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Versuch zu dritt

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Nur seine elektrisierenden Gedanken an mögliche Ereignisse der kommenden Nacht mit Karla konnten Anton jetzt von gröberen Gangarten abhalten. Mit verschränkten Armen und Beinen und einem vollen Glas Rotwein saß er auf dem im Quadrat laufenden, schwarzen Ledersofa. An den schlichten, kalten Kachelofen gelehnt, gähnte er oft und völlig unverhohlen.

Darius war aufgekratzt genug, und obendrein an offene Geringschätzung gewöhnt. Also sah er gerne darüber hinweg. Karla tat sich mit sowas schwer. Vielleicht hasste sie es deshalb so sehr, vor ein Orchester zu treten.

„Und du bist hier wirklich öfter, Karla?“

Die hatte Skrupel, zuzugeben, wie viel ihr Antons Küche bedeutete. Darüber hinaus war ihr im Moment schleierhaft, warum sie Darius unbedingt hatte hereinlassen wollen. Es war leichter, eine afrikanische Blaskapelle in die Wiener Staatsoper zu bringen, als zwei solche Existenzen an einen Tisch.

„Na ja, was heißt ‚oft‘? Ab und zu halt. Wenn grad Zeit ist, und ein Tisch frei.“

Sie ging auf dünnem Eis. Anton merkte es. Darius runzelte die Stirn.

„Der Wein hier ist der Hammer. Ich mein’, ich versteh nicht viel von Wein, aber der hier ist der Hammer! Das geht schon ganz schön ans Geldbörsel, oder?“

„Du, sie bestellt immer das Gleiche. Rehravioli. Das ist das billigste Essen hier. Da brauchst dir also keine Sorgen machen, Dichter!“

Karla verengte ein wenig die Augen. War ihr Anton zur Seite oder fiel er ihr in den Rücken? Sie betrachtete erst oben die vergilbte Deckenstruktur und warf Darius dann mit gekonnter Kopfdrehung ein neues Thema ins Gesicht.

„Was machen denn grad die Bobo Jager?“

Es war leider nicht das richtige Thema. Eigentlich war es das falscheste überhaupt. Und eine Antwort war vorerst nicht zu erwarten. Als ob er nur darauf gewartet hätte, erhob Anton Roggen sich langsam, streifte die weiß-blau gestreifte Kochschürze glatt und blieb so stehen. Mit den zahlreichen Flecken darauf sah er aus wie ein Metzger.

„Die was?“

„Die Bobo Jager!“ Darius gab den jugendlichen Stürmer. Wenn auch auf dem Platz des Gegners.

„Meine Bürgerschreck-Bodentruppe. Du erinnerst dich.“

„Wenn ihr euch nochmal in diesen Laden traut, hau ich euch allen den Schädel ein, hast mich verstanden, Dichter?“

„Hey, Anton, entspann dich bitte. Ich glaub, du siehst nicht ganz, was wir eigentlich ausdrücken möchten. Hier gehts doch überhaupt nicht um dich persönlich!“

„Ich hab dich gefragt, ob du mich verstanden hast.“

Anton machte einen Schritt auf den Tisch zu.

Der hagere, junge Dichter sah zu Karla, die saß stumm auf rohen Eiern, auf Kohlen, wie auch immer. Dann nahm er Antons Angebot an.

„Ah ja! Ich hab dich schon verstanden. Und falls du auch noch irgendwas anderes kannst, als den potenten Patron raushängen lassen, würd ich dir gerne mal erzählen, was wir hier in Wien erreichen wollen.“

Anton war tatsächlich stehengeblieben und sah den jungen Mann ungläubig an, der sich jetzt von seinem Platz am Tisch erhob, und dabei ganz und gar nicht aussah, wie einer, der die Segel streichen wollte.

„Und wenn du ein Freund von Karla wärst, der ihr auch nur halbwegs das Wasser reichen kann, dann würdest du nämlich zustimmen! Dann würdest du dir das erst anhören, und am Ende würdest du nicht anders können.“

„Aha.“

„Ja, spiel ein bissel den erwachsenen Macker – ihr schaut uns alle von oben herab an. Aber du weißt genau, wenn du ehrlich bist, dass es so nicht mehr weitergeht! Hier in Wien nicht, und in Österreich und auf der ganzen Welt auch nicht.“

„Aha?“

Anton war mehr im Balzmodus als im Begriff echter Gegenwärtigkeit. Das war er ohnehin nur, wenn er kochte. Aber er stand da und hörte zu. Tatsächlich. Und Darius setzte sich wieder. Als hätte er vergessen, warum er aufgestanden war. Er trank von seinem Wein, lehnte sich zurück. Was genau hatte er sagen wollen? Es war nicht leicht, sich in diesem eigenartigen Terrain zu behaupten. Trotzdem wurde er den Eindruck nicht los, dass er hier jemandem begegnet war, der ihm am hilflosen Herzen lag. Es konnte gut sein, dass er irgendwann ein Gedicht darüber schrieb.

Er wechselte den Ton. Ruhiger jetzt, doch ohne jede Wärme.

„Ihr wisst das alle eh ganz genau. Dass ihr noch immer auf ein Pferd setzt, das schon lang lahm ist. Und dass ihr in einem Schiff sitzt, das ohne Orientierung herumtreibt, auf einem leblosen Meer. Und jeder kann den Orkan riechen, der jetzt im Anmarsch ist. Stimmts? Oder stimmts nicht? Euer kleines Paradies ist doch längst verkommen, bis hinein in die kleinsten Hütten. Lauter tote Winkel.“

Anton grinste, beinahe anerkennend.

„Jetzt reißt du dein Maul schon ein bissel weit auf, findst nicht?“

„Nein, find ich nicht. Schau dich um, wenn du dich traust: Heut geht diese Stadt selber auf den Strich, auf und ab stolziert sie und bietet sich an, rund um die Uhr, aufgedonnert, abgefuckt! Als eine einzige große Reue. Objekt neben Objekt, zum täglichen Verkauf verdammt, zu gnadenloser Werbung, zu allem, was gutes Geld bringt. Zu einer geschmacklos angepinselten, kaputten Hurenstadt haben sie Wien gemacht!“

Karla sah Darius an. Für solche Worte liebte sie ihn. Ein bisschen. Und nur dafür. Aber das reichte.

Es reichte seltsamerweise auch dafür, dass sie plötzlich eine ebenso unerklärliche wie unwiderstehliche Lust hatte, einfach aufzustehen und das Restaurant zu verlassen. Wortlos. Auf diese Weise, die nur sie beherrschte. Sich dann noch ein wenig treiben zu lassen, durch Wien, das verkommene Paradies, und später, allein, noch ein Glas mit Ferdinand zu trinken.

Erlösung.

Immer wieder dachte sie dieses Wort. Schon so lange.

Jetzt wieder. Erlösung.

Und nie wusste sie, warum sie dieses Wort dachte, und was es für sie bedeutete. Manchmal gab es in ihr solche Worte.

Vielschichtig. War auch so eins. Oder Siedepunkt.

Aber sie blieb sitzen.

„Und du sitzt nicht mit auf dem Schiff, oder was? Und dein Paradies ist nicht verkommen? Du bist ein zahnloser Löwe, ein schwanzloser Freier! Lass dir das von einem mittellosen Koch sagen.“

„Der anscheinend ein Meister ist. Nein, mich beleidigst du nicht, Anton. Ich sitze in dem gleichen Drecksdampfer wie du, ich hab den Bauch voll mit Dynamit, genauso wie du, und genauso wie alle anderen, die in diesem Scheinfrieden herumtorkeln, als ob es kein Morgen gäb. Aber ich tu wenigstens nicht so, als ob es nicht wahr wär! Und ich versuche, was zu machen, irgendwas da draus zu machen, damit es weitergehen kann auf der Welt!“

„Ja, eh. Versuch du, was du versuchen musst. Ich hab dir gesagt, dass ich deine Guerillatruppe hier nicht mehr sehen will. Fertig. Und ich geh jetzt so langsam nach Hause. Ein potenter Patron muss nämlich ziemlich hart arbeiten für sein Ticket auf diesem Drecksdampfer.“

Er sah nicht zu Karla hin, hatte gerade genug Feingefühl, sie jetzt nicht mit seinem Anspruch auf die kommende Nacht zu konfrontieren. Stattdessen trat er an den Tisch, kippte wie nebenbei die verwaiste, kleine Vase um. Sie war noch halb gefüllt mit Wasser. Wofür gab es Putzfrauen? Dann ergriff er die beinahe leere Weinflasche und nahm sie mit hinüber zur Lederbank, wo sein leeres Glas auf dem Boden wartete.

„Wer ist Roxane?“

Darius schickte ihm einfach eine Frage hinterher, in den Rücken, genau auf diese Art, der man nicht widerstehen konnte. Er konnte seinem Gegenüber eine Aufmerksamkeit schenken, die jedem sofort das Gefühl gab, etwas Besonderes, ja, tatsächlich von Interesse zu sein! Vielleicht hatte das damit zu tun, dass der hagere, junge Mann mühelos zwischen Vordergrund und Hintergrund wechseln konnte, wenn er mit jemandem sprach? Er kannte die lockernde Wirkung seiner Sprunghaftigkeit gut und setzte sie besonders dann ein, halb bewusst, halb naiv, wenn er sich unsicher fühlte.

„Das geht dich einen Scheißdreck an.“

„Anton, he, bitte!“ Karla wusste nicht mehr, was sie zwischen all den ungleichen Stühlen noch zu suchen hatte. „Mich interessiert das auch. Sag schon. Woher kommt der Name? Eine Frau, die du gekannt hast?“

„Nein. Ein Film. Eine Frau aus einem Film. Mit Gérard Depardieu.“

„Dieser Römerfilm, wo er als einfacher Centurio eine Rebellion anzettelt?“, fragte Darius. „Hab den Titel vergessen.“

Er sagte es so, wie es kam. Und in Anton bebte plötzlich ein winzig kleiner Riss. Darius wusste gar nicht, wer Gérard Depardieu war. In seinem Inneren mischten sich aber die verschiedensten Bildangebote. Robert de Niro, Kirk Douglas, Paul Simon, Jean Reno … lauter Althelden aus der Generation seiner Großväter.

„Depardieu hat nie einen Römerfilm gemacht. Schon gar nicht ‚Spartacus‘.“

Sagte Anton. Leise. Mit zitternder Stimme? Er fühlte sich so schlagartig in den Traum der letzten Nacht gezogen, dass er gar nicht genau hätte sagen können, wo er gerade wirklich war. Und wie kam der Flegel überhaupt dazu, diese Verbindung –? Meine Stimme. Sie sollte lauter sein.

„Der Film heißt ‚Cyrano‘!“

Ja, so war es besser.

„Stimmt! Spartacus hieß der Film.“

Darius stand auf und ging langsam mit seinem Weinglas hinüber zur Lederbank, zu dem dicken, blutverschmierten Schlächter dort.

„Und in Cyrano kommt also eine Roxane vor? Erzähl!“

Da saß er schon. Vielleicht zu nah.

„Schau ihn dir selber an, ich bin nicht gut im Erzählen.“

„Cyrano? Ist das nicht ein Theaterstück? Ich hab das mal als junge Frau gesehen.“

Anton grinste nur, trank, aber Darius lachte.

„Ja, das ist sicher ewig lang her!“

„Als ganz junge Frau, du Dodel. Das ist sicher sieben, acht Jahre her!“

Lachen und Gereiztheit rangen in Karla um die wenige Luft. Noch hielt sie sich.

„Mir hat das jedenfalls überhaupt nicht gefallen. Damals. Ich glaub, heut wär es anders.“

„Und? Kannst wenigstens du mir gnadenhalber sagen, worum es in diesem geheimnisvollen Stück geht? Cyrano! Oder muss ich das heut Nacht im Netz nachlesen?“

Darius gab sonst gerne den Leichten, den Fliegenden. Und meistens war er zufrieden mit dem Trugbild eines Ahnungslosen. Oder mit dem des faulen Wanja auf dem Ofen, der ungeliebte Junge, der es faustdick hinter den Ohren hatte. Der es später allen zeigen würde. Den aber niemand aus seinem Welpenschutz herausreißen durfte, auf keinen Fall, nicht vor der Zeit.

Aber hier ging es um Dichtung. Und Literatur!

Ausgerechnet jetzt wie ein völliger Anfänger auszusehen, war ihm wirklich unangenehm. Unpassend auch, fand er.

„Nein. Schau dir den Film an.“ Anton rülpste. „Da kann kein Theater mithalten.“

„Wieder diese alte Arroganz der Sofaglotzer, die in ihrem Leben vielleicht zweimal im Theater waren! Einmal mit der Schule und einmal im Weihnachtsmärchen. Ach, was red ich.“

Karla war nicht auf Diskussionen aus. Aber ganz ohne Widerspruch? Darius lächelte. Anton nicht.

„Hast du den Film gesehen, Karla?“

„Nein.“

„Also. Was regst du dich auf? Der Film ist der Hammer, und ich glaub halt, dass da nichts drüber kann. Basta! Schaut ihn euch an.“

Karla stand auf. Sie saß sowieso nur noch allein am Tisch. Es war genug, und sie war zu müde. Für alles. Auch für den späteren Anton. Und sie machte es wie immer. Fast.

„Ich muss ins Bett. Wir sehen uns sicher bald.“

Kurz deutete sie ein Winken an, hinüber zur Bank, zum Kachelofen, zu den beiden Herren. Einer in verschmierter, weißer Kochkluft, einer in beliebigem Sommeralltag. Einer dick, älter und finster großnasig, einer schmächtig, jung und auf den ersten Blick ohne besondere Merkmale.

Beide übrig. Jetzt, wo Karla sich ohne ein weiteres Wort durch den schweren, weinroten Vorhang schob, und nur das leise Beben der massiven Tür hinterließ. Beide mit dem gleichen Gedanken: Karla!

Beide ihn sofort verwerfend. Beide in stiller Beklemmung.

Der Andere?

„Du weißt auch, wo die Tür ist, oder? Nix für ungut.“

„Ja, sicher. Ich find vielleicht auch allein raus. Danke für den Wein.“

„Ist schon recht.“

„Anton?“

Keine Antwort.

„Ich dachte, der Name kommt aus dem Song von Sting.“

Anton blickte nicht auf.

„Welcher Name?“

„Roxane.“

„Ach so. Nein.“

„Ja. Schon klar.“

Und.

„Anton, ich würd dir das wirklich gern erklären.“

„Was?“

„Die Bobo Jager.“

„Heut nimmer.“

„Darius?“

„Ja?“

„Servus.“

„Servus, Anton.“

Die vorderen Hände

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