatte, konnte sie den Hass und die Verachtung regelrecht spüren, so greifbar war all das. Das witzige an diesen Typen war nur, dass, sofern man sie freundlich grüßte, sie mit derselben Freundlichkeit zurück grüßten. Man konnte ihre Heuchelei nur am Rande wahrnehmen. So waren sie eben sozialisiert. Auf ihre Doppelmoral war stets Verlass. Sie war sich der Tatsache bewusst, dass sie ihnen eigentlich ein Dorn im Auge war, aber sie hatte die Alten und ihr Leben durchschaut. Im Prinzip war sie der Faktor, der alle bei Laune hielt, der alle zusammen hielt. Dadurch, dass sie ihnen immer wieder Anlässe gab sich über sie auszulassen, schuf sie so etwas wie die einzige Form der Unterhaltung, die diesen Leuten geblieben war. Sie war der Blitzableiter, Projektionsfläche für all ihre Unzufriedenheit und der lebende Beweis dafür, dass früher alles besser war. Es gab ihr ein gutes Gefühl dadurch ein wichtiger Teil dieser Gemeinschaft zu sein.
Sie parkte die Vespa unter dem Kastanienbaum, der vor der Haustür stand, schnappte sich die CDs und betrat das Haus. Ihre Wohnung befand sich auf der Rückseite des Hauses, wie die Wohnung, des Typen, dessen CDs sie gerade in ihrem Helm trug. Sie wohnte hier bereits seit vier Jahren und der Vorteil, den diese Wohnung hatte, war der, dass sowohl Die Frau, die unter ihr wohnte, als auch der Mann, der über ihr wohnte, schwerhörig war. Sie liebte es laut Musik zu hören und durch diese Beeinträchtigung ihrer Nachbarn war dies ohne weiteres möglich. Sie legte 'Cosmo's Factory' auf, das Album von Creedence, mit dem für sie interessantesten Cover. Auf ihrem Bett liegend musste sie erstmals darüber nachdenken, was sie eigentlich dazu getrieben hatte ihn aufzusuchen. So etwas hatte sie noch nie gemacht. Robert hatte braune Augen, rehbraun. Er war etwa einen Kopf größer als sie, musste demnach so um die 1,80 sein. Er hatte ihr allerlei Quatsch erzählt, davon wie er sich 'diesem scheiß System entziehen würde' und solche Sachen. Eigentlich hatte es keinen Grund dafür gegeben ihn mitzunehmen. Er war ziemlich Betrunken gewesen, jedoch hatte er sich dafür noch verdammt gut im Griff gehabt. Man konnte sehen, dass er scheinbar geübt darin war, noch total Betrunken in Clubs reinzukommen. Auch an der Bar, wenn er sich ein weiteres Bier bestellt hatte, verhielt er sich, als hätte er nur Cola getrunken. Es waren Kleinigkeiten, die verrieten, wie fertig dieser Junge eigentlich schon war und dass er alles andere als ein weiteres Bier brauchen würde. Er hatte seine Ellbogen auf die Bar gestützt, während er wartete, bis der Barkeeper seine Bestellung entgegen nahm. Das sah lässig aus, wer jedoch genauer hinschaute konnte erkennen, dass er das nicht tat um lässig auszusehen, sondern um Halt zu finden. Kaum hatte er sein Bier lief er unsicher los und ließ sich am Tisch bei seinen Freunden nieder. Er vermied es so gut es ging sich frei bewegen zu müssen. An Frauen schien er nicht besonders interessiert.
Sie mochte den Laden nicht besonders, in dem sie ihn getroffen hatte, aber sie spielten dort gute Musik und das war ihr wichtig. Außerdem war es so, dass je schlechter die Musik war, umso aufdringlicher die Typen wurden. Schlechter Geschmack setzt sich eben in allen Bereichen des Lebens durch, dachte sie sich.
Irgendetwas war anders an diesem Jungen. Vielleicht war er einfach nur genauso alleine wie sie es war. Nur dass er, im Gegensatz zu ihr, sich damit nicht arrangieren konnte deswegen vor die Hunde ging. Ihm war zumindest nicht mehr allzu viel Würde geblieben. Sein Selbstbewusstsein hatte er vermutlich irgendwann im Lauf der letzten Jahre verloren und, so komisch das auch war, gerade das war es, was sie an ihm mochte.
Tim war schon seit mindestens zehn Jahren sein bester Freund. Sie hatten zusammen alles erlebt, die Jahre als kiffende Teenager, die Jahre als sie noch als cool galten, weil sie auf die Schule schissen und man sie immer um ein bisschen Gras bitten konnte. Irgendwann hatte sich die Welt jedoch weiter gedreht. Nun stand Tim bei ihm in der Wohnung. Tim war denselben Weg gegangen wie er. Im Gegensatz zu ihm hatte Tim einen mehr oder weniger festen Job. Er war der Sklave einer Zeitarbeitsfirma. Da er sich dabei jedoch relativ zuverlässig ausbeuten ließ, konnte auf seinem Rücken regelmäßig der Wohlstand anderer gedeihen. Und er hatte ein festes Einkommen, auch wenn das nicht besonders hoch war. Tim war das egal, er hatte was er brauchte. Er wohnte bei seiner Mutter und sein Leben drehte sich um seine Kumpels, Musik, feiern und Fußball. Robert legte Springsteen auf. Er liebte diesen Mann dafür, dass er von je her all den geknechteten, all den verlorenen, all den deprimierten und resignierten ein Stück Würde gegeben hatte. 'Downbound Train' war, neben dem Fakt, dass es eines der Besten Lieder war, was jemals geschrieben wurde, das Lied in dem er sich in den letzten Jahren mehr und mehr gefunden hatte.
>>War das die, mit der du gestern abgehauen bist?<<
>>Ich befürchte ja.<<
>>Mann, sei mal nicht so deprimiert. Die hatte doch mächtig Busen.<<
>>Die hatte vor allem eines: Die Gabe mich völlig zu verwirren.<<
>>Was wollte die denn von dir? Hast du sie geschwängert?<<
>>Als ob man das nach einigen Stunden schon wüsste. Ich kann dir nicht sagen, was sie von mir wollte. Sie hat nur irgendwas davon gefaselt, dass sie mich kennenlernen will. Aber bevor ich mit ihr ins Gespräch kommen konnte, ist sie auch schon wieder verschwunden. Außerdem scheint sie echt Probleme zu haben.<<
>>Wieso?<<
>>Ach, keine Ahnung. Ich meine, es ist doch nicht normal, wenn man wen kennenlernen will, aber sich weigert über sich selbst was zu erzählen, oder?<<
>>Ja, hört sich seltsam an. Mann, du musst aufpassen. Am Ende ist das so eine Irre, die dich ab jetzt übelst stalkt.<<
>>Das glaub ich kaum. Was soll die denn von mir wollen? Abgesehen von mehr CDs...<<
Tim hatte sich daran gemacht einen Joint zu drehen. Robert hatte eigentlich keine Lust zu kiffen, bedeutete das doch nur, dass der Tag damit endgültig im stumpfsinnigen Vergammeln enden würde. Er fühlte sich seltsam angestachelt von dieser Marie. Immerhin wusste er auch wo sie wohnte. Er hatte gute Lust das Spiel umzudrehen. Allerdings hatte er auch Angst davor, was er dort antreffen würde. Was, wenn sie in Wirklichkeit einen Freund hatte. Die Wohnung war, soweit er sich erinnern konnte, relativ groß gewesen. Für eine Studentin, was sie ja trotzdem sein konnte, denn nun war er sich eigentlich sicher sie richtig eingeschätzt zu haben, viel zu groß. Außer, sie wohnte mit irgendeinem armen Trottel zusammen, der auf Montage, Geschäftsreise, oder sonst was war, während sie sich Typen wie ihn mit nach Hause nahm. Die Macht, diesen armen Trottel unter Kontrolle zu halten, hatte sie in jedem Fall, dessen war er sich sicher. Tim sah zu ihm herüber.
>>So, jetzt vergessen wir mal schön die Alte und entspannen uns. Immerhin habe ich gerade Urlaub und den will ich nicht damit verbringen, dir dabei zuzusehen, wie du dich von einer verrückten kirre machen lässt. Wer baut der haut.<<
Dann zündete er den Joint an.
Sie hatte noch ein wenig Arbeit vor sich. Sie begab sich in ihr Arbeitszimmer und setzte sich vor ihr MacBook. Nachdem sie drei Tassen Kaffee getrunken und zwei Stunden programmiert hatte, zog sie sich nackt aus und legte sich auf ihr Bett. Was dieser Robert nicht bemerkt hatte, war, dass sie, während er vergeblich versucht hatte aus ihr schlau zu werden, etwa ein halbes Gramm von seinem Gras geklaut hatte. Es war einfach neben dem Tabak gelegen. Sie sah das als Ausgleich dafür an, dass sie seine Kotze entfernen musste, die bereits leicht angetrocknet war und gestunken hatte. Natürlich hatte sie das keineswegs lustig gefunden, aber sie hatte beschlossen, ihn nicht zu sehr zu verunsichern, nachdem sie in seine völlig überfordert drein blickenden braunen Augen gesehen hatte.
Sie drehte sich eine Joint, der zu nahezu drei Vierteln aus Gras bestand und ließ sich ein Bad ein. Das Zusammenspiel zwischen warmen Wasser, was die Durchblutung anregte und Marihuana, was die Muskeln entspannte und die Dinge klarer erscheinen ließen, als sie waren, oder eben nicht, war ja sowieso egal, war für sie das Größte. Besser noch als ein guter Fick. Tief entspannt und mächtig high stieg sie aus der Badewanne. Bekifft zu sein war etwas, was sie manches mal daran zweifeln ließ, wie sie ihr Leben lebte. Es gab Momente, in denen sie sich danach sehnte, mit jemand anderem, jemanden, der sie verstand, in jenem Zustand sinnlos über die Welt zu sinnieren. Entsprechend ambivalent war ihr Verhältnis gegenüber dieser Droge. Sie hatte jedoch für sich den Weg gefunden, nicht öfter, als drei bis viermal im Monat zu konsumieren. Dadurch bewahrte sie sich diesen Moment, den sie nahezu sakral feierte. Entsprechend war es für sie auch immer wieder aufs neue ein Erlebnis, dass sie in vollen Zügen genießen konnte, auch wenn es ab und an bei ihr Zweifel sähte.
Während sie nackt auf dem Teppich in ihrem Wohnzimmer liegend trocknete und die Wirkung des Dopes langsam angenehm nachließ, war sie sich sicher, was zu tun war. Es war wohl so etwas wie Neugier gewesen, weshalb sie Robert besucht hatte. Er war anders, als die meisten Typen, mit denen sie was gehabt hatte. Das war ihr bereits in der Nacht aufgefallen, auch wenn er, dadurch dass er so viel getrunken hatte, entsetzlich gewöhnlich gewirkt hatte. Sie beschloss ihren eigentlichen Plan, ihn wieder zu vergessen, sich an seinen CDs zu erfreuen und ihm möglichst nie wieder zu begegnen, zu verwerfen. Dabei kam ihr, dass sie diesen Plan eigentlich schon verworfen hatte, als sie bei ihm in der Wohnung gestanden hatte.
Sie war unabhängig. Das war das Erste, was sie lernen musste. In dieser Welt war kaum Platz für Mitgefühl und wenn man auf welches stieß, dann nur, weil derjenige, der es einem spendete damit eigene Interessen verfolgte, besser dastehen wollte, oder die Mutter des armen Mädchens bumsen wollte. Sie hatte das schnell gelernt und den Schmerz, der damit verbunden war, schnellstmöglich in Ehrgeiz kanalisiert. Sie wollte niemals auf irgendeinen dieser widerlichen Menschen auf diesem Planeten angewiesen sein. Niemals.
Er rauchte. Tim war verschwunden um was essbares zu besorgen und seit geraumer Zeit nicht zurück gekommen. Jetzt war es sowieso egal. Er drehte sich einen weiteren Joint von seinem Gras, von dem er glücklicherweise noch ein wenig hatte.
Sie war das erste Mädchen gewesen, dass in seinem Leben aufkreuzte, seit langer Zeit. Sehr langer Zeit. Er musste an damals zurück denken, doch das deprimierte ihn so sehr, dass er sich, obwohl er sich davor ekelte, ein Bier aufmachte. Bekifft, arbeits- und antriebslos, nahezu pleite und obendrein noch beklaut worden – Er war sich sicher, nicht mehr tiefer fallen zu können. Diese Schlampe. Was sollte das? Von wegen, ihn kennenlernen. 'One Night Stands' beruhten doch darauf, dass man den Anderen nicht kannte, dass mich sich zu nichts verpflichtet fühlte. Er hatte das Spiel vielleicht zum ersten Mal gespielt, aber von den Regeln hatte er schon einiges gehört. Sie wurden einem ja in nahezu jeder Serie, jedem Film und jedem Buch entgegengeschleudert. Von der Verwirrung und dem Schmerz danach schienen nur Songs zu erzählen. Verdammtes Gras. Er saß dort, wo sie gesessen hatte. Er drückte den Joint in dem Brandloch aus, das sie hinterlassen hatte.
Er fühlte sich mies, vielleicht sogar so mies, wie seine Lage eigentlich war.
Er hatte zuletzt als Fahrer für einen Gemüsehändler gearbeitet. Er hatte es gehasst alleine über die Dörfer zu fahren und bei irgendwelchen Biobauern modrig stinkendes, frisches, mit feuchter Erde beklebtes Gemüse abzuholen. Das einzige, was ihm dabei Spaß gemacht hatte, war die Landschaft zu betrachten. Es war Frühling gewesen und der Geruch des Taus am Morgen, der das Land in Beschlag nahm und alles in eine gedämpfte Hülle verpackte, die eine ganz besondere Akustik ergab, das war wahrhaft schön. Doch dann hatte er sich wieder in seinen VW Bus setzen und Termine einhalten müssen, die kaum einzuhalten waren und den Bauern erklären, wieso er eine halbe Stunde zu spät kam. Wenn er Mittags im Laden ankam musste er dem Besitzer dann erklären wieso er zu spät kam, musste alles entladen und verräumen und durfte anschließend noch im Laden aushelfen.
Er hasste all die Snobs, all diese Gutmenschen, diese Typen, die mit selbstgerechtem Grinsen ihren Biofrass kauften, von dem sie sicher Dünnschiss bekamen. Als würde sich die Welt ändern, als würde das irgendwelche Großkonzerne davon abhalten diesen Planeten zu vergewaltigen. Er hatte eine äußerst zynische Sichtweise, das wusste er, doch er redete sich ein, dass er nun mal ein Realist sei und die Dinge so sehen würde, wie sie eben waren.
Wie er so da saß und sich fragte, ob er immer schon so ein negativer Wichser gewesen war, oder ob die schmerzhaften Ereignisse der letzten Jahre daran schuld waren, beschloss er, dass diese Marie so nicht davonkommen sollte. Auch wenn er sie attraktiv und faszinierend fand, war es doch so, rein objektiv betrachtet, dass sie sich ihm gegenüber komisch – um nicht zu sagen beschissen verhalten hatte. Er beschloss sie aufzusuchen.
Herr Zimmermann hatte das Mädchen mit der Vespa schon vom ersten Moment an bemerkt. Sie war damals zwei Stockwerke unter ihm eingezogen. Das war in dem Herbst in dem seine Frau ihn für immer verlassen hatte, der Herbst in dem er den Glauben verloren hatte. Der Krebs hatte sie zerfressen, hatte an ihr genagt, als sei sie bereits lange tot. Zuletzt hatte sie noch knapp über vierzig Kilo gewogen und ihr Verstand war von den Therapien und Schmerzmitteln derart vernebelt, dass sie nichts mehr wahrnahm. Er hatte es gehasst. Er hatte gehasst, dass er machtlos war und er hatte es gehasst, dass seine Frau starb und dass, ohne einen letzten klaren Gedanken fassen zu können. Die Vorstellung, dass seine Frau ging, ohne dass er sich von ihr auf eine Weise verabschieden konnte, bei der er sicher sein konnte, dass seine Worte bei ihr ankommen würden, das hatte ihn über Monate verfolgt.
Er hatte begonnen eine Abneigung gegen die Menschen zu entwickeln. Die Ärzte, für die seine Frau ein Routinefall war, die ihm mit abgestumpften Augen erklärten, dass sie nicht leiden würde. Er kannte seine Frau. Er wusste, dass sie am Ende nicht mehr litt. Das brauchte ihm keiner dieser Ärzte zu erzählen. Wie es ihm ging, danach wurde er nie gefragt. Er hatte nur noch sie. Die Verwandten und ehemaligen Kollegen hatten sich in ihrer Hilflosigkeit darauf beschränkt ihm Karten zu schicken. Karten voller Anteilnahme. Das war das Letzte, was er brauchte. In seinem Groll hatte er sich komplett isoliert.
Als sie einzog, dachte er es würde sich alles gegen ihn wenden. Er war nicht in der Stimmung junge, lebensfrohe Menschen um sich zu haben. Sie hatte oft Männer bei sich. Er war sich sicher, dass sie ein richtiges Flittchen war. Er war über vierzig Jahre verheiratet gewesen. Es kam ihm fast so vor, als würde Gott ihn verhöhnen. 'Sieh nur alter Mann. Das hast du für vierzig Jahre treue. Schmerz und Verbitterung. Du hättest es so viel besser haben können.'
Er begann zu trinken. Zunächst nur zwei, drei Bier, wenn er sich bei Wetten Dass auf dem Sofa niedergelassen hatte. Irgendwann begann er Korn zu trinken. Er kam sich elendig vor, dennoch schlich sich ein Gefühl ein, was er ewig nicht mehr gespürt hatte. Er hatte nichts mehr zu verlieren. Es war wie nach dem Krieg. Alles lag in Trümmern.
Sie hörte immer laut Musik. Viel zu laute Musik. Und dann auch noch dieses affige Zeug, womit ihn seiner Kinder früher immer genervt hatten. Männer mit langen Haaren hatten doch immer irgendetwas zu kompensieren. Eines Nachts hatte es ihm gereicht. Er hatte getrunken und war vom Fernsehprogramm genervt. Nachdem er an ihre Tür gehämmert hatte, öffnete dieses Flittchen und sah ihm direkt in die Augen. Noch bevor er beginnen konnte ihr die Meinung zu sagen sprach sie mit fester, entschlossener Stimme Worte, die sein Leben erneut verändern sollten:
>>Und? Steckt in ihnen also doch noch so viel Leben, dass sie aus ihrem selbstsüchtigen Kummer erwachen konnten? Sie sollten nicht darauf zählen, dass ich Mitleid mit ihnen habe. Im ganzen Treppenhaus riecht es nach Schnaps und das seit Wochen. Keiner hier traut sich mit ihnen zu reden. Mir ist das egal, Menschen sterben, das ist mies, aber so ist die Welt. Wenn sie glauben, sie könnten mir etwas erzählen, dann sind sie falsch gewickelt. Gewinnen sie erst mal ihre Würde wieder. Was sollen ihre Kinder dazu sagen, dass ihr Vater sich zu Tode säuft? Ist es das wert?<<
Er wollte der Kleinen eine knallen, stattdessen brach er in Tränen aus. Er hatte nicht damit gerechnet, dass sie derart kalt war. Wie er später erfahren hatte, hatte sie selbst wohl schon einiges durchgemacht. In jener Nacht jedoch, hasste er sie. Doch der Hass auf sie wurde bald überflügelt von dem Hass, den er gegenüber sich selbst empfand. Er konnte nur heulen. Sie nahm ihn an der Hand und brachte ihn in seine Wohnung. Sie schüttete den Schnaps weg und machte ihm einen Kaffee. Dann ging sie, ohne ein weiteres Wort. Von da an schwor er sich, sein Leben, die vierzig schönen Jahre an der Seite seiner Frau, nicht weg zu werfen.
Im Laufe der Jahre wurden sie so etwas wie Freunde. Sie kam ab und an vorbei und sie tranken Kaffee. Er erzählte ihr von seiner Frau und der Zeit, als sie mit seinem Käfer zum ersten Mal über die Alpen fuhren. Von ihr wusste er nur wenig. Sie arbeitete mit Computern, doch davon verstand er wenig. Seltsamerweise schien sie dennoch eine Abneigung gegen all die neuen Technologien zu haben, die aufgekommen waren.
Er wurde oftmals nicht schlau aus ihr, aber, aus wem aus dieser verrückten Generation wurde man das schon. Er hatte sein Leben lang in der Versicherung gearbeitet, bei der er gelernt hatte. Zu seiner Zeit gab es all die Dinge, mit denen jungen Leute im Bus herumspielten und an denen sie herum fummelten nicht. Er sah darin auch keinen Sinn.
Einmal war eine ältere Frau bei Marie zu Besuch, das musste ihre Mutter gewesen sein. Sie hatte dasselbe Gesicht und konnte, abgesehen von den Händen, welche immer das Alter verrieten, auch ihre große Schwester sein. Der Besuch endete damit, dass die Mutter wutentbrannt ging. >>Ich kann und will dich einfach nicht verstehen, aber bitte, wie du willst<< war in etwa das, was sie von sich gab, als sie aus dem Haus stürmte. Er hatte Versuche unternommen Marie dezent drauf anzusprechen, doch an ihrer nahezu aggressiven Reaktion konnte er erkennen, dass Familie ein Thema war, was sie in keinster Weise mit ihm besprechen wollte. Abgesehen von den jungen Männern, die ab und an in der Früh vor dem Haus auf ein Taxi warteten, schien sie keinen Besuch zu bekommen. Sie war in der Hinsicht wie er, sie hatte wohl keine Freunde.
Es war ein Freitag und zum ersten Mal in dieser Woche schien die Sonne. Herr Zimmermann kam gerade vom Grab seiner Frau zurück. Er hatte noch schnell Kottlets besorgt, die er sich braten wollte. Vor dem Haus stand ein junger Mann und studierte die Klingelschilder. Er passte irgendwie nicht in das Bild, doch fragte er freundlich, als er Herrn Zimmermann entdeckt hatte >>kennen sie eine Marie, die hier wohnt?<< Herr Zimmermann musste lächeln. >>Oh Ja.<<