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„From outer space!“ Corona-Literatur als Inter- und Konterdiskurs

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Als kritischer Inter- und Konterdiskurs reflektiert auch die Corona-Literatur wissenschaftlichen Fortschritt wie archaische Resurgenz. Rasch etabliert sie ihr Heldenpersonal: Li Wenliang wird zur „Ikone“ (Yang 2020); mit Camus’ Rieux verglichen, inspiriert der „Doc who was whistlblower Dr Li“ – so die SMS eines adoleszenten Fans in Ali Smiths Summer (2020: 40) – manch literarische Hommage. Angesichts eines auch wissenschaftlich noch offenen Horizonts gewinnt entsprechende Expertise umso größeres Gewicht: „Being a doctor helped me write about virology with authenticity“, betont Kumar Shyam zu seinem Pandemic Plot (zit. Sharma 2020). In seiner Doppelidentität als Schriftsteller und Wissenschaftler analysiert Giordano die „Mathematik der Ansteckung“ (2020: 15); als „biologist and science fiction writer“ inszeniert Yoss eine Miniaturparodie: Auf der Straße von Passanten konsultiert – könnte „the new coronavirus“ nicht doch „from space“ gekommen sein? –, lässt er sich auf das Spiel ein: „[…] maybe that’s why completely new flu strains appear every few years. From outer space!“ (Stars 420).

Im Corona-Kontext erleben kaum minder wüste Konspirationstheorien eine Konjunktur; über die kosmische Herkunft von SARS-CoV-2 spekuliert Igor’ Prokopenko, der von seinem Flat-Earth-Steckenpferd auf das Corona-„Killervirus“ (Koronavirus. Virus-ubijca) umsattelt. Alte Sündenböcke werden reanimiert: Während die lokale Bevölkerung bei Manzoni in Pestzeiten alle, „deren Kleidung, Haarschnitt und Reisesäcke sie als Fremde und, was noch schlimmer war, als Franzosen bezeichneten“, voll Misstrauen betrachtet, ist nun das ‚Chinese Virus‘ an der Reihe. Auch wenn – im Gegensatz zur irreführend als ‚Spanische‘ titulierten Grippe – der offizielle Corona-Diskurs Virusvarianten ethnisch neutral rechiffriert, werden „dormant and longstanding prejudices“ aktiviert (Salcedo 2020: 139). „Wer hatte nun die Schuld an der ganzen Sache? Die Chinesen? Die Amerikaner? Die Fledermäuse? […] Eins stand fest. Wir waren es nicht. Schuld sind noch immer die anderen gewesen“, wie Wladimir Kaminer (2021: 23) die auch im Zeitalter der „Coronauten“ gültige Maxime formuliert.

In Nigeria gilt die Corona-Krise als „christliche Verschwörung“, im Iran als „zionistisches Komplott“ (Butter 2020: 226); von den mit schweren antisemitischen Ausschreitungen einhergehenden Pestepidemien des Mittelalters führt eine direkte Linie zur aktuellen Pandemie. Nicht nur im Internet, sondern auch auf Anti-Maßnahmen-Demonstrationen remanifestiert sich, so Peter Longerich, „eine Art globaler Antisemitismus“ (Pumberger 2021), den schon die frühe Corona-Literatur kritisch kommentiert: „Wie einen die Allgegenwärtigkeit des Antisemitismus ständig und zugleich unvorbereitet trifft!“ (Schneider 2020: 132). In Osteuropa dienen z. T. die Roma als „Sündenböcke der Pandemie“ – und ziehen sich ihrerseits in eine religiöse Phantasiewelt zurück: „Wir glauben hier nicht an Corona […] Wir glauben an Jesus“, erklärt ein Bewohner von Fakulteta, dem größten Roma-Viertel Sofias (zit. Wölfl 2021), unter naiver Perpetuation einer jahrtausendealten Parallelgeschichte von Epi-/Pandemie und Religion.

Corona im Kontext: Zur Literaturgeschichte der Pandemie

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