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Nur eine Minute

Wenn man mit dem Mädchen, das man liebt, zwei Stunden zusammensitzt, denkt man, es ist nur eine Minute; wenn man aber nur eine Minute auf einem heißen Ofen sitzt, denkt man, es sind zwei Stunden.

Albert Einstein

Irgendwo in Afrika gibt es einen Ort, an dem sich die verschiedensten Arten von Tieren einmal im Jahr treffen, um einmal als Freunde miteinander zu reden und zu diskutieren. Während dieses Treffens ist der friedliche Umgang miteinander ein absolutes Muss. Doch sobald das Treffen beendet ist, gilt in der Tierwelt wieder das Motto: Fressen und gefressen werden.

Jeweils ein Tier hat bei diesem Treffen den Vorsitz und darf das Gesprächsthema vorgeben. Heute ist es die Antilope, die den Vorsitz innehat. Vorweg hat sie alle Anwesenden per Brief, manche auch per E-Mail oder SMS, über das heutige Thema informiert. In diesem Jahr lautet es: Keine Zeit.

In den letzten Jahren gab es zunehmend Beschwerden darüber, dass die Zeit der Tiere immer knapper bemessen ist und von daher das Treffen zügiger durchgeführt werden sollte. Deshalb ist nun erstmalig die Redezeit pro Tier auf eine Minute begrenzt.

Nach einer kurzen Begrüßung geht die Antilope zunächst die Anwesenheitsliste durch. Eine gewisse Bürokratie muss halt auch in der Tierwelt sein.

„Zunächst einmal ist die Schnecke entschuldigt, denn sie schafft es dieses Jahr nicht rechtzeitig. Elefant?“

„Anwesend.“

„Giraffe?“

„Anwesend.“

„L...l...löwe?“

„Anwesend.“

„Chamäleon?“

„Anwesend.“

Woher kommt die Stimme? Niemand ist zu sehen. Doch die Antilope fährt fort: „Ameise?“

„Anwesend.“

„Riesenschildkröte?“

„Anwesend.“

„Faultier? Hallo? Faultier?“

„Entschuldigung, ich habe geschlafen, aber anwesend.“

„Eintagsfliege?“

„Anwesend. Können wir uns bitte beeilen, ich habe nicht viel Zeit.“

„Nie habt ihr Eintagsfliegen Zeit. Ihr seid alte Zeitfresser, immer seid ihr im Stress. Warum nimmst du dir nicht einfach mehr Zeit, wenn wir uns doch ohnehin nur einmal im Jahr alle hier treffen? So lange dauert unsere Zusammenkunft zum einen doch gar nicht und außerdem solltest du bei dem heutigen Thema mal ganz genau zuhören“, beschwert sich die Antilope. „Hiermit sind wir schon mittendrin im Thema. Keine Zeit.“

Die Eintagsfliege schluckt betroffen und schaut traurig zu den anderen Tieren empor. „Wisst ihr, ich lebe doch nur selten länger als ein bis zwei Tage und deshalb kann ich hier nicht so lange sitzen. Ich habe noch so viel in meinem Leben zu erledigen. Ein Tag hat 1440 Minuten und diese 1440 Minuten, mit viel Glück gepaart und bei guter Gesundheit, entsprechen meinem gesamten Leben. Von daher sollte jede Minute perfekt genutzt werden. Wisst ihr eigentlich, wie schnell eine Minute vergehen kann?“

Die übrigen Tiere schauen sich an – natürlich weiß jeder von ihnen, wie lange eine Minute dauert.

Die Antilope übernimmt wieder das Wort. „Es tut mir leid, Eintagsfliege. Eine Minute in deinem Leben ist sehr, sehr wertvoll. Beispielsweise ist sie wertvoller als eine Minute im langen Leben eines Elefanten.“

„Wie bitte?!“, protestiert der Elefant leicht erbost. „Meinst du etwa, eine meiner Lebensminuten sei weniger wert? Eine Minute dauert doch 60 Sekunden, oder? Ganz egal, bei welchem Tier eine Minute gemessen wird. Unbeantwortet bleibt lediglich die Frage, wie die 60 Sekunden von jedem Einzelnen empfunden werden.“

Die übrigen Tiere schauen sich an – natürlich weiß jeder von ihnen, wie lange eine Minute dauert, aber wie lange wird sie von jedem empfunden? Darauf hat niemand eine Antwort. Keines der Tiere hat je darüber nachgedacht, wie es eine Minute empfindet, und so schauen sie sich einander an, aber diesmal ratlos.

Die Antilope beginnt wieder zu reden. „Die Frage also lautet, ob bei jedem Tier eine Minute subjektiv gleich lange dauert. Weißt du, Herr Elefant, ich bin immer auf der Flucht. Es gibt so viele Tiere in der Savanne, die ich zu meinen Feinden zählen muss.“ Dabei riskiert sie einen Seitenblick auf den Löwen. „Ich bin immer im Stress. Und du, du bist die Ruhe selbst und lebst normalerweise auch viel länger als wir Antilopen. Deshalb müsstest du viele Minuten haben, die du richtig genießen kannst. Außerdem stirbst du auch nicht so einen grausamen Tod, wie er uns oft widerfährt. Meistens ist die letzte Minute unseres Lebens zugleich die längste.“

Erneut schluckt die Eintagsfliege betroffen. Auch wenn sie deutlich kürzer leben als Antilopen, einen grausamen Tod finden Eintagsfliegen eher selten. Sie sterben meist eines natürlichen Todes, indem sie einschlafen und einfach nicht mehr aufwachen.

Aus der hinteren Reihe meldet sich eine hohe Stimme zu Wort. Es ist die Ameise. „Ich lebe zwar länger als die Eintagsfliege, aber ich muss mein Leben lang extrem hart arbeiten. Mir bleibt keine Minute zum Ausruhen, geschweige denn zum Träumen. Im Gegenteil, ich bin recht froh, wenn meine Lebensminuten abgelaufen sind.“

Die Tiere schauen sich tief geschockt an. „Wie kann man sich denn nur den Tod herbeiwünschen?“, fragt sich so mancher.

Gähnend schaut das Faultier in die Runde. „Ich habe kaum etwas von meinem Leben, da ich dieses fast komplett verschlafe. Und wenn ich denn mal wach bin, ist es eine Qual für mich, mich zu bewegen und mich auf Nahrungssuche zu begeben – so faul bin ich. Ich glaube, das Leben ist für mich anstrengender, als unter den Toten zu weilen.“

Der Löwe kann Tiere mit Todessehnsucht nicht ausstehen. Es macht nicht einmal Spaß, diese zu jagen. Es gibt so viele Tiere, die immer nur jammern und dadurch jede Menge an wertvollen Lebensminuten verbrauchen. „Also, ihr Lieben“, beginnt er seine Redezeit, „genießt doch einfach jede Minute eures Lebens und hört auf, es schlechtzureden. Jede Minute ist wichtig, man weiß schließlich nie, wie viele einem noch bleiben.“ Dabei zwinkert er der Antilope zu.

Dann meldet sich das Chamäleon zu Wort. Fast wäre es wieder übersehen worden. „Ich kann eure Todessehnsucht auch nicht verstehen“, kritisiert es das Faultier und die Ameise. „Wisst ihr eigentlich, wie frustrierend es ist, nur ein Jahr lang zu leben? Zum Beispiel benötige ich volle drei Tage, um meine Steuererklärung zu erstellen. Und wofür? Ich habe nichts von meiner Steuerrückzahlung. Aber ich muss es machen wegen der bürokratischen Auflagen. Deshalb mache ich es einfach, ohne meine übrige Lebenszeit mit unnötigem Aufregen zu verschleudern.“ Die versammelten Tiere sehen dennoch einen roten Kopf, der sich wütend hin und her bewegt, der Körper bleibt weiterhin unsichtbar.

Schließlich ist es die Giraffe, die versucht, tröstende Worte für die Eintagsfliege zu finden. „Kommen wir doch mal auf unseren Ausgangspunkt zurück. Liebe Eintagsfliege, alles, was du tust, machst du doch dafür viel, viel schneller und besser als wir Giraffen. Wir müssen den ganzen Tag nach Nahrung suchen und dabei kilometerlange Wege zurücklegen. Während du in deinem kurzen Leben gar keine Nahrung benötigst und auch längere Wege in einer Schnelligkeit zurücklegst, von der ich nur träumen kann.“

Jetzt ist es die Eintagsfliege, die versucht, der Giraffe ein wenig Trost zu spenden. „Aber dafür ist dein Leben schön ruhig. Du kannst tagelang durch die Savanne wandern und an schönen Plätzen rasten und träumen. Außerdem kannst du aufgrund deiner Größe die süßesten und besten Früchte erreichen und genussvoll verspeisen. Ich möchte auch endlich zur Ruhe kommen und vor allem wünsche ich mir, Zeit zum Träumen zu haben.“ Nur die Ameise nickt verständnisvoll, während die Eintagsfliege tief Luft holt und weitererzählt: „Wir müssen halt unser kurzes Leben ganz schnell mit allem Wunderbaren dieser Welt füllen. Nur Zeit zum Genießen haben wir nicht.“

„Und ich möchte, dass ich meine täglichen Bedürfnisse schneller erledigt bekomme“, erklärt diesmal die Schildkröte. Sie hält sich wie immer vornehm zurück. Dabei ist die Schildkröte mit ihren 150 Jahren das einzige überlebende Gründungsmitglied dieser Tierversammlung. „Ich glaube, eine Minute wird von uns beiden unterschiedlich empfunden. Um 20 Meter zurückzulegen, benötige ich zwei Stunden. Sehr viele Stunden benötige ich täglich, um satt zu werden. Die übrige Zeit verschlafe ich. Freizeit habe ich keine. Deshalb leben wir auch so lange. Wir Schildkröten brauchen nur entsprechend länger für alles. Vielleicht müssen wir Schildkröten-Minuten in eine Eintagsfliegen-Minute umwandeln.“

Die Antilope erhebt sich auf ihrem Podium. „Ein Taler ist doch, egal, ob man wenige Taler besitzt oder Talermillionär ist, gleich viel wert. Ein Taler ist ein Taler. Ein Millionär oder jemand mit Millionen von Lebensminuten muss nicht zwangsläufig glücklicher sein als jemand, der nur wenig Geld oder wenige Lebensminuten besitzt. Deshalb ist auch die Minute bei allen Tieren gleich lang und gleich viel wert. Nur kann ein Tier mit vielen Lebensminuten eher mal eine verlieren oder sie für unnötige Dinge verschwenden. Eine Eintagsfliege hingegen sollte sparsamer und wohl besonnener damit umgehen, denn sie darf keine Minute verlieren. Eine Minute bleibt eine Minute, unabhängig davon, wie lange man lebt.“

Das versteht auch die Eintagsfliege und wünscht den übrigen Tieren alles Gute. Sie gibt ihnen noch ein paar Ratschläge mit auf den Weg. „Also, ihr Lieben, genießt jede Minute! Antilope, versuche, nicht immer im Stress zu sein. Denn du befindest dich nicht immer in Lebensgefahr. Ameise, mach doch einmal eine kleine Pause während deiner vielen Arbeit und entspanne dich. Glaube mir, das Leben geht auch dann weiter. Faultier, gib dir einen Ruck und genieße in wachem Zustand den Tag. Schlafen kannst du tatsächlich noch zur Genüge, wenn du tot bist. Chamäleon, lass die Steuererklärung doch einfach liegen. Was kann dir schon passieren? Sollen sie dich doch nach deinem Tode wegen Steuerhinterziehung anzeigen. Giraffe, verweile einfach einmal an einem Platz und iss dich richtig satt. Außerdem solltest du dich mal laufen sehen. Du bist ein verdammt schnelles Tier. Schildkröte, wieso genießt du nicht dein langes, entspanntes Leben? Im Übrigen kannst du verreisen und dir die Welt anschauen, du kannst schlafen, wo immer du möchtest. Schließlich hast du immer dein Haus dabei. Löwe, gib du den Tieren, die heute auf dieser Versammlung sind, einen riesigen Vorsprung, bevor du sie jagst.“

Anschließend verabschiedet sich die Eintagsfliege grinsend mit dem Hinweis, dass sie bei der nächsten Sitzung garantiert nicht dabei sein wird. Jemand anderes wird für sie kommen.

So geschieht es, dass eine glückliche Eintagsfliege als Erstes die Versammlung verlässt.

Katja Büscher, geboren 1976 in Bochum, schrieb schon zu Schulzeiten gerne Geschichten. Nach dem Abitur zog sie nach Köln und studierte dort an der Universität zu Köln Sonderschulpädagogik und Deutsch auf Lehramt. Heute lebt sie in Köln und arbeitet als Sonderschullehrerin an einer Förderschule mit dem Förderschwerpunkt „Lernen“ im Rhein-Erft-Kreis. 2016 erschienen von ihr Kindergedichte und 2017 wurden ein Märchen und eine Weihnachtsgeschichte veröffentlicht.

Das Lachen des Schmetterlings

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