Читать книгу Wünsch dich ins große Wunder-Weihnachtsland Band 1 - Martina Meier - Страница 48
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Der Engel aus dem Abfallkorb
Es dämmerte bereits an diesem späten Nachmittag des 21. Dezember, als Karlchen mit seiner Mutter über den Weihnachtsmarkt der Stadt bummelte. Überall in den tief verschneiten Gassen duftete es herrlich nach gebrannten Mandeln, würzigen Lebkuchen, Gebratenem sowie nach süßem Honig und Zimt. An den Dachrinnen der alten Häuser hingen lange Eiszapfen und glitzerten gar herrlich im Schein der Lichter. Zwischen mit Tannengrün geschmückten Weihnachtsständen tummelten sich unzählige fröhliche Menschen, staunten, kauften kleine Geschenke für Verwandte und Bekannte, aßen von den angebotenen Köstlichkeiten oder erfreuten sich an der weihnachtlichen Musik. In ihren Gesichtern spiegelte sich eine herzerwärmende Zufriedenheit. Und ein jeder der Menschen freute sich auf das bevorstehende Fest.
So auch Karlchen. Immerhin brauchte der Junge sich nicht mehr als drei Tage und Nächte gedulden, bis der Weihnachtsmann in die Stadt kommen würde, um seine Gaben zu verteilen. Insgeheim hoffte Karlchen nämlich, dass der Weihnachtsmann seinen Wunsch einer roten Spielzeugfeuerwehr erfüllen würde. Sogar ein Gedicht hatte Karlchen auswendig gelernt. Und das, obwohl er noch nicht einmal in der Schule war.
Träumend schlenderte der Junge nun also an der Hand seiner Mutter von Stand zu Stand über den herrlichen Weihnachtsmarkt. Der eisige Wind färbte Karlchens Ohren und Wangen ganz rot, sodass sie einen an reife Apfelbäckchen erinnerten. Doch nach einer Weile blieb der Junge plötzlich stehen und zeigte mit dem Finger auf ein großes Kettenkarussell.
„Oh, sieh nur“, rief Karlchen aufgeregt zu seiner Mutter, wobei sein Atem jetzt sichtbar in die Kälte strömte. Als Mutter aufschaute, drehte sich das Kettenkarussell gerade so schnell, dass die darin sitzenden Kinder im wahrsten Sinne durch den Winterhimmel flogen. „Oh ja, ein wirklich feines Karussell“, bemerkte Karlchens Mutter lächelnd. „Wenn du magst, darfst du auch damit fahren.“ Karlchen nickte begeistert. Doch dann zog es den neugierigen Jungen an einen der nächstgelegenen Weihnachtsstände.
Schnell erweckte ein alter Mann mit einem langen grauen Bart sein Interesse. Der Alte schnitzte gar flink und geschickt an einem groben Holzstück. Staunend, mit geöffnetem Mund, beobachtete Karlchen den Mann bei seiner Arbeit. Mit geübten kleinen und großen Schnitten formte der Alte die Gestalt eines Engels. Der Mann hatte bereits ein ganzes Dutzend der himmlischen Gestalten geschnitzt, welche er jetzt auf einem Tischlein zum Verkauf anpries.
Während die Leute und Karlchens Mutter die Kunstwerke des Holzschnitzers bewunderten, schweiften die Blicke des Jungen für einen Moment zu einem mit Holzspänen gefüllten Abfallkorb, der in unmittelbarer Nähe des alten Holzschnitzers stand.
Zu seiner Überraschung erblickte Karlchen darin ebenfalls einen geschnitzten Engel. Gerade wollte er genauer hinsehen, da hockte seine Mutter sich neben ihn und flüsterte ihm ins Ohr. „Sieh nur, wie hübsch die Engel des Holzschnitzers aussehen“, schwärmte sie. „Was hältst du davon, wenn wir einen davon kaufen? Doch welchen nehmen wir nur?“, fragte Mutter, wobei sie unschlüssig auf ihre blau gefrorenen Lippen biss. Sie hoffte, das Karlchen ihr die Entscheidung ein wenig erleichtern und sich für einen der Engel entscheiden würde.
Doch der Junge hatte nicht einmal gehört, was ihn seine Mutter gerade gefragt hat. Vielmehr wollte er wissen, was mit dem Engel aus dem Abfallkorb geschehen sollte. Da nahm Karlchen seinen ganzen Mut zusammen und fragte den alten Holzschnitzer mit dem Weihnachtsmannbart: „Warum liegt der Engel dort hinten bei den Holzspänen, anstatt dass er bei den anderen auf dem Tischlein steht?“
Verwundert über die Frage des Jungen blickte der Alte nun prüfend über den Rand seiner Brille, bevor er mit tiefer Stimme antwortete. „Ach Junge, dieser Engel dort hinten ist mir dummerweise heruntergefallen, als ich ihn zu den anderen stellen wollte. Dabei ist ihm ein Flügel abgebrochen. Und jetzt ist er wertlos“, erklärte der Alte gefasst.
„Wertlos? Aber wie kann denn ein Engel wertlos sein?“, empörte sich Karlchen. „Engel können gar nicht wertlos sein!“
Der Holzschnitzer lächelte müde und schüttelte seinen Kopf. „Dieser leider schon mein Junge! Denn wer von den Leuten will schon einen Engel mit nur einem Flügel kaufen? Warum suchst du dir also nicht einfach auch einen schönen und unversehrten Engel aus?“, ermunterte ihn der Alte.
„Der Mann hat recht“, lenkte Karlchens Mutter jetzt ein. „Wir suchen uns einen von den schönen und unversehrten Engeln aus!“
Da begann Karlchen vor Zorn das kleine Herz zu klopfen. Der Junge fand es ungerecht, dass der Engel, nur weil ihm ein Flügel abgebrochen war, nichts wert sein sollte. Schließlich war er genauso hübsch und eben im Holz, wie die anderen Engel auch.
„Ich möchte aber keinen schönen und unversehrten Engel! Ich möchte den Engel aus dem Abfallkorb“, stammelte Karlchen zornig, sodass der Schnee unter seinen Füßen knirschte.
„Karlchen!“, ermahnte ihn seine Mutter empörend. „Du hast doch gehört, was der Holzschnitzer soeben zu dir gesagt hat.“ Doch der Engel aus dem Abfallkorb tat Karlchen so leid, dass sich ihm vor lauter Kummer der Magen zusammenzog. Sollte der arme Engel etwa zusammen mit den Spänen im Feuer landen, während die anderen Engel stolz die warmen Stuben der Leute schmückten? Schließlich hatte der Engel schon genug erlitten.
Und so stammelte Karlchen erneut mit den Füßen im Schnee, wobei diesmal sein ganzes Gesicht rot anlief: „Ich will aber den Engel aus dem Abfallkorb!“
Karlchens Mutter und der Holzschnitzer sahen sich einander verblüfft an. Soviel Hartnäckigkeit hätten sie einem kleinen Jungen wie Karlchen bei Weitem nicht zugetraut.
„Nun gut“, sagte Mutter schließlich, „wenn dir soviel an dem einflügligen Engel liegt, so werden wir ihn kaufen.“
Da machte der alte Mann große Augen und auch die Leute ringsherum verstummten erstaunt.
„Du bist mir vielleicht ein seltsamer Bursche“, lachte der Alte. „Aber ich glaube, der Engel wird bei dir am besten aufgehoben sein, darum werde ich ihn dir auch schenken.“ Zu Karlchens Erstaunen erhob sich der alte Mann kurz darauf von seinem Hocker, hob den einflügligen Engel aus den Holzspänen und drückte ihm den Jungen fest in die Hände.
„Danke“, sagte Karlchen und strahlte über das ganze Gesicht.
„Nichts zu danken“, schmunzelte der alte Holzschnitzer und tätschelte freudig die Wangen des Jungen. „Fröhliche Weihnachten, und pass mir gut auf den Engel auf.“
„Das werde ich gewiss tun“, rief Karlchen und machte sich jetzt überglücklich mit seiner Mutter und dem Engel auf den Heimweg.
Drei Tage stand der Engel mit dem abgebrochenen Flügel nun schon in Karlchens Fenster. Der Heilige Abend war herangerückt, und tatsächlich brachte der Weihnachtsmann die gewünschte Spielzeugfeuerwehr zu Karlchen ins Haus.
„Ich weiß, dass du ein guter Junge mit einem großen Herzen bist. Darum hab ich dir auch deinen Wunsch erfüllt“, sprach der Weihnachtsmann und zwinkerte Karlchen lächelnd zu.
Mit großen Augen sah Karlchen jetzt zu ihm auf. Und er hätte schwören können, irgendwie sah der Weihnachtsmann ein wenig wie der alte Holzschnitzer vom Weihnachtsmarkt aus.
Sina Kongehl ist 33 Jahre alt und lebt in Bismark. Seit 2006 hat sie Kurzgeschichten, Krimis, aber auch Cartoons und Märchen in Literaturzeitschriften und Anthologien veröffentlicht. Schreiben, Malerei und die Fotografie sind ihre Hobbys.