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Wider die „tyranny of contingency“? Philip Roths Nemesis

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„Polio is polio – nobody knows how it spreads“: Rund um eine weitere „mysterious disease“ dokumentiert Philip Roths letzter Roman Nemesis (2010: 31, 103) ein Stück Wissenschaftsgeschichte. Die älteren Figuren erinnern sich angesichts der Polioepidemie im Newark des Jahres 1944 an „its frightening precursors“, an eine Ära, da „whooping cough victims“ eigene stigmatisierende „armbands“ zu tragen hatten, da in Ermangelung eines Vakzins Diphtherie „the most dreaded disease in the city“ war (89); Anlass zur Sorge gibt auch Malaria, ebenfalls noch „an unstoppable disease“ (4). Mit Malariaimpfungen wird ab 1948 experimentiert; dank der Entwicklung zweier Poliomyelitisvakzine 1955 und 1960 kann die Krankheit global zurückgedrängt werden.

Zu spät für Roths Helden Bucky Cantor, der als Jugendsporttrainer zum noch asymptomatischen „healthy infected carrier“ (236) wird und sich im Nachhinein als neue „Typhoid Mary“ anklagt (248); dies mit Bezug auf die unter diesem Spitznamen in die Medizingeschichte eingegangene Mary Mallon, die als selbst nie erkrankte Typhusträgerin – und von Beruf ausgerechnet Köchin – in New York 1900–1915 Dutzende von Menschen infiziert. Als einer der Schützlinge Cantors war auch Erzähler Arnie Mesnikoff „unfortunate enough to get polio eleven years too soon for the vaccine“ (249). Mit seinem sportlichen Engagement partizipiert der Protagonist, der unter seiner Wehrdienstuntauglichkeit und erzwungenen Nichtteilnahme am Zweiten Weltkrieg leidet, an einer Mission der Kontersozialisation jüdischer Kinder – d. h. v. a. jüdischer Jungen, Nemesis bleibt ein männlich fokussierter Roman – zu auch körperlicher Courage und Kraft. Die vom „Board of Health“ zunächst geleugnete „epidemic of poliomyelitis“ (1f.) provoziert freilich eine massive antisemitische Reaktion (192f.); der Stadtteil verwandelt sich in ein neues Ghetto, während die Community in Gestalt der „colored cleaning women“ ihre eigenen Sündenböcke identifiziert (82).

Wie bei Camus erscheint die Epidemie als Zuspitzung der conditio humana in ihrer Absurdität: „There is none“, antwortet Bucky dem Vater des ersten toten Jungen, als jener verzweifelt nach der „fairness in that“ fragt (47). Schon beim Begräbnis richtet sich sein Zorn „against God, who made the virus“ (127), und dessen mit „the very existence of polio“ inkompatible Glorifikation (75). Nach seiner Erkrankung und rekonstruierten Rolle als fataler ‚Pfeil‘ aus dem Köcher der Rachegöttin Nemesis rebelliert er gegen jene „tyranny of contingency“ (243); als Zweifaltigkeit eines „a sick fuck and an evil genius“ in sich vereinenden Gottes resümiert der Erzähler Buckys Lösung des Theodizeeproblems (265). „There is an epidemic and he needs a reason for it. He has to ask why. Why? Why?“ – so die Schlüsselfrage selbstdestruktiver Sinnstiftung, die der Atheist Arnie als „stupid hubris […] the hubris of fantastical, childish religious interpretation“ verwirft (265), bevor er die eigene Argumentation aus den Angeln hebt: „Maybe Bucky wasn’t mistaken. […] Maybe he was the invisible arrow“ (274f.).

Corona im Kontext: Zur Literaturgeschichte der Pandemie

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