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8. Im Interspatium

Kaum war das Mittagessen vorbei und die hungrigen Mäuler gestopft (was auf Edelmund und Ottokar nicht zutraf, da sie zu spät kamen und nur noch letzte Reste vorfanden), ging es in die nächsten Unterrichtseinheiten.

Die Schüler der Metatron-Klasse begaben sich in Richtung „Interspatium“. Hier wurden sie schon von Madame Zetha Zethissima erwartet.

»Setzt euch«, klang es von vorne. Da Madame Zetha Zethissima nicht die größte Person war, wurde sie von dem hoch aufragenden Katheder fast gänzlich verdeckt. Doch die leicht schimmernde, blaue Aura, die sie umgab, ließ stets erkennen, wo sie stand. Zudem gab sie sich alle Mühe, auch durch ihre Stimme wahrgenommen zu werden. Das Einzige, was oberhalb des Katheders hervorkam, war ihr Gesicht und das Birett mit der langen Pfauenfeder auf ihrem Kopf.

»Ich begrüße euch herzlich zu unserer ersten gemeinsamen Stunde.« Als gelte es, keine Sekunde zu verlieren, ging sie sofort zur Tagesordnung über und kam zum ersten interessanten Thema. »Heute werde ich euch in alle notwendigen Gepflogenheiten einweihen, die wir für Translocationen und die Durchschreitung von Zwischenräumen benötigen.«

Während sie das sagte, blickte sie lächelnd in die Runde, als wollte sie damit den Schülern den ersten Schrecken nehmen.

»Da sind sie schon wieder, diese Zwischenräume«, flüsterte Justus Pauline zu, die sich neben ihm niedergelassen hatte.

»Für die Technik des Zeitraumsprungs wie es auch heißt, denn um nichts anderes handelt es sich, braucht es genau zwei Dinge. Ihr benötigt den richtigen Zielspruch. Dazu ist es wichtig, eure Konzentrationsfähigkeit zu schulen, damit die Konzentration auf das Ziel in dem Moment des Zeitraumsprungs auf keinen Fall nachlässt.«

Madame Zetha Zethissima trat hinter dem Katheder hervor und schaute recht bedeutsam durch die Klasse.

Als sie die fragenden Blicke der Schüler sah, setzte sie hinzu: »Ihr braucht gar nicht so ungläubig zu gucken, es hat Fälle gegeben, da haben wir tagelang nach einem verlorenen Schüler im Zwischenraum herumsuchen müssen, bis endlich ein Lehrer den Schüler unter Aufbringung all seiner magischen Fähigkeiten wieder in unsere Welt holen konnte. Nur weil er seine Konzentrationsfähigkeit nicht hinreichend trainiert hatte.«

»Immer diese Zwischenräume«, stöhnte Justus, »ich möchte langsam mal wissen, was ich darunter zu verstehen habe und wo sie eigentlich sind. Ich hab‘ hier noch keinen gesehen.«

»Das werdet ihr sofort erfahren«, antwortete Madame Zetha Zethissima prompt. Justus fühlte sich ertappt.

»Also, Translocationen verlaufen auf folgende Weise…« Damit hob sie zu einigen Erläuterungen über diese Art der Fortbewegung an, wie sie vor sich gehen und wie Zwischenräume am besten überwunden werden können und wie eine punktgenaue Landung am Zielpunkt einer Translocation zu bewerkstelligen ist.

»An dieser Stelle muss ich einen kleinen Exkurs über die Zeit machen. Sie spielt bei den Translocationen eine große Rolle. Was ist Zeit überhaupt?«

Martin schaute seinen Bruder verdutzt und fragend an. Doch auch Erik wusste im Augenblick nicht, was gemeint war. Anderen erging es ähnlich. Was sollte das mit der Zeit? Wieso spielte Zeit bei den Translocationen überhaupt eine große Rolle?

»Ich bin mir bewusst, dass das, was jetzt kommt, sich komplizierter anhört, als es ist«, fuhr Madame Zetha Zethissima fort. »Aber ihr müsst die Zusammenhänge kennen lernen, damit ihr wisst, was ihr tun müsst, wenn ihr euch durch die Zeit und den Raum bewegt.«

Durch Zeit und Raum bewegen, jetzt wurde es interessant. Miriam hatte ihr Kinn in ihre Hände gestützt und war ganz Ohr. Nichts konnte sie ablenken, selbst Martins ständiges Gehampel nicht.

»Seid euch bewusst, die Zeit fließt. Sie fließt auf einem Zeitstrom von der Zukunft über die Gegenwart in die Vergangenheit. Natürlich ist auch das nur ein Gedankengebäude.«

Den meisten Schülern stand ein großes Fragezeichen im Gesicht. Madame Zetha Zethissima beobachtete, ans Pult gelehnt, ihrerseits die Reaktionen ihrer Zuhörerschaft.

»Stellt euch einmal vor, ihr steht an einem großen Fluss, auf dem Schiffe fahren, und der Fluss ist dieser Zeitstrom. Und von eurem Punkt am Ufer spannt sich eine imaginäre Linie quer über den Fluss zum anderen Ufer. Ein Schiff kommt nun und steuert auf diese Linie zu. Es nähert sich praktisch aus der Zukunft auf die Gegenwart zu. Euer Standpunkt am Fluss ist der Augenblick der Gegenwart.«

Martin kratzte sich am nachdenklich Kopf. Gegenwart, Zukunft, Vergangenheit - und das zugleich. In seinem Kopf begann alles durcheinanderzuwirbeln. Leise flüsterte er zu Miriam: »Kapierst du das, was Madame Zetha da vorne sagt? Zeit fließt und die Zukunft fließt! Ja, wo fließen sie denn hin?«

Miriam schaute angestrengt nach vorne und machte nur: »Pscht«, um nicht weiter gestört zu werden.

Auch andere Schüler hatten ihren Kopf auf beide Hände gestützt und versuchten Madame Zetha Zethissima einigermaßen gedanklich zu folgen. Ob es ihnen gelang, Martin hatte so seine Zweifel. Als er sich im Raum umsah, erblickte er nur fragende Gesichter um sich herum.

Madame Zetha Zethissima fuhr jedoch unbeirrt fort, die Zeit zu erklären. »Hat das Schiff euch und eure Linie erreicht, so ist es augenblicklich in der Gegenwart und in der nächsten Sekunde schon in der Vergangenheit.«

»Aber«, meldete sich Justus zu Wort, »ich sehe das Schiff doch noch, und ich befinde mich in der Gegenwart, das haben Sie jedenfalls gerade gesagt. Also ist es noch in der Gegenwart!?«

Madame Zetha Zethissima war gleichzeitig überrascht und erfreut über die kritische Anmerkung. »Natürlich siehst du es noch. Aber beim Überschreiten der Gegenwartslinie liegt es schon unmittelbar in der Vergangenheit. Es ist vorbei! Auch das Wasser, das mit dem Schiff vorbeifloss, ist nicht mehr dasselbe. Unaufhörlich fließt neues Wasser aus der „Zukunft“ auf euch zu in die „Gegenwart“ und verschwindet in die „Vergangenheit“.«

In der Klasse war es still. Solche Gedankenexperimente waren für alle totales Neuland. Wer das verstand, war hier klar im Vorteil.

»Schon der alte griechische Philosoph Heraklit hat gesagt, man kann nicht zweimal in denselben Fluss steigen. Weil das Wasser, das den Fluss zum Fluss macht, ständig neues Wasser ist.«

»Aber es ist doch ein und dasselbe Wasser und damit ein und derselbe Fluss…«, warf ein anderer Mitschüler ein.

»Das ist richtig«, bestätigte Madame Zetha Zethissima. »Aber es kommt immer wieder neues Wasser nach. Und so wie das Wasser fließt, so fließt auch die Zeit. Aber wir müssen die einzelnen Zusammenhänge hier nicht bis ins Kleinste erläutern. Wichtig ist nur, dass ihr eine Vorstellung davon bekommt, wie es sich mit der Zeit verhält.«

»Denn«, und hier unterstrich sie mit erhobenen Zeigefinger die Bedeutung ihrer Worte, »wenn ihr eine Translocation vornehmt, dann müsst ihr euch darüber im Klaren sein, dass ihr immer aus diesem Zeitzusammenhang, den ich euch gerade versucht habe zu erklären, heraus- und wieder hineinspringt. Und währenddessen seid ihr in den berühmt-berüchtigten Zwischenräumen. Wie man das macht, das lernen wir in der nächsten Stunde.«

»Ich verstehe das noch nicht so richtig.« Miriam, deren Stirn vom angestrengten Nachdenken in tiefen Falten lag, hatte sich mutig gemeldet. Sie wollte Madame Zetha Zethissima nicht verärgern, aber solange noch Unklarheiten bestanden, konnte sie einfach nicht weitermachen, egal wie Madame Zetha Zethissima das fand.

»Was ist denn noch nicht so klar?«, fragte sie geduldig.

»Also«, begann Miriam zögerlich, »wenn ich am Flussufer stehe, dann ist das doch so, als wäre ich außerhalb der Zeit. Ich meine, ich würde dann außerhalb stehen und dem Zeitfluss einfach nur zusehen. Aber ich bin doch auch ein Teil der Zeit. Ich bin doch keine Salzsäule, die sich nicht bewegt.«

Madame Zetha Zethissima musste schmunzeln über den klugen Einwand. Diese Art des Unterrichts, in dem die Schüler aufmerksam ihren Erläuterungen folgten und auch kritische Einwände vorbrachten, machte ihr sichtlich Spaß.

»Ich sehe, ich muss doch noch etwas tiefer in die Materie der Zeit hinabsteigen, sonst seid ihr am Ende ganz frustriert.«

Sie stand nun in der Mitte des Pultes und sammelte ihre Gedanken. Denn die Dinge so zu erklären, dass möglichst alle Schüler die Zeitzusammenhänge richtig verstehen könnten, das war gar nicht so einfach.

Gespannte Stille herrschte im Klassenraum.

»Bei diesem Thema kapitulieren sogar viele Erwachsene«, begann sie ihre weitere Erklärung. Und zu Miriam gewandt sagte sie: »Um es noch deutlicher werden zu lassen, will ich mit dir eine Imagoprojektion durchführen, die die anderen Schülerinnen und Schüler ebenfalls sehen können. Eine solche Projektion ist in eurem Alter nicht ungefährlich und darf daher nur im Beisein eines Lehrers gemacht werden.«

Madame Zetha Zethissima hielt ihren Translocostab in der Hand und beorderte Miriam nach vorne.

»Komm und stell dich einmal hier vor das Pult und dreh dich zur Klasse.«

Etwas beklommen trat Miriam vor. Dann hob Madame Zetha Zethissima ihren Stab.

»Und nun stell dir einen dahin fließenden Fluss vor, an dessen Ufer du stehst und dem Wasser zusiehst.«

Miriam schloss die Augen und versuchte sich zu konzentrieren. Die anderen Schüler schauten gespannt. Man konnte Miriam förmlich ansehen, wie sie sich konzentrierte, denn ihr Gesicht lief knallrot an.

Plötzlich baute sich über ihr aus ihrem Kopf heraus ein transparentes Bild auf. Aber es blieb nicht nur über ihrem Kopf. Das Bild dehnte sich immer weiter aus und erreichte jetzt schon fast die Decke. Wie eine riesige Leinwand schwebte das Bild vor den Schülern im Raum. Ein Raunen ging durch die Klasse. In derselben Sekunde wurde das Bild instabil. Miriam war irritiert, wodurch das Bild ins Schwanken geriet. Madame Zetha Zethissima blickte sogleich warnend und streng auf die Schülerschar, ohne aber dabei selbst die Konzentration zu verlieren.

Das Bild baute sich von neuem auf. Vollkommen klar trat ein Fluss hervor, an dessen Ufer ein Mädchen stand.

»Nun«, sagte Madame Zetha Zethissima mit ruhiger Stimme zu Miriam, um sie nicht zu erschrecken, »siehst du das Bild vor deinem geistigen Auge, Miriam? Du selbst siehst dich am Flussufer, aber in Wirklichkeit stehst du hier. Durch die Kraft deiner Gedanken siehst du dich am Flussufer stehen. Und du kannst das Wasser fließen sehen. In jedem nächsten Augenblick ist es nicht mehr dort, wo es vorher war.«

Die ganze Klasse konnte die Vorgänge mitverfolgen.

Dann ließ sie ihren Translocostab wieder sinken und das Bild erlosch. Miriam öffnete die Augen, schaute ein wenig benommen und unschlüssig zu Madame Zetha Zethissima und ging wieder auf ihren Platz.

»Das«, erklärte Madame Zetha Zethissima weiter, »nennt man die Metaebene der Vorstellung. Wir können uns in Gedanken vorstellen, wie wir von oben auf die Situation schauen, in der wir selbst stehen und an der wir beteiligt sind.

So sind wir zugleich Teil des Geschehens und damit auch des Zeitflusses, aber auch außerhalb dieser Zeit. Man nennt dies eine transzendent-imaginative Vorstellung. Aber den Ausdruck braucht ihr euch nicht zu merken. Hauptsache ist, dass ihr wisst, was damit gemeint ist, und dass ihr davon eine Vorstellung bekommt.«

Die Schüler waren ganz befangen durch das Geschehen, das sich vor ihnen abgespielt hatte.

»Fassen wir nun noch einmal in kurzen Sätzen zusammen, was wir in dieser Stunde gelernt haben.«

Sie ließ die Schüler die einzelnen Gedankengänge wiederholen. Und mit einigen Ergänzungen ihrerseits war der gesamte Inhalt der vergangenen Unterrichtsstunde zusammengetragen.

Die wichtigsten Inhalte hatte Madame Zetha Zethissima während der verschiedenen Wortmeldungen an der Tafel mitgeschrieben. Das tat sie, indem sie mit ihrem Stab ganz einfach einige kunstvolle Bewegungen in der Luft machte, und wie von Geisterhand formten sich die Informationen auf der Tafel.

»So, das war erst einmal genug Theorie für heute. In der nächsten Stunde werden wir dann die ersten Sprünge üben. Und nicht die Translocostäbe vergessen. Meister Joselin Ivarius de Bourgogne wird sie euch in der nächsten Stunde aushändigen.«

Kaum hatte sie die Klasse entlassen, waren die meisten auch schon wie ein Sturmwind durch die Tür. Justus und seine Freunde ließ das Thema noch nicht so richtig los, dafür waren zu viele Fragen offengeblieben. »Kann mir einer von euch sagen, wer eigentlich Hera…, ähm, wie hieß der Knilch noch gleich?« Martin hatte den Namen schon wieder vergessen.

»Heraklit«, antwortete Erik. »Das war ein alter griechischer Philosoph, der etwa zwischen 540 und 475 v. Chr. gelebt hat, Heraklit von Ephesos war sein richtiger Name. Er brachte alles auf die Kurzformel: „Alles fließt“.«

»So genau wollte ich das auch wieder nicht wissen«, unkte Martin und grinste breit.

»Wir sollten allerdings jetzt erstmal versuchen herauszufinden, wo wir etwas Näheres über die „Zeit“ erfahren können«, meinte Erik, was aber nicht auf große Zustimmung stieß.

Martin protestierte direkt: »Ich habe für heute genug gelernt, ich packe kein Buch mehr an. Morgen ist auch noch ein Tag.« Damit war dieser Vorschlag vom Tisch.

Justus Peyrikus

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