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Darius, seine Maschine und die Bobo Jager

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Es war erstaunlich. Darius fand das heutige Gedicht selber schön! Dabei war es an Seichtheit kaum zu überbieten.

Nichts, was er sich herzuzeigen getraut hätte.

Lag es an der Hitze, die allmählich geeignet war, Wien zur erweiterten ungarischen Tiefebene zu machen? Oder waren es die vielen tief- oder schwachsinnigen Nachtgespräche mit den „Bobo Jagern“, die in letzter Zeit fast ein wenig überhandnahmen?

„Darius, Süßer, wenn du zu lange in der Theorie verweilst, geht die Praxis leise scheißen.“

Irgendwann einmal hatten sie gefunden, zu fünft – sie waren sonst wohl insgesamt zehn, manchmal dreizehn, auch schon mal sechzehn, je nachdem –, es mag wohl um halb drei Uhr morgens vor dem Café Alt Wien gewesen sein, vielleicht aber auch an einem verregneten Samstagvormittag im Café Jelinek, da hatten sie also gefunden, „Bobo Jager“, das sei doch ein guter Name für sie! Eine herrlich doppeldeutige Umschreibung für echte Künstler sei das! Und auch für echte Möchtegernkünstler, kühne Dönerstandphilosophen, Hexen, täglich betrunkene Rationalisten, Endzeitspirituelle. Kurz: ein guter Name für Leute, die sich ständig wegen Sachen stritten, die normale Menschen in der Regel nicht interessierten. Und auch gar nicht verstanden.

Vielleicht doch einfach wegschmeißen, das heutige Gedicht?

Oder wenigstens in den Stapel ganz unten?

Darius betrachtete das eingespannte Papier mit einer Mischung aus übermütigem Trotz und sehr kindlicher, echter Freude. Und gleich darauf kam sie wieder hoch. Schon wieder. Er hasste sie. Er wollte nicht mehr damit leben müssen! Und war aber dann doch ein wenig zu ehrlich, immer schon, um sie einfach vor sich selber zu verstecken: seine Scham. Und die Angst auch. Seine übergroße Angst.

Die Bobo Jager.

Schätzten und überschätzten sich mit Hingabe. Jüngere bis mittelalte Zeitgenossen, meist männlich, die sich im Laufe ihrer zusammen durchwachten Jahre ganz langsam zu so etwas wie Scheinexistenzen entwickelt hatten, unbrauchbar für den großen Rest. Der freie Markt duldete sie ja noch, am Rand, als Kleinkonsumenten. Und doch: Dem alles beherrschenden, weltbürgerlichen Zeitgeist, diesem Kraken, der inzwischen auch Studenten, Geringverdiener und Existenzgründer mit sich riss, wollten sie sich einfach nicht überlassen. Besonders, wie sie waren.

Natürlich konnte es sein, dass es jemand von den anderen aus dem Stapel zog, das heutige Gedicht. So wie sie es oft taten, und dann lasen sie laut vor, viel zu laut, was sie in ihren Händen hielten, nachts, wenn sie mal wieder in seinem Zimmer gelandet waren. Was ihn manchmal ehrte, meistens aber heillos überforderte. Weil er nicht so weit war, einfach klar und deutlich „Nein“ zu sagen.

Mit lautem Ratschen zog er das Blatt aus der Maschine. Und legte es hinten im Regal ganz oben auf den Stapel.

Die Bobo Jager.

Man brauchte solche Leute in der heutigen Zeit nicht. Leute, die sich in Unterschieden wohl fühlten. Leute, die selten waren, störten nun. Mehr als sie wirken konnten.

Nur, wie wurde man die los?

Man konnte sie ja schlecht aus der Stadt jagen. Schon gar nicht aus einer Stadt wie Wien! Früher hatte es sogar zum guten Ton gehört, den einen oder anderen Künstler, die eine oder andere Zeitgeistabtrünnige persönlich zu kennen! Und sei es nur, um sich abgrenzen zu können, genüsslich, von denen. Wenn man vom Nachbartisch her auf ihre palavernden Runden schielte. Im Kaffeehaus. Beim Wirt. Im Foyer.

Seine Maschine.

Er schrieb schon seit Jahren die verschiedensten Formate. Gedichte. Kurzgeschichten. Kleine Erzählungen. Auch ein Theaterstück gab es inzwischen. Aber noch nicht: den Roman! Irgendwann würde er kommen. Irgendwann musste er ja kommen. Irgendwann – war es vorletzten Herbst gewesen? – war er mittags aufgewacht und hatte auf seinem Dachbodenabteil fieberhaft nach der alten Schreibmaschine gesucht. Die seine Mutter auf dem Flohmarkt gekauft hatte. Weil sie zu billig gewesen war. Seine Mutter hatte ein Auge für gute, alte Dinge, besonders wenn sie zu billig waren. Und diese Maschine hatte er ihr weggenommen. Manche Söhne dürfen so etwas. Er hatte sie mitgenommen. Für –

Wer wollte schon wissen, wofür?

Er hatte sie erst nicht halb so sehr geschätzt, wie seine Mutter gehofft hatte. Hatte sie deshalb gelangweilt oben auf seinem Dachboden verstaut, wieder zurück in Wien.

Aber an einem Mittwochmorgen wollte er plötzlich seine Gedichte nur noch mit einer Maschine schreiben. Mit genau dieser Maschine. Man konnte ein Gedicht nicht am Computer schreiben! Nie mehr, ab jetzt.

Er forderte, dass man sich künftig vorher überlege, was man zu sagen habe, er wollte, dass schon das fehlerhafte Schriftbild, die noch nicht fertige Form, den Lesern sofort zeige, dass das Momentaufnahmen waren! Nicht mühselig verdichtetes Material. Nicht schwächelnde, tausendmal neu formatierte Gewächse!

Er wollte jeden Tag eines schreiben.

Was ihm in guten Zeiten auch gelang.

Und schon nach kurzer Zeit sah man, dass seine Gedichte jetzt unmittelbarer wirkten, viel lebendiger sprachen als noch vor seiner Schreibmaschinenepoche. Als zeitgenössischer Dichter hatte Darius Pettrich daraufhin natürlich sofort das „neue mechanische Zeitalter“ ausgerufen, hatte sich unter den Bobo Jagern viele Nachahmer erhofft. Stattdessen aber jedes Mal Gelächter geerntet, wenn er davon erzählte. Weshalb er das Ausrufen wieder bleiben ließ.

Nur ab und zu, wenn sie alle wieder einmal in seinem Zimmer gelandet waren, entdeckte natürlich immer einer die alte Schreibmaschine. Im obersten Fach des schäbigen Regals. Und daneben den Stapel mit seinen Tagesgedichten.

„Geh bitte, wofür brauch ich um die Zeit noch eure vollkommen depperten Meldungen?“

Natürlich saß man heutzutage viel mehr draußen. Erst recht im Sommer. Die Weinkanister in den Parks, die mitgebrachten Flaschenbiere in den drahtseilgesicherten Schanigärten. Nach Sperrstunde. Bis irgendwo immer ein Fenster aufging.

„Könnts ihr jetzt einmal die Bappm halten, da drunten!“

„Bittä, bittä, Porca Madonna! Bambini nixe schlafe, immär, immär dumme spreche und singe, halte sie bittä, bittä die Goschn, subito! Stupide! Porca Madonna!“

Er zog das vorhergehende Gedicht aus dem Stapel. Es war schon drei Tage alt. Und er verstand noch immer kein Wort davon.

Wieder zurückgedacht,

sich wieder eingefunden

Alles bezahlt, viel ausgegeben, soweit

Zurück, er hat sich wieder eingefunden

Jetzt ist Unten, hier ist Tief,

dort ist Oben

Schon ganz zu sehen, alle Blicke,

alle Weite, jetzt

Unten bleibt eins, und bleibt jetzt,

dort ist oben

Wieder und wieder, weiter,

und weg, nach weiter

Kann da eine stille Weile,

kann alles sein, soweit

Dort bleibt aber Oben,

und alles will als ich

Nach weiter!

Ja, das war ganz … nun, wie war es denn? Sinnlos?

Gut möglich.

Und wenn schon! Das muss doch möglich sein! Dass man jeden Tag anders schreibt. Dass man jeden Tag anders ist. Und anders lebt, anders geht, anders denkt, alles! Anders.

Die vorderen Hände

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