Читать книгу Das Lachen des Schmetterlings - Martina Meier - Страница 8

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Herbststurm

Es weht ein kräftiger Wind. Emma, erhitzt vom Kuchenbacken, steht mit geröteten Wangen auf der Veranda des Hauses und betrachtet den Garten. Im letzten Licht des Tages wiegen sich die Bäume am Ende der Rasenfläche wie tanzende Wesen. Ihre harmonischen Bewegungen werden immer wieder durchbrochen von Böen, die den Blätterwald nach allen Seiten auseinanderstieben lassen. Die Luft schmeckt nach Frühling, kein bisschen nach der Jahreszeit, die vor der Tür steht. Den Kopf in den Nacken gelegt, verfolgt Emma die dunklen Wolken, die über sie hinwegjagen, zwischendurch den Blick auf den kugelrunden Mond und den noch hellen Himmel freigeben. Ein bisschen weniger Wind, denkt sie, wäre besser für ihr Unterfangen.

Selbst die Scharen von Krähen, die sonst den benachbarten Kirchturm umkreisen, haben sich bei dem Wetter versteckt. Ihr kleiner Bruder Max ängstigt sich vor den schwarzen Vögeln. Leider hat er vor vielen Dingen Angst. Aber seit sie vor einem halben Jahr aus Berlin aufs Land gezogen sind, haben sich seine Angstgefühle extrem verstärkt.

Ein schönes Haus mit einem riesigen Grundstück haben sie hier. Ziergarten, Gemüsebeete, eine Streuobstwiese, alte Bäume, ein richtiger kleiner Wald gehören dazu. Und die Wildnis. Das ist der Teil hinter dem Wäldchen: Hier wächst das Gras hüft-hoch, im Sommer schmuggeln sich Mohn, Kornblumen und andere Feldblumen hinein. Holunder, dessen Blüten im Juni ihren süßen Duft verströmten und sich mittlerweile zu Fliederbeeren verwandelt haben, hat eine ganze Ecke des Gartens erobert.

In den Augen der Erwachsenen ein Paradies für Kinder. Emma hat dort im Frühjahr in einer Pfütze Kaulquappen gefunden, gestern ist ihr eine Igelfamilie über den Weg gelaufen, manchmal sieht sie den Fuchs.

Aber in der Wildnis gibt es auch den anderen Streifen, der an die Mauer grenzt. Dahinter liegt der Kirchhof, genau genommen ist es der Friedhof mit seinen alten, windschiefen Grabsteinen. Vielleicht ist das der Grund, weswegen einer der Vorbesitzer ihres Hauses dort, in unmittelbarer Nähe zu den toten Menschen, seine Hunde beerdigt hat. Zwölf kleine Grabsteine erinnern an Rex, Lilli und die anderen. Diese Tatsache hat ihrem Haus den Beinamen Gräberhaus eingebracht.

Kugelrunde Augen, aus denen pure Angst sprach, bekam Max, als er zum ersten Mal davon hörte. Da die Kinder in der Schule schnell begriffen, dass der Neue, der Außenseiter, ein Angsthase ist, liefern sie ihm tagtäglich Gruselgeschichten über die Gräber. Max lässt sich von seinen Ängsten gefangen nehmen, geht nicht mehr alleine in den Garten und ist häufig bedrückt.

In jeder Vollmondnacht erwachen die toten Hunde zum Leben und spuken, haben die Kinder Max eingebläut. Heute will Emma Max etwas klarmachen – sie will es ihm zeigen: Die Erzählungen sind nichts als blanker Unsinn.

Sie schreckt zusammen. Über ihr ist ein Fensterladen gegen die Hauswand geknallt. Er hat sich aus seiner Befestigung gerissen, sieht Emma. Der Sturm wird stärker, in der Luft liegt ein gewaltiges Rauschen. Im Haus fällt eine Tür mit lautem Krachen ins Schloss, der Wind heult, der Fensterladen schlägt unrhythmisch gegen die Wand. Emma eilt ins Haus zur Treppe, nimmt zwei Stufen auf einmal. Im elterlichen Schlafzimmer öffnet sie das Fenster, um den Fensterladen zu befestigen. Wie eine Flutwelle stemmt der Sturm sich ihr entgegen.

Seelenruhig liegt Max in seinem Zimmer auf dem Bett, die großen Kopfhörer über die Ohren gezogen, die Welt ausgesperrt. Mit den schwarzen Kopfhörern erinnert er Emma an Micky Maus. Micky Maus im Batman-Schlafanzug.

Maxʼ entspannter Gesichtsausdruck verschwindet, als er Emma bemerkt. Schlagartig beginnt seine Unterlippe zu zittern, als bräche er jeden Moment in Tränen aus. Aber auf seinen Gefühlszustand kann Emma jetzt keine Rücksicht nehmen. Heute Abend bietet sich die einmalige Gelegenheit: Es ist Vollmond und ihre Eltern, die von Emmas Mutproben für Max nichts halten, sind nicht zu Hause.

Äußerst widerwillig steigt Max vom Bett, zieht die Kopfhörer ab. „Müssen wir das wirklich machen?“, fragt er sogleich wieder wie schon unzählige Male zuvor. Emma nickt energisch.

Max beginnt sich im Schneckentempo anzuziehen. Als nur noch die Socken fehlen, läuft Emma in ihr Zimmer. Alles ist vorbereitet. Sie holt zwei Taschenlampen und ihre Jacke mit dem Pfefferspray. Sie ist für alles gerüstet.

Fünf Minuten später stehen sie im Freien auf der Terrasse. Inzwischen ist es nahezu dunkel. „Dann los!“, gibt Emma den Startschuss und knipst die Taschenlampe an. Max tut es ihr nach.

Langsam gehen sie über den kurz geschorenen Rasen. Max lässt den Lichtstrahl seiner Lampe wie ein Leuchtturmsignal um sie herumkreisen. Emma erzählt ihm von seiner Belohnung, dem warmen Apfelkuchen, der in der Küche wartet. Sie erinnert sich mit ihm an die warmen Frühsommertage, als sie zusammen eine Höhle im hinteren Teil des Gartens gebaut und mit einer Piratenflagge geschmückt haben. Das war, bevor diese Erzählungen anfingen, als Max noch alleine durch den Garten stromerte, über dem Spiel die Zeit vergaß.

Am Ende des Ziergartens halten sie einen Moment inne. Bis zu den Gräbern sind es achtzig Schritte, hat Emma mehrere Male gezählt, erst unter den Bäumen hindurch, danach durch die Wildnis. Sie macht den ersten Schritt. Einen Atemzug lang zögert Max, dann stapft er hinter ihr her. Emma hört ihn im Laub rascheln. Der Sturm hat die ersten Blätter von den Bäumen gezerrt. Buntes Laub tanzt um ihre Beine, wirbelt von allen Seiten – Emma fühlt sich wie in einer Schneekugel aus Laub.

Noch achtundsechzig Schritte.

An windstillen Tagen bietet das dichte Blätterdach die Geborgenheit einer Höhle. Heute fahren die Böen wie heranrollende Wellen durch die Bäume, verwandeln das sonst anheimelnde Rauschen der Blätter in ein wildes Toben. Eicheln, Bucheckern, Kastanien klackern wie Geschosse herab.

Max packt Emmas Hand. Noch einundfünfzig Schritte.

Überall bewegt sich etwas, die Nacht ist lebendig wie nie. Sind es Tiere, die durch die aufgewühlte Natur huschen?

Im Schein der Taschenlampen tasten Emma und Max sich vorwärts, die Lichtkegel fangen die ersten Grabsteine ein. Einer der Steine ist umgestürzt. Aufgeregt deutet Max darauf. Emmas Hand umschließt seine fester. In Max kocht das Adrenalin bis unter die Haarwurzeln hoch. Zusammen nähern sie sich dem Stein. Max fuhrwerkt mit der Taschenlampe herum, als trüge er ein unsichtbares Gefecht aus.

Sehr genau leuchtet Emma die Umgebung des Grabsteins ab, Max schaut ihr zu. Nichts, kein Wesen, nicht der kleinste Wurm, geschweige denn ein Hund lässt sich blicken. Aber sie sehen, wer hier war. Ein Maulwurf. Das erkennt auch Max, dessen Finger sich jetzt nicht mehr um ihre Hand verkrampfen. Einen Steinwurf von ihnen entfernt knattert die verwaiste Piratenfahne im Wind. Sie haben genug gesehen, beschließt Emma und will den Rückzug antreten.

Urplötzlich registriert sie ein Geräusch, das sich von dem Rauschen des Sturmes abhebt. Ein leises Winseln, fast ein Jammern. Sehr schnell steigt es zu einem Geheul an, das sich nicht einordnen lässt. Irgendwie nach gequälter Kreatur klingt.

Oder wie nicht von dieser Welt.

Emma merkt, wie es ihr kalt den Rücken hinabläuft.

Mit schreckgeweiteten Augen starrt Max Emma an, seine Hände liegen wie Schraubstöcke um ihre Handgelenke. Beide stehen sie zu Salzsäulen erstarrt da, lauschen diesem gräulichen Ton, der jetzt in wechselnder Lautstärke zu ihnen dringt.

Sekunden später gewinnt Emmas Verstand wieder die Oberhand. Sie schleift Max in die Richtung, aus der das Jaulen kommt. Nur auf Zehenspitzen kann sie über die Friedhofsmauer spähen. Sie leuchtet mit der Taschenlampe. Mit einem Schreckensschrei stürzt eine Handvoll Kinder davon, zwischen sich die schwanzwedelnde Dogge von Familie Schmidt, direkt in die Arme einer Gestalt, die sich nun aus der Dunkelheit löst.

Emma schwenkt mit der Taschenlampe dorthin. Die Person wehrt den Lichtstrahl mit der Hand ab, trotzdem kann Emma erkennen, wer es ist: Der Junge, der ab und zu in der Bäckerei arbeitet. Einer der wenigen aus dem Dorf, der sie freundlich grüßt und anlächelt.

Als Nächstes bekommt sie mit, wie er mit den Kindern schimpft. Mit hängenden Köpfen lassen sie die Standpauke über sich ergehen. Offenbar genießt der Ältere Respekt.

Das muss sie Max zeigen. Emma hebt ihren Bruder hoch, damit er über die Mauer sehen kann. Dessen Augen weiten sich, dieses Mal ist es die Überraschung, die ihm ins Gesicht geschrieben steht. Erleichterung gesellt sich hinzu, ein Funken Mut, denn Max traut sich, die versammelte kleine Gruppe mit der Taschenlampe anzuleuchten.

Als Emma ihn wieder herunterlässt und er fest auf dem Boden steht, schlingt er die Arme um ihre Taille und schmiegt sich an sie. Emma hält ihren kleinen Bruder einfach nur fest.

„Gut, dass wir das gemacht haben“, hört sie ihn in ihre Jacke murmeln.

„Emma!“ Ein Ruf dringt von der anderen Seite der Mauer zu ihr. Sie lässt die Taschenlampe einmal aufblitzen, nur um sich zu vergewissern, die Stimme gehört zu dem Jungen aus der Bäckerei. „Es tut mir leid. Die Jungs haben nichts als Dummheiten im Kopf. Sie wollten Max erschrecken, aber sie werden sich morgen bei ihm entschuldigen.“

Unzählige Gedanken schießen Emma gleichzeitig durch den Kopf: Sie weiß nicht, wie er heißt. Vielleicht kann er Max eine Brücke bauen. Er ist nett. Woher kennt er ihre Namen? Und der nächste Gedanke plumpst in ihr Hirn: „Das ist die Gelegenheit!“

„Ich habe Kuchen gebacken. Wollt ihr zu uns kommen?“, sprudelt es aus Emma heraus, ehe sie der Mut verlässt. Mit klopfendem Herzen blickt sie über die Mauer, ohne etwas in der Dunkelheit erkennen zu können.

„Gute Idee“, hört sie nach einer gefühlten Ewigkeit. Das Lächeln, das seine Mundwinkel umspielt und das sich ihr von seinen Begrüßungen eingeprägt hat, kann sie spüren. „Ich heiße übrigens Philipp.“ Philipp!

Emma nimmt Max an die Hand. Während sie zurück zum Haus spazieren, hüpft er neben ihr her, lässt bald ihre Hand los und rennt mit weit ausgebreiteten Armen durch den Herbststurm.

Bettina Schneider, 1968 in Berlin geboren, verheiratet, zwei Kinder und ein Hund, Studium der Betriebswirtschaftslehre, im Anschluss zehn abwechslungsreiche Jahre im Rechnungswesen in der Privatwirtschaft, heute Freiraum für kreative Tätigkeit. Sie schreibt Kurzgeschichten und Erzählungen, einige davon sind veröffentlicht. Hobbys: Lesen, Schreiben, Tagebuchschreiben, Spaziergänge und Joggen.

Das Lachen des Schmetterlings

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