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Die Bobo Jager und der alte Kaiser

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„Schau, Darius, Bruder. Ich will auch niemanden umbringen, niemand hier will irgendwen umbringen! Wie soll das gehen? Wir sind acht Millionen in Österreich –“

„Ich hab gehört, fast neun?“

„Wurscht. Jeder kennt hier jeden. Da ist die Hemmung viel zu groß. Aber man wird doch noch davon träumen dürfen, dass man einmal zu anderen Mitteln greift als immer nur zu dieser depperten Provokation!“

Fünf Gestalten, diesmal alle männlich. Im Wiener Burggarten, gleich hinter der neuen Hofburg, zu Füßen des gütigen, alten Kaisers Franz Joseph. Es war bereits dunkel. Seit dem späten Nachmittag tagten sie, und waren strengen Willens, weiter zu tagen und zu nachten. Bis zum frühen Morgen, bis zum immergleichen, trotzigen Ende des allerletzten Abers.

Man saß lose im Gras. Nur einer lag, und atmete gerade die Reste eines tiefen Marihuanazuges aus. Zwei waren einander näher, auch im echten Leben. Im fahlen Zwielicht des kleinen städtischen Parks fand jedes Wort sein Widerwort, und wäre der Kaiser als einziger Zeuge nicht schon in Bronze gegossen gewesen, er hätte inmitten dieser viel zu warmen Spätsommernacht das Zeitliche gesegnet. Aus reiner Verzweiflung. Über seine Kinder, sein Volk. Diese Menschen.

„Es kommt doch schlicht und ergreifend nur darauf an, was man erreichen will, nicht? Wir jedenfalls scheitern schon daran, dass wir das zwar gar nicht genau wissen, aber immerhin seit ungefähr hundertfünfzig Jahren darüber diskutieren!“

„Geh, Darius, so würd ich das jetzt nicht sagen.“

„Genau. Echt nicht.“

„Na gut, seit hundertvierzig. Hey, wir wollten doch als Bobo Jager erreichen, dass viele von diesen Irrgängern sich endlich wieder auf sich besinnen, sich mit uns zusammentun, und dass wir gemeinsam eine neue Gesellschaft entwickeln. Mit einem ganz anderen Bewusstsein als Grundlage.“

Da war zwei Minuten nicht viel darauf zu sagen.

„Das Problem sind die anderen. Der Rest.“

Sagte der eine der beiden, die sich näher waren.

„Ja, der Rest.“

Sagte der andere.

„Und der Rest, die normalen Alltagszombies, die werden nicht lange herumfackeln. Die werden doch mit Gewalt verhindern wollen, dass man ihnen ihre selige Einfalt infrage stellt oder sogar wegnimmt!“

Darius sprang auf und drehte sich wild gestikulierend um sich selbst.

„Aber genau da sind wir doch bei mindestens drei Fragen: Wollen wir die Bobos nur provozieren oder wollen wir sie ernsthaft auf etwas aufmerksam machen, nämlich darauf, dass eine andere Welt hermuss? Und dass sie die mit uns gemeinsam zusammenbauen müssen, weil wir die Ideen haben, und sie das Geld?“

„Und den Einfluss.“

„Und den Einfluss. Meinetwegen. Stimmt eh.“

„Und die Strukturen.“

„Ja, die Strukturen auch! Gegrüßet seist du, Maria! Und die nächste Frage ist: Was heißt denn eine ‚neue Welt‘ überhaupt? Heißt das, dass wir bloß eine neue österreichische Welt wollen, oder gar nur eine neue Wiener Welt? Oder muss es um die ganze Welt gehen? Das finde ich nämlich schon, sogar ganz gewaltig! Aber dass es eben hier in Österreich losgehen muss mit dem neuen Geist?“

„Das waren sechs Fragen.“

„Ich hab zwei gezählt. Vielleicht kommst du langsam auf die dritte, Darius.“

„Ihr regts mich dermaßen auf, dass ich auf der Stelle sterben möcht! Ich hab gemeint, dass noch nicht einmal ganz klar ist, wen wir meinen, was wir von denen wollen, und wie wir das erreichen wollen! Und dann ist ja auch noch einmal die Frage, was mit einem ‚neuen Geist‘ überhaupt gemeint ist!“

„Aber das haben wir doch auch schon geklärt. Letzte Woche irgendwann! Oder täusch ich mich?“

Fragte der eine der beiden, die sich näher waren.

„Ja, du hast einen Monolog gehalten, dem am Schluss keiner mehr widersprochen hat. Aus Erschöpfung. Das nennst du natürlich wieder ‚geklärt‘!“

Sagte der andere.

„Leut’, es geht wirklich darum, und zuerst einmal nur darum, was wir wollen!“

„Darüber reden wir doch schon seit Tagen, fast ununterbrochen!“

„Jetzt übertreib nicht dauernd.“

„Noch einmal.“ Darius kam langsam, aber sicher an seine Grenzen.

„Es war vorhin immerhin schon die Rede von Gewalt. Und nur darum geht es: Darf das, was wir wollen, irgendwann sogar mit Gewalt umgesetzt werden? Ja, weil es keine andere Wahl gibt, vielleicht? Und muss es genau deshalb sogar mit Gewalt umgesetzt werden?“

„Also durchgesetzt.“

„Was?“

„Deine Wortwahl legt ja schon nahe, dass hier nicht etwas umgesetzt werden soll, sondern durchgesetzt.“

„Ist doch vollkommen egal! Also dann von mir aus: durchgesetzt! Wo war ich jetzt?“

„Beim Durchsetzen.“

„Geh, kannst du jetzt bitte einfach einmal die Bappm halten und ein bissel Schmusen gehen?“

„Siehst, wie du schon drauf bist! Das wird eine feine neue Welt, na servus!“

„Oder?“

„Was, oder?“

„Du hast gesagt: Muss es mit Gewalt umgesetzt werden. Als Frage. Und dann kommt doch noch das Oder. Oder nicht?“

„Ja, oder eben nicht! Also keine Gewalt. Weil das, was wir umsetzen wollen, auf keinen Fall auf einer Gewalt, also auf Durchsetzung, beruhen kann. Das kann ja auch sein. Und das hängt auch stark davon ab, was einer überhaupt will. Oder was alle zusammen wollen! Falls das überhaupt je geklärt werden kann.“

„Darum geht es ja. Es ist doch schon in sich unmöglich, dass alle zusammen etwas wollen, zumindest das Gleiche. Das geht nicht. So ist der Mensch nicht. Und die nächste Frage ist ja auch: Ist das gut oder schlecht?“

„Ich kenn mich nimmer aus, Oida. Ich geh wirklich bald schmusen.“

„Und was ist Gewalt überhaupt? Die fängt ja bekanntlich schon sehr früh an.“

Darius drehte sich wirklich im Kreis.

Alle drehten sich im Kreis.

Nicht nur jedes ihrer Gespräche. Und sie merkten es, wussten aber nicht, was sie dagegen machen sollten. Wenn er allein war, schien die Sache überhaupt kein Problem zu sein. Es war doch völlig klar, dass es so nicht weitergehen konnte. Mit allem. Und es war auch völlig klar, dass sich deshalb alles ändern musste. Jetzt ging es nur noch um die Frage, was genau sich ändern musste. Und wer es ändern musste. Und wie es sich ändern ließ.

Darius selbst hatte da ganz klare Vorstellungen: Es musste über Bewusstwerdung gehen! Denn daran war doch alles Bisherige gescheitert. Es war nicht diese besondere Bewusstheit da, mit der jede große Veränderung einherging.

Ein neues Bewusstsein musste also her, und zwar schnell! Jetzt war er aber auch nicht blöd. Er wusste doch ganz genau, dass so ein Bewusstsein nicht einfach von einem Tag auf den anderen entstand. Sondern nur durch beharrliches Arbeiten. Und das am besten nicht allein, sondern zusammen mit Gleichgesinnten! Er war sich nur nicht ganz sicher, ob diese Bobo Jager dafür die richtigen Gleichgesinnten waren.

Waren die denn an wirklicher Veränderung interessiert?

Diese immergleiche, träge, halbherzige Nachsicht mit sich! Und die kaltherzige Ungnädigkeit mit allen anderen. Dazwischen, nach außen geheuchelt, ein unerträglich beliebiges Verstehen von allem und jedem, das immer nur auf kindischen Gefühlen und Bedürfnissen beruhte, gnadenlos und auf allen Ebenen: Wenn ich dich verstehe, musst du aber mich auch verstehen! Und nicht einmal als offenes Geständnis. Sondern als bange, feige Erwartung an die Welt.

Dieser Zeitgeist ließ nicht viel Spielraum, da war sich Darius ganz sicher. Und das spürten vielleicht auch diese Bobo Jager. So wie es jeder andere Mensch da draußen spüren musste, wenn er nicht zu jung, zu alt oder vollkommen blöde war. Das Problem war allerdings, dass die meisten zu jung, zu alt oder vollkommen blöde waren.

Natürlich konnte man sagen, es sei viel zu schwer für den Künstler, in der Gesellschaft so einen Prozess anzustoßen. Erst recht in Wien. Auch wenn Dieter immer wieder meinte, gerade in Wien sei so etwas doch viel leichter zu machen!

Wien war in jedem Fall eine Stadt der Kunst. Aber genau darin lag doch auch das Problem. Was war Kunst? Wozu diente sie? Und welche Kunst hätte Wien oder die Welt denn je verändert? Wo konnte Kunst denn überhaupt etwas ändern? Meistens war sie doch nur Ausdruck oder Ergebnis einer Veränderung! Also irgendwie doch nur hintendran?

Natürlich konnte man sagen, genau die Tatsache, dass Hitler kein besserer oder glücklicherer Postkartenmaler gewesen war, hatte leider dazu geführt, dass er sich eben etwas anderes ausgedacht hatte. Leider nicht zum Wohl der Welt.

Aber hätte eine bessere Kunst den Schrecken verhindern können?

Theresa hatte dazu meistens nur müde gemeint, dass dann eben ein anderer gekommen wäre. Und vielleicht hatte sie recht.

Trotzdem. Darius wusste, dass er gerade in Wien nicht am falschesten Platz war, wenn er als Künstler zusammen mit anderen Künstlern dafür sorgen wollte, dass von der Kunst eben nicht Faschismus, Völkermord und ein Weltkrieg ausgehen würden, sondern eine neue, friedliche und goldene Zeit! So gesehen fühlte er sich regelrecht verpflichtet, an der Welt wieder etwas gutzumachen. Gerade mit erfolglosen Künstlern zusammen! Gerade in Wien!

Eine neue Ordnung! Da wollte er dabei sein! Unbedingt.

Darius Pettrich war zutiefst davon überzeugt, dass jeder Schaffensprozess etwas zutiefst Kollektives in sich trug. Er glaubte fest daran, dass nicht Einzelne etwas aus sich heraus schöpften, sondern, dass große, entscheidende Gedanken einem bestimmten Menschen immer nur „zugedacht“ wurden, der just in diesem Moment anderen voranging. Der gerade aus irgendeinem guten Grund ganz vorne stand. Und was für eine Gnade, wenn dieser Mensch dann ein Bewusstsein dafür hatte, dass er nicht alleine war!

„Du musst dir das vorstellen wie einen Eimer Löschwasser, der durch viele Hände gereicht wird, bis ganz vorne jemand damit das Feuer löscht. Da kannst du auch nicht sagen, dieser eine Mensch hat das gelöscht, oder?“

„Und das soll jetzt heißen, dass der Beethoven seine Sinfonien gar nicht selber gelöscht hat?“

„Doch, ich glaube schon. Aber eben nicht alleine.“

Darius hatte gerade dem Kaiser Franz Joseph ans Bein gepinkelt, als er den anderen, unverhofft, nach nur dreizehnstündiger Diskussion, mitteilte, dass er nun müde im Kopf sei und jetzt ein wenig allein sein müsse. Wenn auch allein unter vielen anderen, in den Gassen, in der Innenstadt. Dort wollte er sich ein wenig die Beine vertreten, „ein paar frische Momente sammeln“.

Er liebte sich für solche Ausdrücke. Über alles.

Die vorderen Hände

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