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Kapitel 5

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Es war spät geworden. Ständig waren neue Probleme bei dem neuen Programm zur Abrechung aufgetreten. In seinem Beruf geschah eigentlich relativ wenig, doch tauchte mal ein Problem auf, so kam es meistens dicke. Norbert Meiser war seit zehn Jahren bei der Firma. Er hatte den Weg Schritt für Schritt zurückgelegt, vom einfachen Angestellten, bis hin zum Abteilungsleiter. Er liebte es, auch wenn er sich das niemals eingestehen würde, Macht über andere ausüben zu können. Es war und ist eben Gesetz in der Wirtschaft, dass man sich durchboxen musste. Je höher man kam, umso unantastbarer wurde man. Das hatte er schnell verinnerlicht.

Er hatte sich von vornherein dagegen ausgesprochen dieser verrückten das Erstellen eines neuen Software Paketes anzuvertrauen. Anststatt sich an eine große, etablierte Firma zu wenden, ließen sich seine Vorgesetzten von ihr einwickeln. Dabei hatte sie äußerst seltsame Umgangsformen. Man konnte ihr nicht einmal die Hand geben, ohne dass sie einen mit ihren giftgrünen Augen festnagelte. Ihn erinnerte ihr Blick immer an Superman, der mit seinen Augen Laserstrahlen verschießen kann. In ihrem Falle schien aus ihren Augen Gift, oder glühend heißes Magma zu kommen. Irgendetwas in der Richtung. Aber es war so gekommen, wie er es geahnt hatte. Jeder Mensch hat eine Schwäche. Die meisten sogar weit mehr als eine. Sein Chef, ein Mann Mitte fünfzig, hatte etwas von Solidarität unter kleinen Unternehmen oder dergleichen gefaselt, als er begründete, wieso man einen Auftrag, der Auswirkungen auf Herrn Meisers ganze Abteilung haben würde, eine gestörten zuteilte, der man eigentlich viel eher den Teufel austreiben lassen sollte. Oder sie zumindest mal richtig durch ficken sollte. Er hasste seinen Chef dafür. Er war ohnehin viel zu weich. Er kam aus einer Generation, in der ganz einfach zu viel geredet wurde in der auf alles und jeden Rücksicht genommen werden musste. Das war Herrn Meiser, der gerade 36 geworden war, zuwider. In seiner Jugend hatte es das nicht gegeben. Was zählte, waren ein Golf GTI und Sex. Jede Menge Sex. Mittlerweile fuhr er einen Mercedes. Mit dem Sex war das so eine Sache, er hätte beinahe den Fehler begangen und seine Jugendliebe geheiratet, die er im Alter von 27 wieder getroffen hatte. Es hätte gepasst, doch sie wollte unbedingt Kinder, und das in einer Zeit, in der sein Aufstieg begonnen hatte. Klar musste er lange und hart Arbeiten, aber das war eben der Preis, den man für den Erfolg zahlen musste. Es ging ihnen gut, er konnte ihr alles bieten, ein gemietetes Reihenhaus, ein eigenes Auto, all das. Kinder, das war etwas, worüber man auch in einem späteren Lebensabschnitt noch nachdenken konnte, jedoch keinesfalls in diesem. Sie hatte das anders gesehen. Irgendwann hatten sie sich aneinander abgenutzt. Er hatte zugenommen, nicht mehr auf sich geachtet. Es kam die Trennung und er bereute es keinen Tag. Ihr war er ja nicht einmal böse, auch wenn im Streit so manches besser nicht gesagt hätten werden sollen. Kaum war er wieder Single, begann er Sport zu treiben, er ging ins Fitnessstudio, und er fing an sein Privatleben neu auszurichten. Er ging an den Wochenenden ab und an in Clubs, in denen seinesgleichen anzutreffen waren. Er hatte wieder Sex, richtigen Sex, nicht bloß das einfache abspulen der immer gleichen Routine. Ihn erregte es ungemein, wenn die Frauen stöhnten und aus sich heraus gingen. Die stillsten, schüchternsten Dinger, die er vorher in ewig schleppenden Gesprächen von sich überzeugen musste, gaben auf einmal die lautesten, wildesten – und für ihn somit erotischsten Laute von sich. Jetzt, wo die Trennung schon lange zurücklag und er einen größeren Kreis von Damen mit Klasse hatte, mit denen er sich regelmäßig vergnügte, kam es ihm manches mal so vor, als würde er über eine andere Person, als sich selbst nachdenken, wenn er an jene Zeit erinnert wurde.

Diese Kleine, die wohl so etwas wie ein selbständiges Software Unternehmen führte, hatte zunächst einige komplexe Probleme gelöst. Beinahe wäre er auf sie hereingefallen. Letztendlich hatte der heutige Tag jedoch gezeigt, was ihr Programm taugte. Es hatte sich ein Fehler eingeschlichen. Nicht einmal die fähigsten Leute aus der EDV Abteilung hatten es geschafft, das anscheinend unfassbar Komplexe Programm zu durchschauen. Er hatte es geahnt. Frauen waren einfach für sämtliche Dinge der Praxis nicht zu gebrauchen. Einfachste Handlungen wurden auf kompliziertestem Wege durchgeführt. Seinen Boss, diesem verkappten Sozialpädagogen, der in diesem Laden eigentlich nichts verloren hatte und sich nur aufgrund seiner guten Kontakte auf dem Markt in der Firma halten konnte, hatte sie täuschen können. Ihn nicht. Als schließlich alle gegangen waren, hatte er ihr Programm schließlich schlicht deinstalliert, das alte System aufgespielt und die Daten darauf gespielt. Bis Montag musste alles wieder auf dem altem Stand sein. Natürlich war diese kleine Programmiererin auch nicht zu erreichen gewesen. War ja auch Freitag. Da Arbeitet man ja auch maximal halbtags. Eine Notfall Hotline, wie sie es bei normalen Unternehmen gab, hatte sie selbstverständlich auch nicht. Er sah es nicht ein, wieso er wegen so jemandem Probleme haben sollte. Musste sich eben sein Chef rechtfertigen, wieso er derart unseriös gehandelt und somit das Unternehmen vor Probleme gestellt hatte.

Als er gegen 19.30 die Firma verließ, war er sogar fast froh über die Unfähigkeit und den Mangel an Seriosität, die in seinen Augen zu den aufgetretenen Komplikationen geführt hatten. Der Vorstand würde sicher keine Gründe sehen, die das Verhalten seines Chefs rechtfertigen würden. Der Aufstieg vom Abteilungsleiter, hin in die untere Führungsebene – und damit direkt in die Chefetage war greifbar. Alles eine Frage der Darstellung.

Er lief über den von gepflegtem Grün gesäumten Weg hinüber zur Tiefgarage. Gärtnerei hatte ihn nie interessiert. Er fand es lächerlich auf künstlichem Wege eine Illusion von Natur herbeizuführen. Das Leben findet eben in Städten statt – wem das nicht passt, der soll aufs Land ziehen, war seine Meinung dazu. Er fuhr mit dem Mercedes davon. Als er die Innenstadt verlassen hatte, auf dem Weg zu seinem Appartement, welches am Rande des Stadtgebietes lag und von wo aus er einen phantastischen Blick über die Dächer der Stadt hatte, musst er an einer Ampel halten. Im Radio liefen die Nachrichten. Ein weiteres Land der EU schlidderte in die Krise. Weitere Zahlungen, bla bla. Es war wie immer im Leben. Die einen arbeiten hart und sind korrekt - und müssen zum Dank all die faulen Eier mitschleifen. Er hasste das. Der Sozialstaat war auch so eine Erfindung, die nur dazu diente die Trägheit der Menschen in diesem Land zu unterstützen. Ihm konnte man nichts vormachen. Zahlen, Bilanzen, all das war sein Fachgebiet. Er glaubte zu wissen, wie die Welt lief. Globalisierung, das war ein Begriff, hinter dem, und der damit angeblich verbundenen Komplexität, sich all diejenigen versteckten, die zu feige waren zu gestehen, dass sie eigentlich keine Ahnung hatten wie die Welt funktioniert. Er dagegen, davon war er fest überzeugt, wusste es. Die Ampel schaltete auf Grün. Er stellte das Getriebe in den Sportmodus. Die Enge der Stadt hatte er hinter sich gelassen, nun war es Zeit die überproportional zur Verfügung stehende Leistung des Wagens auf die Straße zu bringen. Er fuhr an und beschleunigte. Nach etwa 20 Metern krachte es.

Die Ziellosigkeit, mit der er umher streunte war ihm eigentlich fremd. Auch wenn er sonst ein eher zur Spontanität neigender Charakter war, so war es überhaupt nicht seine Sache alleine irgendwo länger zu verweilen. Wege, die er zu beschreiten hatte, waren stets zielgerichtet, auch wenn es nur darum ging sich eine Pizza zu holen. Robert war nach der morgendlichen Abfuhr nicht mehr zurück gefahren. Er war gedankenversunken durch die Stadt gezogen. Über all dem Groll über das Erlebte hatte er komplett vergessen zu essen. Kurze Zeit hatte es ihn gelüstet sich einen Sixpack Bier zu kaufen und den Alkohol die Führung über sein Leben übernehmen zu lassen. Konnte ja eigentlich nur voran gehen. Diese Idee hatte er jedoch bald wieder verworfen, er fürchtete den nächsten Morgen, wenn der Kater die Misere nur verschlimmern würde. So blieb er nüchtern.

Vor dem Supermarkt stand ein Mädchen, das vermutlich in seinem Alter war. Sie hatte Dreadlocks, was er zwar einerseits cool fand, ihm aber andererseits suspekt war, da sie wohl ursprünglich schönes, braunes Haar hatte. Durch das Verfilzen der Haare war die Farbe stumpf geworden und ihre Haarpracht wirkte unfassbar spröde. Sie kam ihm vor, wie ein ausgetrockneter Baum, der morsch und knochentrocken war. Fast hätte er ihr den Ratschlag gegeben sich lieber in den Schatten zu stellen, da sie sonst wohl Feuer fangen könnte. Er tat es natürlich nicht, wie er vieles nicht tat, was ihm durch den Kopf ging.

>>Hey, ich komme vom Tierschutz. Hättest du eventuell Interesse an einer Mitgliedschaft bei uns?<< Sie hielt ihm ein Programmheft des Vereins vor die Nase, dem sie angehörte. Die üblichen Themen, Rettungsaktionen für an Autobahnraststätten angebundene Hunde in der Ferienzeit, Artikel darüber wie schlecht die Tiere in Osteuropa behandelt wurden und so weiter. Misses Rasta hatte reichlich Sommersprossen und ihre Haut war eher blass. Als er entdeckte, dass sie tatsächlich Birkenstock Schlappen trug, konnte er sich ein dämliches Grinsen nicht verkneifen. Sie sah auf seltsame Weise süß aus. Vielleicht war es ihr Idealismus, der ihr eine gewisse Aura der Unschuld verlieh, gleichwohl sie – nach gängigem Maßstab - eher schäbig wirkte. Aber wer war er, um darüber zu urteilen.

>>Ich muss nur schnell was zu essen besorgen. Dann kannst du mir erzählen, was ihr so macht. Hab den ganzen Tag Zeit.<<

Insgeheim hoffte er, dass sie damit beschäftigt sein würde anderen Mitbürgern ihren Text zu geben, so dass er sich klamm und heimlich davon schleichen konnte, wenn er wieder aus dem Laden kam. Sie hatte die Welt noch nicht aufgegeben. Er wusste nicht genau, ob er sie dafür bewundern, oder bemitleiden sollte.

Als er mit Schokoriegeln und einer Flasche Spezi wieder aus dem Laden latschte, stand sie natürlich alleine vor ihm und grinste ihn freundlich an.

>>Also, wollen wir?<<

Er überlegte, ob er ihr einen Schokoriegel anbieten sollte, doch, nein, das war sicher keine gute Idee. War ja kein Fairtrade Produkt.

>>Ich bin hier sowieso gerade fertig. Wenn du willst können wir in den Park gehen.<<

>>Wegen mir. Ich muss dich aber warnen. Ich bin alles andere als der friedliche, nette Trottel, für den du mich vermutlich hältst.<<

Da hakte sie sich bei ihm ein, wobei ihm beinahe seine Spezi heruntergefallen wäre.

>>Oh doch, der bist du, da bin ich mir sicher.<<

Sie hieß Anne Marit und ihre Mutter kam aus Norwegen. Jetzt lebte sie abwechselnd in Norwegen und bei Ihrem Vater, der Leiter einen Förderschule am Rande der Stadt war. Er konnte den Blick nicht von ihren Schlappen wenden, als sie ihm das erzählte. Tatsächlich erfüllte sie sämtliche Klischees. Nur eine Waldorf Schule hatte sie nie besucht. Sie hatte Kommunikationswissenschaften studiert, in Norwegen, und ironischerweise gefiel es ihr In Deutschland besser, als in Norwegen. Nach dem Studium hatte sie zunächst bei einer Werbeagentur gearbeitet, bis diese mehr und mehr Werbung für Firmen gemacht hatte, deren Politik sie ablehnte. Er fragte sich, welche Firmen auf dieser Welt sie wohl nicht wegen ihrer Politik hasste. Es konnten zumindest keine großen sein.

>>Und du? Hast du studiert?<<

>>Ja, aber das ist schon länger her. Außerdem habe ich das Ganze nicht sehr ernst genommen.<<

Ihr Interesse an ihm befremdete ihn im Grunde, doch nach den vergangenen Tagen versetzte ihn nichts mehr in Erstaunen. Eigentlich war sie ja auch nur eine Streunerin, die gelernt hatte, woran man jemanden erkennt, der nichts besseres zu tun hat, als sich ihre Lebensgeschichte anzuhören.

Um sich weitere Nachfragen zu ersparen, denn er war absolut nicht in der Stimmung ihr von sich zu erzählen, lenkte er das Gespräch wieder auf den Tierverein.

>>Was ist denn jetzt mit eurem Verein. Was muss ich tun um Premium Mitglied zu werden?<<

Sie lachte und erzählte ihm von dem Aufbau der Organisation und ähnlichem. Er hörte zu, nickte ab und an und erklärte ihr, als sie die unterschiedlichen Mitgliedsbeiträge und deren Verwendung erläuterte, dass er zur Zeit ohne Job sei und es ihm von daher schwer fallen würde regelmäßig Zahlungen zu leisten. Sie ließ sich dadurch nicht beirren. Da sie derzeit auch nur für den Verein arbeitete und es ihm nicht ersichtlich war, wie sie davon leben konnte, saß sie gewissermaßen im selben Boot. Mit dem Tarif für Schüler und Studenten, für fünf Euro monatlich, kam er günstig davon. Wie immer in solchen Situationen unterschrieb er mit falschem Nachnamen und gab eine Bankverbindung an, die nicht existierte. So wie er es verstanden hatte, war der Verein groß genug, so dass sie davon niemals etwas erfahren würde. Er konnte also der nette Typ aus dem Park bleiben. Wenigstens etwas.

Sie redeten noch ein wenig über Musik und Norwegen, wo er nie gewesen war, was ihn jedoch in der Tat interessierte. Als der Abend hereinbrach musste sie los. Sie hätten noch etwas trinken gehen können, aber er wusste nicht, ob sie überhaupt Alkohol trank. So verabschiedete sie sich von ihm und wünschte ihm alles Gute. Und wieder war ein Mensch in sein Leben getreten, hatte Eindrücke hinterlassen und war anschließend wieder spurlos verschwunden, hinter den Mauern der eigenen Welt. Die Begegnung mit ihr erinnerte ihn an sein Studium. Auch hier hatten Menschen Eingang in seine Welt gefunden, mehr noch als es ihm manches mal recht war, da er sich verliebt und zu einem LSD Trip hatte überreden lassen, was ihm eine der entsetzlichsten Erfahrungen seines Lebens beschert hatte. Und auch hier waren die Menschen, nachdem die gemeinsame Zeit abgelaufen war, wieder jeweils in ihrer Welt verschwunden. Nach und nach hatte man sich komplett aus den Augen verloren. Nun, da er sich und sein Leben dem Misserfolg untergeordnet hatte, verspürte er auch nicht mehr das Bedürfnis all die Leute wieder zu sehen und Antworten auf jene 'und, was machst du jetzt so' Fragen, die er schon immer gehasst hatte, geben zu müssen. Was blieb waren die Erinnerungen, die langsam verblassten. Er stand im Park und spürte wie die Dämmerung hereinzog. Die Luft veränderte sich. Er begann zu frieren. Schokoriegel waren zwar lecker, doch deckten sie leider in keinster Weise den täglichen Bedarf an Nährstoffen. Er hatte Hunger und es war Freitag Abend. Von seiner Wohnung war er weit entfernt. Gegen die Kälte, für die er eine leichte Beute war, da er nicht genug gegessen hatte und sich entsprechend schwach fühlte, half nur Bewegung. Musste er eben nach Hause laufen. Er kannte sich in der Gegend nicht besonders gut aus, doch im Prinzip wusste er welche Richtung er nehmen musste. Mit den öffentlichen Verkehrsmitteln wollte er nicht fahren, es widerte ihn an, wenn er an all die fröhlichen, angetrunkenen Teenies dachte, die auf dem Weg in die Stadt, zu irgendeiner Party, oder ihrer Entjungferung waren.

Das hatte gesessen. In der Windschutzscheibe war ein Riss, der sich den Ästen eines Baumes gleich ausgebreitet hatte und in immer feinere kleine Risse geführt hatte. Norbert Meiser war geschockt, jedoch weit weniger, als er erwartet hatte. Er hatte gute Reflexe, Squash ist ein schneller Sport, dachte er sich. Die Nervenbahnen seines Rückenmarkes hatten weitaus schneller den Impuls aus dem Gehirn verarbeitet, als dass sein Verstand erfassen konnte, was geschehen war. Irgendwie hatte er wohl noch halbwegs rechtzeitig gebremst, so dass er durch das, was er da gerammt hatte nicht schlicht hindurch gefahren war. In seinen Händen begann es zu kribbeln und seine Beine fühlten sich seltsam fremdgesteuert an, wie nachdem man sich an einen Marathon anschließend hinsetzt und das Gefühl hat, als würden die Beine nach wie vor laufen. Er stieg aus. Abgesehen von der kaputten Windschutzscheibe schien der Wagen keinen größeren Schaden genommen zu haben. Der Motor lief noch und die Scheinwerfer strahlten auf die unbeleuchtete Straße. Es musste halb neun Abends sein, oder etwas später. Neben der Straße gab es einen schmalen Grünstreifen, der die Straße von einem Radweg trennte. Alle paar Meter, es mussten wohl etwa 25 sein, waren mittelgroße Büsche gepflanzt. Die Straße war gesäumt von vereinzelten Wohnhäusern, die Gegend war alles in allem kaum erschlossen. Die Häuser waren allesamt aus den 1950er Jahren. In der Dunkelheit wirkten sie auf Herrn Meiser gespenstisch. Er konnte nirgends Lichter brennen sehen. Die Scheinwerfer seines eigenen Autos blendeten ihn. Seine Hände fassten in die Taschen seines Mantels. Da er zu zittern begonnen hatte gelang es ihm erst nach einer Weile die Tastensperre zu lösen und die Nummer der Polizei zu wählen. Bei Wildunfällen würde es schwer werden die Versicherung zum zahlen zu bewegen, lag nicht mindestens ein Polizeibericht vor. Der erste Adrenalinschub war vorüber. Er gewann die Fähigkeit zurück objektiv die Situation beurteilen zu können. Ein Grund dafür war, dass der Schrecken dem Ärger darüber, dass am anderen Ende niemand abnahm, gewichen war. Freitag Abend hatte die Polizei viel zu tun, das konnte er sich denken. Er musste sich wohl oder übel darauf einstellen, lange auf seinen Polizeibericht warten zu müssen. Nun war er wieder vollends Herr über sich und seine Sinne. Er musste etwas großes gewesen sein. Ein Rehkitz vielleicht. Etwa 200 Meter weiter mündete die Straße in ein Waldstück. Oder es war ein schwachsinniger Hund, der einem der gespenstischen Rentnern gehörte, die hier wohnten. Er legte auf. Bei genauerem Hinsehen ließen sich deutliche Kratzer auf der Motorhaube erkennen. Er ging um das Auto, öffnete die Fahrertür und schaltete den Warnblinker ein. Als er gerade den Motor abstellen wollte folgte ein zweiter, wesentlich heftigerer Adrenalinschub. In einigen Metern Entfernung konnte er hinter einem der Büsche ein paar Beine hervorragen sehen.

Maries Tag war schleppend verlaufen. Sie konnte sich nicht richtig konzentrieren. Ihr Telefon hatte mehrmals geläutet, aber sie sah keinen Grund abzunehmen. Das war einer der Gründe, weshalb sie es im Nachhinein bereute größere Aufträge anzunehmen. Obwohl ausdrücklich kein Servicepaket im Vertrag enthalten war, versuchte man immer ihr die Schuld zuzuschieben, wenn etwas nicht funktionierte. In den letzten Wochen hatte sie sich darauf beschränkt größeren Software Unternehmen zuzuarbeiten. Die Firma, dessen unsicherer Lackaffe sie nun bereits zum dritten mal anrief, hatte betont, dass es nur darum ginge gewisse Vorgänge schneller bearbeiten zu können, da die auf dem Markt erhältlichen Programme hierfür ungeeignet schienen. Ihr leuchtete das ein, man hatte auch noch mit einer erstklassigen EDV Abteilung geprahlt, so dass es bei Problemen nicht nötig wäre, sie hinzuzuziehen. Das kam ihr jener Zeit allerdings bereits unrealistisch vor, wusste sie doch, wie kompliziert ihr vielschichtiges Programm war. Aber sie hatte sich blenden lassen. Ihr Ego hatte die Oberhand gewonnen. Sie, als 24 jährige Informatikerin, die selbstständig Aufträge dieser Größenordnung erledigte, das ließ sie unvorsichtig werden. Sie hätte auf ihr Gefühl hören sollen. Ihr war, abgesehen von dem Chef der Unterabteilung, oder des Departements, oder welcher möglichst kompetent klingende Begriff bei denen gerade verwendet wurde, niemand wirklich sympathisch gewesen. Es war auch nicht der Fall, dass sie eine regelrechte Antipathie verspürt hatte. Man begegnete ihr mit einer auffällig aufgesetzten Neutralität. Das hätte ihr Warnung genug sein sollen. Eigentlich war es klar, dass man sie nicht leiden konnte. Da waren der Unmut von Männern mittleren Alters darüber sich von einer Frau ihres Alters etwas sagen lassen zu müssen. Dies war unbestritten. Hinzu kam noch die Tatsache, dass sie genau wusste, das der Grat, auf dem sie wandelte äußerst schmal war. In ihrem Rock und Blazer war sie sich vorgekommen wie in einer typischen Pornoszene. Junge, naive Sekretärin wird von dominantem Boss zurechtgewiesen. Sie konnte an den geifernden Blicken all dieser verstockten Anzugträger sehen, dass sie Objekt dieser Phantasie war. In dem Moment, in dem sie die ersten Probleme gelöst hatte, wurde sie von dieser Last befreit. Man konnte spüren, dass sie faszinierte. Es ist ein Unterschied, ob man schlicht gefickt werden will, oder ob man bewundert wird und aus dieser Faszination heraus eine gewisse sexuelle Anziehungskraft resultiert. Wäre etwas schief gegangen, so wäre sie sofort wieder auf ihre Rolle als talentierte, jedoch unerfahrene und deswegen leicht zu verführende kleine Gespielin reduziert worden. Zwischenmenschliches Verhalten zu durchschauen war ein leichtes für sie. Sie hatte in jene Abgründe gesehen, die sich hinter all den Fassaden, den ritualisierten Handlungen, den aufgesetzten 'Guten Morgen, wie geht es' Floskeln verbargen.

Auch wenn es die Lage eigentlich erfordert hätte, sie hatte schlicht keine Lust ans Telefon zu gehen. Unabhängig zu sein bedeutet auch sich in die Scheiße zu reiten, wenn man in bestimmten Situationen untätig blieb. Das wusste sie und es war in ihren Augen ein angemessener Preis. Man musste nur seine Prioritäten verlagern. Es gab genügend andere Tätigkeitsfelder. Sie wusch sich ihr Gesicht mit kaltem Wasser und schaltete ihr Handy aus.

>>Na, kleine, hättest du das gedacht, dass du jemals so weit kommst? Ich meine, du hast es geschafft dein Leben selber so zu bestreiten, wie du willst. Wenn du keine Lust auf diese Wichser hast, dann gehst du eben nicht ans Telefon. Wenn du Lust auf sie hast, nimmst du sie dir mit nach Hause. Das ist doch was, meine liebe.<<

Während sie mit sich selbst sprach beobachtete sie sich im Spiegel über dem Waschbecken. Ohne sich darauf etwas einzubilden musste sie feststellen, dass sie doch ein äußerst hübsches Mädchen war. Auch wenn sich eine gewisse Härte in ihre Züge eingeschlichen hatte. Sie fand das jedoch sexy. Ihr Gesicht war zwar immer noch mädchenhaft, doch in ihren Augen lag ein Funkeln, was bei Bedarf eine enorme Schärfe vermitteln konnte. Ihre Nase, die sie immer als zu klein empfunden hatte, die jedoch, nachdem sie sich eine Weile im Profil betrachtet hatte, genau in ihr Gesicht, mit den sanft abfallenden Wangenknochen passte, war das Einzige, was ihr verletzlich vorkam. Sie war eindeutig in der Blüte ihres Lebens.

'Baby I feel good. From the moment I rise.' Sie drehte die Kinks auf und begann sich wirklich gut zu fühlen.

Seit langem hatte sie nicht mehr derart gefaulenzt. Anstatt zu kochen holte sie Burger und Fritten. Die Welt, das war ein Ding, was manches mal ohne einen weiter vor sich hin verkommt. Man konnte sich auch schlicht vor allem verstecken. Sie legte sich auf den Fußboden in der Mitte ihres Wohnzimmers. Anstelle der Kinks lief nun Urge Overkill. Das war die Band, zu deren wahnsinnigem Cover von Neil Diamonds 'Girl you'll be a women soon' sich Uma Thurman in Pulp Fiction ins Koma gekokst hatte. Diese Jungs waren direkt, schnörkellos und trafen mit einfachen Powerchords genau ihren Geschmack. Sie lag auf dem Rücken. Als sie sich auf die Seite drehte, entdeckte sie unter ihrem Sofa ein zusammengeknülltes Stück Stoff. Sie kroch näher heran und zog das Teil hervor. Es war ein Kapuzenpullover. Er war verwaschen, blaugrau und an den Ellbogen war der Stoff bereits sehr dünn, auf der linken Seite mit einigen kleinen Löchern. Sie setzte sich auf und zog ihn an. Instinktiv wusste sie wem er gehörte. Der Geruch ließ in ihr ein Gefühl von Geborgenheit aufkommen, dass sie so lange nicht mehr gespürt hatte. Es war ein angenehmer Geruch, nach Schweiß, allerdings nicht nach jenem herben Männerschweißgeruch, es war mehr ein süßlicher Duft, der auf eine gewisse Verletzlichkeit schließen ließ. Sie ging in ihr Schlafzimmer. Der Pulli passte perfekt zu ihrer Jeans. Dass er ein wenig zu groß war machte nichts, sie sah aus, wie die typische Besucherin eines Musikfestivals. Sie strich sich den Pulli glatt, strich sich über ihre Brüste und fand sich in diesem Outfit total wieder. 'Die innere Kaputtheit nach außen tragen'. Das war es. Genau das hatte er gesagt. Sie musste wieder an ihn denken. Natürlich hatte sie ihn für einen Dummschwätzer gehalten und eigentlich war sie ja auch nur darauf aus gewesen mit ihm zu schlafen, doch wenn sie genauer nachdachte, hatte er eine Menge wahrer Worte gesprochen. Es ärgerte sie, dass sie sich nicht mehr genau erinnern konnte, denn sie hatte natürlich auch einiges getrunken gehabt.

Entgegen all ihren Gewohnheiten holte sie sich ein Bier aus dem Kühlschrank, nahm den Aschenbecher vom Balkon mit ins Wohnzimmer und setzte sich auf ihr Sofa. Sie zündete sich eine Zigarette an und öffnete das Bier. Es war 15 Uhr. In der Wohnung zu rauchen war ihr immer zuwider gewesen, doch der Pulli schien eine Macht auf sie auszuüben, die Vorsätze, Gewohnheiten und Konsequenzen irrelevant erscheinen ließ. Sie holte sich ihr Macbook. Natürlich war sie nicht bei Facebook, doch sie hatte sich ein alter Ego angelegt um herauszufinden, ob potentielle Auftraggeber dumm genug waren und sich dort mit ihren privaten Photos zu verewigen. Natürlich war er dort nicht zu finden. Als sie ihn googelte, verblüffte sie das Ergebnis, auf das sie nach einigem Suchen stieß.

Er hatte tatsächlich ein abgeschlossenes Studium. Sie fand Bilder seiner Abschlussfeier. Es hatte in seinem Jahrgang wohl so eine Art Forum gegeben, was regen Austausch unter den Studenten ermöglicht hatte und in dem Bilder von Feiern und dergleichen hochgeladen worden waren. Vom ihm konnte sie keine Einträge finden.

Er hatte einen Bachelor of Arts in Geschichte und Soziologie. Sie rechnete nach und musste feststellen dass er, sofern er sie bezüglich seines Alters nicht angelogen hatte, sowohl sein Abi, als auch sein Studium innerhalb der vorgegebenen Zeit durchgezogen hatte. Das erstaunte sie. Er war ihr alles andere als zielstrebig vorgekommen. Auf den wenigen Bildern, die ihn zeigten, wie er inmitten all der freudigen Gesichter scheinbar teilnahmslos sein Bier trank, konnte sie nicht viel von ihm erkennen. Er war wohl circa fünf Kilo leichter gewesen, doch soweit sie sich erinnern konnte war er nach wie vor relativ schlank. Sein Haar war braun und weitaus gepflegter, als es war als sie ihn das letzte mal zu Gesicht bekommen hatte. Seine Augen waren jedoch andere, so schien es ihr zumindest, als jene rehbraunen, vom Schmerz erzählenden, in die sie am Morgen geblickt hatte. Noch vor ein paar Stunden hatte sie ihn gehasst, jetzt spionierte sie ihm nach. Sie nahm einen Schluck aus der Flasche und zündete sich eine neue Zigarette an. Irgendetwas musste mit ihm passiert sein. Sie hatte seine Wohnung gesehen. Nicht einmal der faulste Student wohnte derart armselig. Sie wurde nicht schlau aus sich selbst.

Robert fühlte sich irgendwie erleichtert. Da lag er nun.

Die Kälte war langsam aus seinem Körper gewichen, nachdem er ungefähr 20 Minuten gelaufen war. Er träumte vor sich hin, ging in Gedanken das Gespräch mit Anne Marit durch, die norwegische Wurzeln hatte. Er stellte sich vor wie es wohl wäre mit ihr nach Norwegen zu ziehen. Sie war sicher sehr anstrengend und er neigte zu Fast Food und schlechter Ernährung. Das war natürlich ein Knackpunkt, doch möglicherweise gab es in Norwegen sozial verträgliches Fast Food. In einem Land, dessen soziale Sicherungssysteme derart gut ausgebaut waren musste es viele entspannte Menschen geben. Eventuell ließ sich dort auch ein Job finden, der im Spaß machte und bei dem er nicht andauernd von allen Seiten angekotzt werden würde. Er sah sich schon durch die Wälder ziehen und Bäume fällen. Holzfäller, jeden Tag in der Natur, die nach Wetterlage unterschiedlichen Gerüche wahrnehmend ein Leben fernab all dieser Scheiße hier zu führen, davon ließ sich wahrlich träumen.

Er hatte keine Ahnung wo er war, doch er genoss es durch die Gegend zu wandern. Sein Gefühl sagte ihm, dass er sich auf dem richtigen Weg befand.

Er hatte das Auto gesehen, als es an der Ampel stand. Es war ein Mercedes, ein neuerer. Doch in dieser Gegend, ja, das musste ein Rentner sein. Auch wenn die gewöhnlich ältere Modelle fuhren. Er entschloss sich die Straße noch zu überqueren. War ja auch noch Zeit, die Karre stand an der Ampel und diese Rentner waren ja nicht gerade dafür bekannt, dass sie besonders schnell fuhren. Wie es sich wohl verhielt mit einem Mädchen mit Dreadlocks zu schlafen? Sie mussten kratzen, wenn sie sich aneinander pressten. Vermutlich rasierte sie sich ihren Intimbereich auch nicht. Damit hatte er nicht das geringste Problem. Er selbst trug einen sehenswerten Busch über Big Willie und den Zwillingen. Diese dämlichen Trends, die so viele Ebenen des Lebens beeinflussten. Irgendwann im Laufe der letzten 20 Jahren schienen sich die jungen Generationen gegen alles verschworen zu haben, was gut war. Statt Blues, Rock, oder wenn man ein intellektueller Wichtigtuer war Jazz, was immerhin enormes Talent erforderte, setzte sich beschissene House Musik durch. Boygroups ersetzten Supergroups. Alles ohne Inhalt, ohne Substanz. Clapton spielte nach wie vor Yardbirds oder Cream Klassiker, die Backstreet Boys wollte jetzt schon keiner mehr sehen. Das sagte doch alles. Der Eurodance Mist aus den 90ern lief maximal noch auf irgendwelchen Bad Taste Parties. Teil dieses Planes, dessen Hintermänner er nicht ausmachen konnte, war es auch der Jugend und schließlich der gesamten Gesellschaft einzureden, das Schamhaar entfernt gehört. Wer geht denn schon gerne mit Glatzen ins Bett? Marie, das musste er ihr lassen, hatte immerhin nur gestutzt. Das Gras war zwar gemäht, jedoch nicht verbrannt. Immerhin. Noch ehe er wehmütig wurde, da er mit seinen Ansichten über diese Welt bewiesenermaßen alleine dastand, kam in ihm wieder das süße Gefühl auf, das er zunächst gefühlt hatte, als er Maries Wohnung zum ersten Mal verlassen hatte. Zwei Mädchen, mit denen er sich – und viel wichtiger noch, die sich mit ihm – befasst hatten und das innerhalb einer Woche, das war doch eigentlich ein Indiz dafür, dass er nicht alles falsch machte. Irgendwie röhrte der Mercedes plötzlich unerwartet laut. Er konnte zusehen, wie seine Beine die Straße betraten, während er noch dachte dass, oh Fuck, das eine verdammt dumme Idee war.

Losers' Ball

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