Читать книгу Das Lachen des Schmetterlings - Martina Meier - Страница 11
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Beste Freundin
„Eva, hast du gestern Tarzan in Gefahr gesehen?“, fragt Manuela.
Wir spazieren durch den lichten, kleinen Eichenwald am Rande unseres Dorfes. Manuela geht zwei Meter vor mir. In ihrer rechten Hand hält sie einen Stock, den sie energisch schwingt und hin und wieder gegen Sträucher und Baumstämme schlägt.
„Ja“, antworte ich geistesabwesend, denn in meiner Fantasie bin ich momentan nicht Eva, sondern eine wunderschöne Prinzessin. Dieser Wald hier gehört zu meinem riesigen Reich. Manuela ist mein persönlicher Leibwächter, hält mir den Weg frei und beschützt mich vor Schlangen und Wölfen. Es belustigt mich, dass Manuela nichts von der Rolle weiß, die ich ihr insgeheim zugeteilt habe.
„Und ist dir etwas an Tarzan aufgefallen?“, stört Manuela mich schon wieder. Ihre Stimme klingt ungeduldig. „Na? Ob dir etwas aufgefallen ist, will ich wissen.“
In so einem Ton redet doch kein Leibwächter mit seiner Prinzessin!
„Nein“, sage ich und fühle mich unbehaglich.
„Dann hör mir jetzt gut zu.“ Manuela bleibt abrupt stehen, dreht sich um und fixiert mich aus blauen Augen. Fast wäre ich gegen sie gerannt. „Ich war der Tarzan im Fernsehen!“ Triumphierend streckt sie ihr Kinn nach vorne.
„Blödsinn. Du bist doch viel kleiner als der Tarzan.“
„Ich bin auf Stelzen gegangen und auf einem Schemel gestanden“, sagt sie schnell und blinzelt mich listig an. „Natürlich immer so, dass die Zuseher es nicht erkennen können.“
„Ach, Manuela, du bist ein Mädchen, hast blonde Haare ... du bist das Gegenteil von Tarzan!“ Ich schüttle den Kopf, gehe an ihr vorbei und weiter den Waldweg entlang.
„Schon etwas von Schminke gehört und von Perücken? Glaub mir, Eva, die können viel, die vom Fernsehen. Sie haben mich so gut geschminkt, dass ich wie Tarzan aussah. Echt, ich schwöre!“, läuft sie aufgeregt neben mir her. „Da, schau!“ Sie überholt mich, stellt sich mir in den Weg und zieht den rechten Ärmel ihres Pullovers hoch. Ich sehe einen großen blauen Fleck auf ihrem Oberarm. „Hier haben mich die Elfenbeinjäger verletzt, als sie mich gefangen nahmen. Zum Glück hat Chita mich dann befreit.“ Manuela öffnet weit ihren Mund, legt ihre Hände darum, wirft den Kopf in den Nacken und brüllt: „AAUUAAUUAA! Das war der echte Tarzanschrei. Na, was sagst du jetzt?“
„Du hast Mundgeruch“, erwidere ich trocken.
Manuela sieht mich böse an. „Du bist nicht mehr meine beste Freundin“, zischt sie, schlägt wütend mit ihrem Stock auf einen Baumstumpf, knapp vorbei an einer Weinbergschnecke, die sich sogleich in ihr Gehäuse zurückzieht. Manuela hält kurz inne und schlägt dann leicht auf das Schneckenhaus ein.
„Aber, Manuela, was machst du da?“
„Komm raus, Schnecke“, sagt Manuela streng. „Niemand ist sicher in seinem Haus – auch du nicht.“ Sie schlägt fester zu. Die Schale splittert. Ich sehe nackte, feuchte Schneckenhaut schimmern.
„Spinnst du?!“, rufe ich fassungslos.
„Ah, wegen einer Schnecke regst du dich auf. Aber dass mich die Elfenbeinjäger gestern schwer verletzt haben, das ist dir egal.“ Manuela schleudert ihren Stock in einen Strauch. „Du bist echt keine Freundin.“
Ich kann nichts sagen, meine Kehle ist wie zugeschnürt, ich bin schockiert und traurig. Was ist nur los mit Manuela? Seit einigen Wochen verhält sie sich ganz anders als früher. Von einer Sekunde auf die andere wird sie wütend und ungerecht, dann wieder ist sie ganz still und traurig. Und nie, niemals hätte sie früher einem Tierchen etwas zuleide getan so wie vorhin der Schnecke.
Da biegt plötzlich ein Radfahrer in den Waldweg ein und bremst, als er uns sieht. Es ist Max aus der Klasse über uns, den weder Manuela noch ich leiden können.
„Guten Tag, die Damen“, grinst er und wischt sich den Schweiß von der Stirn.
„Auf Wiedersehen, der Herr.“ Manuela zieht mich am Ärmel. „Komm, Eva, gehen wir.“
Doch Max fährt langsam neben uns her, als wir losgehen. „Wie geht es deinem Stiefvater? Hat er sich schon erholt?“, fragt er Manuela, die starr geradeaus blickt und schneller geht. „Ich habe ihn nämlich gesehen, weißt du“, sagt Max nun im Plauderton an mich gewandt, „gestern Morgen, als ich auf dem Weg zur Schule war.“
„Hör sofort auf, sei still!“, schreit Manuela mit plötzlich hochrotem Gesicht und schubst Max so fest, dass er beinahe vom Rad fällt.
„Er ist mitten auf dem Gehsteig gelegen. Stockbesoffen ...“
„Halte deinen Mund, du ... sonst ...“ Manuela hebt blitzschnell einen großen Stein auf, hält ihn in Wurfposition.
Max schaut Manuela an, den Stein, dann mich. „Such dir besser eine andere Freundin“, ruft er mir zu, während er sein Rad wendet und wegfährt. „Die da ist ja echt das Letzte.“
Manuela lässt den Stein fallen und brüllt Max nach: „Und du bist das Allerletzte!“ Zu mir sagt sie: „Du glaubst doch diesem Lügner nicht.“ Tränen treten in ihre Augen. Sie wischt sie weg, doch es kommen immer neue.
Sie tut mir leid. Deshalb muss ich auch weinen. „Komm, vergiss es, gehen wir zu mir“, sage ich.
Schweigend laufen wir den Waldweg entlang, dann durch die zwei kurzen Gassen bis zu meinem Elternhaus. Meine Mama arbeitet gerade im Garten, sie winkt uns zu und lächelt, als sie uns kommen sieht. Ich stürze mich in ihre Arme.
„Meine Kleine.“ Sie drückt mich zärtlich an sich und gibt mir einen Kuss auf die Stirn. Dann schaut sie Manuela an, die blass und verweint aussieht. „Manuela, schön, dass du zu uns kommst“, sagt Mama. Sie streicht ihr sanft übers Haar.
Manuela wischt sich über die Augen.
Mama geht vor ihr in die Hocke, nimmt sie an den Händen. „Liebes“, sagt sie, „ich weiß nicht, was passiert ist, sehe aber, dass du sehr traurig bist. Du weißt, du kannst jederzeit mit mir reden. Über alles.“
Ich liebe Mama in diesem Moment so sehr, dass es in meinem Bauch ganz warm wird und kribbelt.
Manuela nickt, schaut zu Boden und schweigt.
Mama geht mit uns ins Haus hinein. Wir essen gemeinsam Kuchen, trinken Saft und spielen dann mit meiner Katze Mira. Später sitzen Manuela und ich in meinem Zimmer und malen. Ich male eine wunderschöne Prinzessin, die alleine in ihrem gepflegten Schlossgarten unter einem Baum steht. Manuela lässt auf ihrem Blatt Papier eine dunkelrote Sonne in einem wilden tiefblauen Meer versinken.
„Hast du gestern nach Tarzan Superman in Not gesehen?“, fragt Manuela plötzlich.
„Superman? Kam gestern gar nicht.“
„Doch, um acht Uhr. Ich weiß es ganz sicher, denn ich war Superman.“
Ich sage nichts, tauche den Pinsel ins Wasser, dann in die schwarze Deckfarbe und beginne, zum Schutze der Prinzessin eine hohe Mauer um den königlichen Garten zu malen.
„Du glaubst mir nicht! Dabei bin ich auch über euer Haus geflogen. Ich habe sogar an dein Fenster geklopft, aber du hast schon geschlafen. Über das ganze Dorf bin ich geflogen. Ich habe Saltos geübt, hoch oben, und dann habe ich mich an der Kirchturmspitze verletzt. Es hat sehr wehgetan. Da, schau her, wenn du mir nicht glaubst!“ Sie springt auf, wendet mir den Rücken zu und zieht ihren Pullover bis zu ihren Schulterblättern hoch.
Erschrocken erkenne ich blaue Flecken und rote Striemen auf Manuelas Haut.
„Und, glaubst du mir jetzt?“ Manuela zieht den Pullover wieder hinunter, dreht sich zu mir um.
„Manuela, wer hat das getan?“
„Du bist so gemein!“ Meiner Freundin schießen Tränen in die Augen. „Ich habe dir doch vorhin erzählt, wie es passiert ist. Nie glaubst du mir. Du bist nicht mehr meine beste Freundin!“ Sie greift fahrig nach ihrem Zeichenblatt, zerknüllt es und wirft es auf mich.
Abwehrend fange ich es mit der linken Hand. Das Blau des Meeres rinnt vermischt mit dem Rot der Sonne über meinen Handrücken.
Manuela wendet sich ab, geht zum Fenster und starrt hinaus. Ich sehe auf meine Zeichnung. Sie gefällt mir nicht. Die Prinzessin wirkt einsam hinter der dunklen Mauer. Ich zerknülle das Papier. Und plötzlich weiß ich ganz genau, was ich tun muss.
„Doch, Manuela“, sage ich und gehe zu ihr ans Fenster. „Doch, ich bin deine beste Freundin. Und Freundinnen sind immer füreinander da. Bitte, reden wir mit Mama. Sie kann uns helfen, das weiß ich.“
Manuela sagt lange nichts, dann fragt sie mit ganz leiser Stimme: „Meinst du wirklich?“
„Ganz bestimmt“, sage ich. „Komm!“
Ich nehme sie an der Hand, wir gehen zu Mama. Und dann erzählt Manuela. Sie erzählt, dass ihr Stiefvater in letzter Zeit oft zu viel Alkohol tränke und dass er dann sie und ihre Mama schlüge, dass ihre Mama sich von ihm trennen wolle, es aber noch nicht geschafft habe. Und sie sagt zu mir, dass sie das mit dem Tarzan und dem Superman nur erfunden habe, weil sie sich geschämt hätte für ihren Stiefvater. Und dass es ihr leid tue wegen der Schnecke und weil sie in den letzten Wochen so oft gemein zu mir gewesen sei.
Ich umarme sie und sage ihr, dass ich das alles verstehe. Und Mama erklärt, dass sie sehr stolz wäre auf uns beide. Auf Manuela, weil sie so mutig sei und uns alles erzählt habe, und auf mich, weil ich mich so verhalten hätte, wie sich eine echte Freundin verhalten müsse.
Mama telefoniert anschließend lange mit Manuelas Mama. Wir dürfen inzwischen einen lustigen Zeichentrickfilm ansehen, essen Chips und streicheln Mira, die mit dem hinteren Teil ihres Katzenkörpers auf meinem Schoß und mit ihrer vorderen Hälfte auf Manuelas Schoß liegt und schnurrt.
Mama setzt sich nach dem Telefonat zu uns und sagt, dass Manuelas Mama sich nun endgültig von Manuelas Stiefvater trennen würde. Die Polizei und der Frauenschutz würden sie dabei unterstützen. Manuelas Mama würde noch heute Abend zu uns kommen. Erstens, weil sie Manuela sehen und in die Arme schließen wolle, und zweitens, weil sie Kleidung, Spielzeug und Schulsachen von Manuela vorbeibrächte, denn, wenn wir beide damit einverstanden seien, würde Manuela so lange bei uns wohnen, bis alles geklärt, der Stiefvater ausgezogen und alle seine Sachen aus Manuelas Haus geräumt wären.
Manuela strahlt. Ich freue mich. Und ob wir damit einverstanden sind! Wir fallen zuerst Mama um den Hals und dann umarmen Manuela und ich einander und Manuela flüstert mir ins Ohr: „Eva, du bist meine aller-, aller-, allerbeste Freundin.“
Claudia Dvoracek-Iby, geboren 1968, verheiratet, zwei Kinder, wohnhaft in Wien. Veröffentlichte bereits mehrere Kurzgeschichten in diversen Anthologien.